Archiv für den Monat: Juli 2009

Dunkle Risse in pittoresker Oberfläche

Das kriminellste Dorf Italiens

In das Dörfchen Montesecco im Hinterland der Adria verirrt sich niemand aus Zufall. Der Exodus der Arbeitssuchenden hat es ausgedünnt, nur noch eine Handvoll Menschen wohnt hier kontinuierlich. Im Sommer kommen manchmal diejenigen zurück, die nun woanders erfolgreich sind, um hier in der Heimat ihren Urlaub zu verbringen wie zum Beispiel der »Americano«, der es in den USA auf mehrere Pizzerien gebracht hat. In Montesecco hingegen gibt es nichts, einmal abgesehen von der schäbigen kleinen Bar, die vor dem Kirchenportal an der Piazzetta liegt, dem zentralen Sammelpunkt des Örtchens.

Schon seit Jahrzehnten zeigt die Uhr auf dem Palazzo Civico zwanzig nach acht. Die Zeit scheint das Dorf vergessen zu haben. Eine Zukunft ist nicht zu erwarten, lediglich langsamer Zerfall. Weder Staats- noch Gottesmacht sind hier vertreten. Einen Bürgermeister gibt es nicht, der Pfarrer des nächstgrößeren Ortes kommt nur gelegentlich vorbei, und für eine Polizeistation ist das Dörfchen eh zu klein und unbedeutend. So sind die Bewohner auf sich selbst zurückverwiesen. Schon seit Jahren. Was auch immer ansteht: Sie regeln es auf ihre Weise. Das zeigt eindrucksvoll das erste Buch.

Die Vipern von Montesecco

Ein glühend heißer Sommer hält das Dorf fest in seinem Griff. Staubig und trocken ist es; und die Vipern so giftig und beißwütig wie nie zuvor. Unter jedem Stein scheint eine zu lauern, als würde die Erde selbst Gift speien. Die Stimmung in Montesecco ist angespannt und aufgeladen, kehrt doch nach fünfzehn Jahren Matteo Vannoni aus dem Gefängnis zurück ins Dorf. Er hat damals seine Frau erschossen, als er sie mit Giorgio Lucarelli im Bett erwischte. Lucarelli wohnt immer noch hier. Und das Dorf wartet atemlos auf die erste Begegnung der beiden. Als Lucarelli wenig später an einem Vipernbiss stirbt, ist das für die Polizei ein bedauerlicher Unfall. Doch den Dorfbewohnern ist klar: Das war Mord, es war einer von ihnen, und es war nicht unbedingt Vannoni. Nun ist nicht nur der Boden, sondern auch die Luft vergiftet. Um wieder atmen zu können, macht sich das ganze Dorf daran, die Sache aufzuklären. Schließlich ist man gewohnt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen – bis hin zum säkularisierten Gottesurteil am Ende.

Die Drachen von Montesecco

Acht Jahre sind seit dem Vipernsommer vergangen. Nun herrscht Herbst, der Maestrale weht und bringt trockene, kalte Luft aus dem Nordwesten heran. Und er nimmt den letzten Lebenshauch des alten Benito Screggia mit sich. Zuvor hatte der über Achtzigjährige drei Tage lang in Saus und Braus gelebt: Mit drei Edelnutten aus Rom, einem Pianisten, einem Berg an Delikatessen und einem Wasserbett hatte er sich im verlassenen Pfarrhaus eingemietet. Screggia hinterlässt ein unerwartetes Vermögen: 5,5 Millionen Euro. Mit der Aussicht auf so viel Geld erwacht die Gier in Montesecco. Jeder möchte in irgendeiner Form davon profitieren. Aber nicht nur der Geschäftssinn der Bewohner wird angestachelt, auch die kriminelle Energie bekommt einen mächtigen Schub. Als der jüngste Bewohner des Dörfchens gekidnappt wird und der oder die Entführer 2 Millionen Euro Lösegeld fordern, ist allen klar: Der Erpresser ist ihnen sehr, sehr nah.

