Archiv für den Monat: August 2011

Von schaurigen Häusern, tödlichen Intrigen und leuchtender Traurigkeit

Drei höchst unterschiedliche Romane, doch alle drei klug, faszinierend und spannend

Schon als Kind war Dr. Faraday fasziniert vom Herrenhaus Hundreds Hall, dem jahrhundertealten Stammsitz der Familie Ayres. Jahre später wird er durch einen Zufall Hausarzt der Familie. Das Anwesen hat längst seinen Glanz eingebüßt, die finanziellen Mittel fehlen, um es instand zu halten, es verfällt langsam, aber stetig. Der Landarzt verkehrt bald auf freundschaftlichem Fuß mit der Familie und muss feststellen, dass die Bewohner offenbar glau- ben, dass das Haus mit etwas infiziert sei, mit etwas Bösem, das sie in den Wahnsinn treiben will. Faraday lehnt diese Vorstellung ab – doch erklären kann er die vielen seltsamen Vorfälle mit reiner Logik nicht. Hat Caroline, die Tochter des Hauses tatsächlich recht, dass hier etwas Übernatürliches im Gang ist? Dass im Haus die Abspaltung einer hassenden Seele umgeht?

Sarah Waters knüpft mit ihrem atmosphärisch dichten Roman an die Tradition des Schauerromans an. Es gibt keine groben Schockeffekte, keine aufgebauschte Action. Stattdessen kreiert Waters mit leisen Tönen eine Atmosphäre der Unsicherheit und Ungewissheit – elegant geschrieben, mit sorgsam gezeichneten Charakteren, klug konstruiert und sehr spannend.

Unbestechlich, klar und intelligent

Vollkommen diesseitig und mit Schauereffekten ganz anderer Art versehen ist »Roter Glamour« von Dominique Manotti: In der Türkei explodiert ein Flugzeug voller Waffen, und in Paris wird eine Frauenleiche auf einem abgelegenen Parkplatz gefunden. Zwischen beiden Ereignissen besteht eine Verbindung, die bis in die höchsten politischen Kreise Frankreichs reicht.

Schon der erste Roman, der von Dominique Manotti auf Deutsch erschien, »Letzte Schicht«, begeisterte Leser wie Kritiker gleichermaßen. Mit »Roter Glamour« liegt nun ein weiterer äußerst beeindruckender Politthriller der Französin vor. Der hochbrisante Fall um Korruption und illegale Waffengeschäfte im ganz großen Stil spielt Anfang der achtziger Jahre unter der Regierung Mitterand. Manotti schreibt glasklar, ohne ein überflüssiges Wort und unbestechlich intelligent. Erschienen ist der Roman in Frankreich erstmals 2001 – doch an Aktualität und Relevanz hat er nichts eingebüßt.

Mit schwermütiger Leichtigkeit

Ganz heutig ist der neueste Roman von Friedrich Ani: Vor sechs Jahren quittierte Anis Ermittler Tabor Süden nach dreizehn Fällen und Büchern den Polizeidienst und ließ München hinter sich. Nun kommt er zurück, weil ihn ein Lebenszeichen seines verschollenen Vater erreicht hat. Süden nimmt einen Job als Privatdetektiv an und macht im Prinzip damit weiter, womit er vor sechs Jahren aufgehört hat: mit dem Aufspüren von Vermissten. Neben seinem Vater sucht Süden nun einen Kneipenwirt, einen freundlichen, zurückhaltenden Menschen, der vor zwei Jahren erst verstummte und dann verschwand.

Südens Suche führt nicht nur in Vorstädte und auf die Insel Sylt, sie führt vor allem in die Leben von einsamen, müden, ausgelaugten Menschen, denen alles oft viel zu viel ist, in Randbezirke der Gesellschaft und immer wieder in die Melancholie. Anrührend, ohne rührend oder moralisierend zu sein, leuchtet Ani seine Figuren aus und erzählt in hoher literarischer Qualität mit melancholischem Humor viele kleine Geschichte, die doch untrennbar zusammengehören und bei aller Traurigkeit von leuchtender Schönheit und schwermütiger Leichtigkeit sind.

