Archiv für den Monat: November 2016

Schuld und Scham

Hat er seinen Gönner Johnson in Sansibar tatsächlich umgebracht, wie man ihm vorwirft? McGlue, schwerer Alkoholiker und Selbstzerstörer, kann sich an nichts erinnern, zu porös das Hirn vom Suff, zu groß das Loch im Kopf nach einem Sturz. Auf der Überfahrt 1851 nach Salem, Massachusetts, seinem Heimatort, wo ihm der Prozess gemacht werden soll, und später im Gefängnis verschwimmen Erinnerungen und Visionen.

Was Delirium oder Alptraum, Vergangenheit oder Gegenwart ist, ist nicht zu trennen in diesem Monolog, dieser düsteren, rauschhaften Achterbahnfahrt durch Selbstzerstörung und Selbsthass, durch Scham, Liebe und uneingestandene Leidenschaft, durch Alkohol und Blut.

Der titelgebende McGlue, von Johnson »Nick Bottom« genannt (nach einer Figur in Shakespeares »Sommernachtstraum«, »Zettel« in der deutschen Übersetzung), hat etwas Archaisches in seiner Selbstzerstörung – andererseits ist er hochmodern in seiner Verzweiflung an sich selbst, in seinem Unvermögen, so zu sein, wie er es von sich erwartet. Das Debüt der Amerikanerin Ottessa Moshfegh ist kein Kriminalroman, sondern eine dunkle, verstörende Irrfahrt durch Schuld und Sehnsucht. Groß und äußerst lesenswert!

Das Implantat im Nacken

Wie Ottessa Moshfegh wählt Nathan Larson in seiner Dewey-Decimal-Reihe die Ich-Perspektive – und wie McGlue ist Dewey Decimal ein unzuverlässiger Erzähler. Dewey, der seinen Namen nach einem Bibliothekssystem gewählt hat, scheint ein ehemaliger Elitesoldat zu sein, allerdings ist seine Erinnerung weitgehend zerrüttet, manchmal tauchen Vergangenheitsfetzen auf, die aber genauso gut manipuliert und implantiert sein können. Sicher ist: Dewey ist trotz seiner extrem desolaten körperlichen und psychischen Verfassung enorm wehrhaft.

Mit »Zero One Dewey« liegt nun der abschließende Band der Trilogie vor, der einige der offenen Fragen zu Deweys Vergangenheit beantwortet. Nach den verheerenden Anschlägen vom 14. Februar, dem Valentinstag, vor zwei Jahren, ist New York immer noch weitgehend zerstört. Die Stadt ist in Einflusszonen von Gangs und Interessenverbänden aufgeteilt, die jeweilige Vorherrschaft wird mit Waffengewalt durchgesetzt. Die Luft ist von giftigen Dämpfen und Unmengen Staub verseucht. Dewey Decimal arbeitet als Mann fürs Grobe für einen ehemaligen, skrupellosen Senator. Als dieser ihm einen verantwortungsvollen Auftrag anvertraut, ist er von Anfang an misstrauisch. Aber dennoch kommt es deutlich schlimmer als Dewey vermutet hatte.

Larson erzählt rau und unkonventionell, lässig und zerklüftet, und das passt perfekt zu dieser dunklen Dystopie, die natürlich nicht mit einem Happy End enden kann – aber mit einem lauten Knall.

Schmerzhaft gut

Auch Friedrich Ani wählt in seinem neuen Roman »Nackter Mann, der brennt« die Innenperspektive. Ludwig Dragomir, diesen Namen hat sich seine Hauptfigur gegeben, kehrt nach Jahrzehnten in sein Heimatdorf Heiligsheim zurück. In seinem 14. Lebensjahr ist er geflohen vor dem sexuellen Missbrauch, den er und seine Freunde durch Honoratioren und Mitläufer erlebt haben. Nun ist er wieder da, weil er vor Wut und Selbsthass brennt.

Friedrich Ani ist einer der besten und auch einer der mutigsten deutschsprachigen Krimiautoren. Er hat keine Scheu, seinen Figuren nahzukommen, und er hat ebenso wenig Scheu, die Leser dahin mitzunehmen, wo es wehtut, weil es wahr ist. Ludwig Dragomir ist nicht einfach ein armes Opfer. Der Missbrauch hat tiefe Spuren bei ihm hinterlassen – einerseits fühlt er sich schuldig, dass er sich damals nicht richtig gewehrt und die Freunde nicht ausreichend beschützt hat, andererseits ist er überzeugt, dass er den Missbrauch verdient hat, weil er ein schlechter Mensch ist. Eine Gedankenfalle, aus der es kein Entkommen gibt. Er wird selbst zum Täter, er manipuliert und missbraucht, er zerstört sich und andere, er tötet.

»Nackter Mann, der brennt« kennt keine einfachen Antworten, keine schlichten Gut-Böse-Muster. Ani zeigt die Folgen, die der Missbrauch für Täter, Opfer und Angehörige hat, zeigt die Spirale von Gewalt und Zerstörung, die daraus erwächst und aus der es keinen simplen Ausweg gibt, denn Schuld und Scham lassen sich nicht durch Rache oder Selbstzerstörung zum Schweigen bringen. Kein einfaches Buch, aber ein sehr gutes, ein schmerzhaftes und ein wichtiges Buch. Kein Wort zu viel, kein Wort am falschen Platz.

Kirsten Reimers

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Ottessa Moshfegh: McGlue
(McGlue, 2014)
Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger
Liebeskind 2016
geb., 143 Seiten, 16 Euro
ISBN 978-3-95438-067-1
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Nathan Larson: Zero One Dewey
(The Immune System 2015)
Aus dem Englischen von Andrea Stumpf
Polar Verlag 2016
kart., 303 Seiten, 14,90 Euro
ISBN 978-3-945133-33-0
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Friedrich Ani: Nackter Mann, der brennt
Suhrkamp 2016
geb., 223 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-518-42542-8
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Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in der
Frankfurter Neuen Presse