Die Augen der Medusa

Im dritten Buch sind es Staat und Medien, die mit Macht über Montesecco hereinbrechen. Vor den Toren des Dorfes wird der berühmte Staatsanwalt Malavoglia Opfer eines Anschlags. Der Attentäter verschanzt sich mit vier Geiseln in einem Haus in Montesecco. Ein enormes Aufgebot an Polizei samt Sondereinsatztruppen quartiert sich im verlassenen Pfarrhaus und in der Kirche ein, mindestens ebenso groß ist das Heer der herbeiströmenden Presseleute. Ganz Italien schaut auf das Dörfchen. Und den Bewohnern wird klar: Als Attentäter verdächtigt die Polizei einen von ihnen: den siebzehnjährigen Minh. Dass der Junge, der vor neun Jahren das Opfer der Entführung geworden war, ein kaltblütiger Terrorist sein soll, kann sich keiner der Dörfler vorstellen. Im Gegenteil: Die Einwohner können schlüssig darlegen, warum Minh es auf keinen Fall schuldig sein kann. Doch niemand glaubt ihnen. Erneut müssen sie ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen. Angesichts des übermächtigen Gegners ein aussichtsloses Unterfangen – bis sie die Regeln hinter den Regeln entdecken und für sich nutzen.

Dunkle Seiten, sanft verwoben

So harmlos schnurrig und schrullig, wie man zunächst annehmen möchte, ist die Trilogie von Bernhard Jaumann nicht. Unter der pittoresken, mitunter burlesken Oberfläche liegen tiefe Risse, die Individuum, Staat und Medien gleichermaßen durchziehen – kein Wunder, agieren doch auch in Politik und Presse nur Menschen mit menschlichen Schwächen. Ergibt sich die Gelegenheit, sich auf die Schnelle zu bereichern, greift unterschiedslos jeder zu in der Hoffnung, damit durchzukommen. In dem leidenschaftlichen, alles beherrschenden Wunsch, etwas bestimmtes zu besitzen – Liebe, Geld, Macht -, in der Gier liegt die Motivation der Verbrechen in Jaumanns Montesecco.

Doch es gibt auch andere Seiten in denselben Menschen: Solidarität, Freundschaft und Liebe. Das Dörfchen mag statistisch gesehen die höchste Verbrechensrate Italiens haben, die Bewohner sich untereinander beharken und manchmal ans Leben und Vermögen wollen, in einem sind sich alle einig: in ihrer Gegenwehr gegen Autoritäten, besonders staatliche. Das hat Tradition und reicht über die Lotta continua bis zur Resistenza während der deutschen Besatzung im zweiten Weltkrieg zurück. Doch die Mittel von damals können heute nicht mehr greifen.

Freundlich unterlaufene Klischees

Protagonist der Bücher ist die Bewohnerschaft als Ganze. Als Gemeinschaft agieren die Menschen  mit- und auch gegeneinander, besonders hervorgehoben wird keiner. Zwar wirft Jaumann in der Figurenzeichnung durchaus Klischees auf, doch nach und nach, Seite um Seite füllt er sie mit Leben, lässt Widersprüche zu, legt Abgründe frei. Ähnlich verhält es sich mit dem Italienbild, das der Autor entwirft: Rotwein und Grappa, Mafia und Korruption werden ebenso wie die Roten Brigaden, der Wasserkopf der Bürokratie, Börsenmakler auf der Suche nach Bauernweisheiten und die Sensationsbesessenheit der Medien satirisch ausgeleuchtet und sanft abgepolstert. Das vermag Jaumann in einer eleganten, leichten, unaufdringlichen Sprache, die zugleich intensive, sinnliche Bilder evoziert – die Gluthitze im ersten Band ist ebenso spürbar wie die irrationale Angst, die alles durchdringt; die Kälte des eisigen Winters ist in den »Augen der Medusa« wie die anfängliche Schreckensstarre der Dorfbewohner fast greifbar.