Kirsten Reimers

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Sarah Waters: Der Besucher
(The Little Stranger, 2009)
Aus dem Englischen von Ute Leibmann
Lübbe 2011
geb., 571 Seiten, 19,99 Euro
ISBN 978-3-431-03830-9
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Dominique Manotti: Roter Glamour
(Nos fantastiques années frie, 2001)
Aus dem Französischen von Andrea Stephani
Ariadne Krimi/Argument Verlag 2011
Tb., 246 Seiten, 12,90 Euro
ISBN 978-3-86754-192-3
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Friedrich Ani: Süden
Droemer Verlag 2011
geb., 364 Seiten, 19,99 Euro
ISBN 978-3-426-19907-7
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Diese Besprechung ist ermals erschienen in der
Frankfurter Neuen Presse.


Fishbashing

Ich gebe zu: eines der wenigen Bücher, die ich nicht zu Ende gelesen habe. Eigentlich habe ich es kaum angefangen: Auf den ersten nicht mal zwanzig Seiten mischten sich viel zu viele schmierig-verklemmte Schenkelklopfer mit miefiger Mittelmäßigkeit. Eine akribische Nacherzählung der verworren-albernen Handlung des Vorgängerbuches riss es dann auch nicht wieder heraus. Mit etwas über Vierzig fühle ich mich definitiv zu jung für dieses Buch. Eventuell tue ich ihm ja unrecht – aber – obwohl – hm – vermutlich nicht.

Kirsten Reimers

 

 

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Tim Binding: Fischnapping
(Rump Stake, 2011)
Deutsch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Hamburg: Mare 2011
geb., 334 Seiten, 19,90 Euro
ISBN 978-3-866-48132-9

Diese Besprechung ist erstmals
erschienen im Crimemag.


Die mörderische Welt der Literatur

Aufruhr in der Literaturszene: Die 17-jährige Lola Schrader debütiert mit einem Roman, der die Gemüter äußerst erregt. Ausdrucksstark und abgebrüht schreibt sie von hemmungs- und hoffnungslosen Sex-, Gewalt- und Drogenexzessen. Das Feuilleton überschlägt sich geradezu vor Begeisterung. Doch als man die Jungautorin gerade für einen angesehenen Buchpreis nominiert, wird offenkundig: Sie hat seitenweise abgeschrieben von einem anderen Autor.

Das kommt Ihnen bekannt vor? Das soll es auch: Christine Lehmann greift in ihrem neuesten Krimi Ereignisse und Skandale der vergangenen Monate auf und verwebt sie zu einem spannenden und sehr ironischen Krimi: Den Wirbel um die junge Autorin verknüpft Lehmann geschickt mit dem Mord an Benno Ohnesorg 1967 in Berlin und dem Aufruhr der 68er – aber ebenso streift sie Stuttgart 21, Datenlecks bei Facebook und führt wie nebenbei verschiedene Whodunit-, Thriller- und Regionalkrimigepflogenheiten genüsslich ad absurdum. Und das alles eingebettet in die Welt der Buchhändler, Verleger, Autoren, Kritiker und Leser – bis hin zum dramatischen Showdown auf der Frankfurter Buchmesse.

Ein temporeicher, amüsant-spöttischer und anspielungsreicher Streifzug durch die deutsche Bücherwelt mit Lisa Nerz, der aufregendsten und unkonventionellsten Figur des deutschen Kriminalromans.

Kirsten Reimers

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Christine Lehmann: Malefizkrott
Argument/Ariadne 2010
Tb., 319 Seiten, 11,00 Euro
ISBN 978-3-86754-185-5

Diese Besprechung ist ermals erschienen in der
Frankfurter Neuen Presse.