Geschehen und Figuren angemessen, ist das Tempo zurückgenommen. Das gibt dem Ganzen mitsamt der Verbundenheit der Personen trotz aller dunkler Seiten etwas Herziges und Gemächliches. Das ist nicht jedermanns Sache, passt aber gut zum Konzept der Trilogie.

Kirsten Reimers

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Bernhard Jaumann: Die Vipern von Montesecco
Aufbau Taschenbuch Verlag 2007
Tb, 275 Seiten, 8,99 Euro
ISBN: 978-3-7466-2301-6
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Bernhard Jaumann: Die Drachen von Montesecco
Aufbau Verlag 2007
geb., 278 Seiten, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-351-03208-1
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Bernhard Jaumann: Die Augen der Medusa
Aufbau Verlag 2008
geb., 296 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-351-03243-2
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Verborgene Leidenschaften

Der Sumpf unter der wohlsituierten Oberfläche

Ausgerechnet von einem Einbrecher, dem Junkie Geordie, wird der Geschichtsprofessor Roger Harvey tot in seiner Wohnung aufgefunden. Warum jemand den Mittdreißiger hätte brutal erschlagen sollen, ist nicht ersichtlich. Harvey lebte ein ruhiges, unauffälliges Leben: Nach einer verlorenen Liebe gab es nur ein paar oberflächliche Beziehungen. In erster Linie engagierte sich der Historiker für seine Arbeit – und die gibt auch keinen Grund zu einem Mord aus leidenschaftlicher Wut her. Auffällig ist nur, dass sein Nachbar David Mitchell in der gleichen Nacht verschwand, in der auch Harvey getötet wurde. Als bekannt wird, dass Mitchell seinen derzeitigen Auftraggeber hintergangen hat, um große Geldsummen in die eigene Tasche zu scheffeln, erwächst daraus ein Mordverdacht. Gleichzeitig erfahren die ermittelnden Beamten Detective Chief Inspector Jacobson und Detective Sergeant Kerr, dass eine von Harveys Exfreundinnen unter Druck zu Gewaltexzessen neigt und den Historiker bereits vor geraumer Zeit mit einem Messer bedroht hat.

Verhaltenes Tempo, unverstellter Blick

Viele Fragezeichen für Jacobson und Kerr, die in »Gefährliches Wiedersehen« (im Original: »A Study in Death«) zum vierten Mal im fiktiven Städtchen Crowby in den englischen Midlands auf Verbrecherjagd gehen. Das tun sie in verhaltenem Tempo und mit vorsichtigem Blick. Es zeigt sich: Hinter der glatten Oberfläche hat jeder etwas zu verbergen: Opfer, Nachbarn, Zeugen. Auch die Ermittler selbst machen da keine Ausnahme: Der DCI trinkt zu viel, und Sergeant Kerrs Ehe liegt in Trümmern, woran er selbst nicht unschuldig ist.

Iain McDowalls Stärke ist sein klarer Blick für Menschen und Verhältnisse. Auch wenn diesmal der Fall etwas blass geraten und das Geschehen etwas vorhersehbar ist, so bleibt doch die Qualität des soliden Krimis überzeugend. Schnörkellos, mit scharfer Beobachtungsgabe zeichnet McDowall seine Figuren wie ihre Handlungen, immer glaubhaft, immer lebendig, immer intensiv. Das Verbrechen erwächst aus Gelegenheiten und Verletzungen, aus Konstellationen, die wenige Auswege lassen, weil Menschen immer weiter hineingetrieben werden oder sich selbst hineintreiben.

Kirsten Reimers

Iain McDowall: Gefährliches Wiedersehen
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Deutscher Taschenbuch Verlag 2009
Tb, 255 Seiten, 8,95 Euro
ISBN: 978-3-423-21124-6


Der ganz normale Wahnsinn

Zwischen groteskem Irrwitz und scharfsichtiger Wirklichkeitszeichnung

Aberdeen: Hafenanlagen und Ölindustrie; eine Stadt aus Granit, der golden aufglänzt, wenn die Sonne darauf trifft. Aber meistens regnet es. Zumindest in den Büchern von Stuart MacBride. Grau in Grau verschwimmen die Konturen, wo der Himmel anfängt, das Meer endet – wer hat schon die Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Bestimmt nicht Detective Sergeant Logan McRae, den MacBride als seine zentrale Figur durch die kalte, düstere, windige Stadt in Schottland scheucht.

Im dritten Band um den DS – »Der erste Tropfen Blut«, im Original »Broken Skin« – wird McRae angesetzt auf den Tod eines jungen Mannes, der schwer verwundet vor der Notaufnahme des Krankenhauses aus einem Auto gestoßen wurde. Falls das eine Rettungsaktion war, kam sie zu spät: Kurz darauf erliegt der Mann seinen Verletzungen, die vermutlich von einem überdimensionierten Dildo herrühren. Aus dem Ruder gelaufener Sex mit Todesfolge? Die Spuren führen in die SM-Szene (Erkennungszeichen der Mitglieder in Aberdeen: ein Krimi von Ian Rankin) und in die Pornofilmindustrie (aber: nur Filme mit Anspruch) – doch immer wieder versanden sie auch einfach nur im Leeren.

Police Constable Jackie Watson, mit der McRae inzwischen zusammenlebt, jagt derweil einen brutalen Vergewaltiger, der seine Opfer schwer misshandelt und mit einem Messer verstümmelt. Verdächtigt wird der neue Star des Fußballclubs FC Aberdeen, doch dessen Anwalt gelingt es wiederholt, den Kicker herauszuboxen. Eindeutige Beweise fehlen. Außerdem ist da noch ein achtjähriger Junge, der nicht mehr zu bändigen ist: Mit einer Gruppe von Gleichaltrigen zieht er durch die Stadt, begeht Straftaten und überfällt in einem Einkaufszentrum eine schwangere Frau. Einen Rentner, der sich dazwischen wirft, tötet der Junge. Auf seiner Flucht verletzt er außerdem eine Polizistin lebensgefährlich. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was in diesem nassen und kalten Frühjahr in Aberdeen geschieht.

Alltag im maroden Hamsterrad

Die Perspektive von Stuart MacBrides Krimiserie liegt nicht wie so oft auf den oberen Rängen der Polizei, auf den Superintendents oder den Detective Chief Inspectors, sondern auf denen, die ihnen zuarbeiten: Im Mittelpunkt stehen die Sergeants und Constables, die zwischen den Vorgesetzten aufgerieben werden, ausgenutzt und ohne Entscheidungsspielraum zu den ungeliebten Schmutz- und Laufarbeiten verdammt. Überarbeitet, unterbesetzt und mit völlig veraltetem Equipment können die Polizisten dem Verbrechen nur hilflos und ohnmächtig hinterher hecheln. Zu systematischer Ermittlungsarbeit bleibt kaum Zeit: zu groß ist der Druck von oben und von außen, zu zahlreich die Fälle, zu dünn die Personaldecke, zu erbittert die Konkurrenz untereinander. Und zu ausgeprägt die Inkompetenz. Da bleibt es nicht aus, dass Fehler passieren, manchmal auch tödliche.