Der Serienmord als langweilige Kunst betrachtet

Ein ungeklärter Todesfall vor sechs Jahren, ein recht frischer vor wenigen Wochen – bei beiden ist unklar, ob es sich um Selbstmord, unglücklichen Unfall oder Mord handelte. Der versierten Leserschaft ist sofort klar: Mord, in beiden Fällen, und beide hängen zusammen. Ebenfalls für die Leser eindeutig: Hier ist ein Serienmörder am Werk, mit zwei Toten ist es nicht getan. Dass man der ermittelnden DCI Hannah Scarlett so weit voraus ist, ist okay, so funktioniert das Genre. Es ist halt vorhersehbar. Manchmal mehr, manchmal weniger. Bei diesem Buch eher mehr. Das Geschehen dümpelt lange vor sich hin im neblig-verregneten Lake District, bis dann plötzlich die Ahnungen sich über DCI Scarlett ausschütten wie Hagelschauer, und sie erkennt nun mit einem Mal Motive, Tathergänge, Verbindungen. Gerade noch rechtzeitig, um einen ihr nahestehenden Menschen zu retten und das Buch bei einem verträglichen Umfang zu belassen.

Dabei ist er gar nicht ganz schlecht, dieser Krimi von Martin Edwards – schon der vierte in dessen Lake-District-Krimireihe. Aber halt auch nicht gut. Durchschnitt mit Ambitionen: Die Nennung von Buchtiteln täuscht literarische Bezüge an, und – klar: Lake District – das Glaubensbekenntnis aller Serienmördererfinder soll das Ganze auf eine ästhetische Ebene hieven: Thomas De Quinceys Essay »Der Mord als schöne Kunst betrachtet« gibt als leise dudelnde Hintergrundmusik den Grundton an und die Richtung vor, hat aber leider keinen Einfluss auf das Niveau. Macht aber auch nichts: Das Buch ist so schnell gelesen wie vergessen.

Kirsten Reimers

Martin Edwards: Zu Staub und Asche
(The Serpent Pool, 2010)
Aus dem Englischen von Ulrike Werner
Köln: Bastei Lübbe 2011
Tb., 381 Seiten, 7,99 Euro
ISBN 978-3-404-16556-8
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Diese Besprechung ist erstmals
erschienen im Crimemag.


Abgelegen, vergessen, tödlich

Eine gnadenlose Welt

Ree ist 16, schmal, groß und sehr zäh – das muss sie auch sein, denn sie sorgt allein für ihre beiden jüngeren Brüder und ihre psychisch kranke Mutter. Ihr Vater Jessup, einer der besten Meth-Köche in den Ozarks, ist vor mehreren Monaten untergetaucht, ohne ihr Geld dazulassen oder Feuerholz für den Winter vorzubereiten. Normalerweise kommt er nach einer Weile wieder, doch diesmal ist es dringlicher als sonst: Jessup hat die heruntergekommene Farm für seine Kaution verpfändet. Wenn er nicht in einer Woche vor Gericht erscheint, verliert die Familie alles. Ree macht sich auf die Suche nach ihm.

Es ist eine harte Welt, in der Ree lebt, besonders im Winter: rau und schroff die Landschaft, ebenso unzugänglich die Menschen, die hier wohnen. Sie alle gehören zu einem der weitläufigen Clans, die vor langer Zeit das Hochland in der Mitte der USA besiedelten. Eine Frau gilt hier wenig, die verschworene Gemeinschaft wird dominiert von Männern, die Angst verbreiten. Armut, Schweigen und Lügen, Gewalt und Drogen bestimmen das Leben.

Woodrell schreibt kraftvoll und karg. Es ist ein beeindruckendes Buch, von großer Wucht, aber auch von schroffer Schönheit und schnörkelloser Poesie. 2010 wurde sein Roman von Debra Granik verfilmt. Ausgezeichnet beim Sundance Film Festival als bester Film, nominiert für vier Oscars, kommt Winter’s Bone jetzt auch bei uns ins Kino – doch so gut der Film auch sein mag: Das Buch zu lesen lohnt sich auf jeden Fall.

Unausweichliche Katastrophe

Lesenswert ist ebenfalls der neue Roman von Rose Tremain. Auch er spielt in einer abgelegenen Gegend – doch sie ist nicht vergessen, sondern im Gegenteil sehr begehrt: die Cevennen. Hier sucht der Antiquitätenhändler Anthony Verey nach einem passenden Anwesen als Alterssitz. Früher war Anthony Verey der Star der Londoner Kunsthändlerszene, der Händler für Kostbarkeiten. Bewundert, beneidet, umgarnt. Doch heute ist sein Licht längst erloschen, die Geschäfte gehen schlecht, niemand interessiert sich mehr für sein fachkundiges Urteil. Um noch einmal in seinem Leben neidische Blicke auf sich zu ziehen, beschließt Verey, ein Haus in den Cevennen zu kaufen. Er entscheidet sich ausgerechnet für das Anwesen, auf dem die Geschwister Aramon und Audrey Lunel wohnen. Damit gerät das zerbrechliche Gleichgewicht aus Hass, Verachtung, Abhängigkeit und verzweifelter Liebe, das Schwester und Bruder seit mehr als sechzig Jahren aneinander kettet, fatal ins Wanken.

Rose Tremains Thriller biedert sich nicht an, er ist nicht auf Spannung geschrieben – und doch ist er faszinierend und fesselnd. Dies liegt in erster Linie an den vielschichtigen Figuren. Aus wechselnden Perspektiven schildern sie sich gegenseitig und entlarven dabei vor allem sich selbst. Keine von ihnen ist wirklich sympathisch, keine aber auch richtig böse. Und doch kann ihr Aufeinandertreffen nur in die Katastrophe führen, denn die Verletzungen, die in ihnen allen seit der Kindheit schwären, sind tief und schmerzhaft.

Schaurige Provinz

Abgeschieden liegt auch das Haus, in das die Familie Fletcher zieht: am Rand eines Moores, direkt neben einem alten Friedhof in einem kleinen englischen Dorf. Die anfängliche Begeisterung über die gruselige Nachbarschaft lässt beim zehnjährigen Tom Fletcher schnell nach: Körperlose Stimmen verfolgen ihn, und eine unheimliche Gestalt scheint die Familie ständig zu beobachten. Doch niemand glaubt ihm. Die alten, absonderlichen Rituale des Dorfes beunruhigen den Jungen zusätzlich. Und dann bricht auch noch ein Grab ein, in dem die Leichen von zwei ermordeten Kindern gefunden werden und Toms kleiner Schwester Millie gerät in Gefahr.

Sharon Bolton versteht ihr Handwerk. Sie setzt nicht auf grobe Effekte, sondern subtile Verunsicherung, gewürzt mit geschickt eingeflochtenen Wendungen und Überraschungen. Lange Zeit bleibt unklar, ob das Geschehen nicht womöglich übernatürliche Ursachen hat. Das macht ihren Thriller spannend und gruselig. Die Figuren sind lebendig und überzeugend, die Story ist in sich stimmig und gut verwoben. So folgt man der Autorin gern in die schaurigen und doch sehr diesseitigen Abgründe eines kleinen abgelegenen Dorfes in der englischen Provinz.

Kirsten Reimers

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Daniel Woodrell: Winters Knochen
Aus dem Englischen von Peter Torberg
München: Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2011
geb., 223 Seiten, 18,90 Euro
ISBN: 978-3-935890-76-2

Rose Tremain: Der unausweichliche Tag
Aus dem Englischen von Christel Dormagen
Berlin: Suhrkamp 2011
Tb., 334 Seiten, 13,95 Euro
ISBN: 978-3-518-46220-1

Sharon Bolton: Bluternte
Aus dem Englischen von Marie-Luise Bezzenberger
München: Manhattan 2011
englische Broschur, 510 Seiten, 16,99 Euro
ISBN 978-3-442-54676-3
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Diese Besprechung ist erstmals erschienen in der
Frankfurter Neuen Presse.