Helden sucht man hier in allen Diensträngen vergeblich. Stattdessen trifft man auf schräge und bizarre Typen, die versuchen, irgendwie mit dem täglichen Wahnsinn und der allgegenwärtigen Frustration zurechtzukommen. McRaes direkte Vorgesetzte DI Roberta Steel und DI David Insch steuern auf je individuelle Weise dem gesundheitlichen Kollaps entgegen: Steel, dauerfluchend und mit einer Frisur, als sei ein Pelztier auf ihrem Kopf explodiert, indem sie Kette raucht; Insch, fett und cholerisch, indem er ununterbrochen Süßigkeiten in sich hineinstopft. Die Kollegen schließen Wetten darauf ab, ob er bis zum Ende der Woche jemanden zusammenschlagen oder einen Herzinfarkt erleiden wird. McRaes Freundin Watson kompensiert ihre Hilflosigkeit mit Alkohol und Schlägereien und schreckt schließlich auch nicht vor Selbstjustiz zurück.

Innerhalb dieser am Rande des Wahnsinns dahinstolpernden Gestalten gehört DS McRae zu den überlegteren und besonneneren. Einer muss es ja sein. Es gelingt ihm sogar, die Lösung der Fälle voranzutreiben, obwohl er von seinen Vorgesetzten ausgebeutet und herumgestoßen wird. Freie Tage kennt er kaum noch. Und hat McRae dann doch endlich einmal Feierabend, muss er DI Inschs grottenschlechte Laienschauspieltruppe bewundern oder mit DI Steel einen trinken gehen. Überhaupt wird derart viel getrunken und im Hamsterrad auf der Stelle gehetzt, dass man nach Zuschlagen des Buches das Gefühl hat, in den nächsten Tagen mehr schlafen und mit dem Alkohol etwas kürzer treten zu müssen.

Denn die Bücher von MacBride entwickeln einen eigenartigen Sog: Sie nehmen völlig gefangen und halten den Leser dennoch auf Distanz. Sie sind lebendig und fesselnd, und gleichzeitig werden Figuren und Situationen derart überzeichnet und ins Groteske verlängert, dass jede unkritische Nähe implodiert. Erschrecken, Grauen und großes Amüsement fallen punktgenau zusammen. Vor Ekel weiß man nicht, wohin mit dem Lachen, und vor Lachen nicht, wie mit dem Entsetzen umgehen. Wahnwitz beschreibt nur annähernd, was da passiert. Das Tempo ist hoch, obwohl nur wenig passiert, da die Ermittlungen auf der Stelle treten, aber Ereignis jagt Ereignis, und hinterdrein die Polizisten, die zwischen Übermüdung und Verkaterung dem Geschehen nachtaumeln.

Scharfzüngiger Kommentar der Gegenwart

Die Bücher von Stuart MacBride sind durchdrungen von einem tiefschwarzen und (keineswegs bitteren, sondern) lustvollen Humor mit Begeisterung fürs schreiend komische absurde Detail. In dieser Überzogenheit steckt mehr Wahrheitsgehalt und Intelligenz, mehr treffende Beschreibung des Lebens in neoliberalen Zeiten, als jede (vermeintlich) objektive Berichterstattung je liefern könnte. MacBrides Krimis sind genaue Darstellung und scharfzüngiger Kommentar unserer Gegenwart, denen nichts heilig ist, die alles und doch nichts ernst nehmen, am wenigsten sich selbst.

Das zeigt auch der aktuell auf Deutsch erschienene vierte Kriminalroman der Serie: »Blut und Knochen«, im Original »Flesh House«. Ein Serienkiller erschüttert Aberdeen in seinen Grundfesten: »Der Fleischer«, wie er genannt wird, war schon vor mehreren Jahren aktiv und schlägt nun wieder zu. Er schlachtet seine Opfer fachmännisch, verarbeitet die Überreste kunstgerecht zu handelsüblichen Produkten und Portionen und schleust sie in die Nahrungsmittelkette ein: über den Schlachthof und den Großmarkt in die Metzgertheke. Entdeckt wird dies durch Zufall – ein Brustwarzenpiercing gehört nicht zur Grundausstattung von Schweinen, und auch mit Tattoos verwöhnen die Bauern selten ihre Tiere. (Jetzt nicht über das letzte Wurstbrot nachdenken.)

Ein Serienmörder wie aus dem Lehrbuch, »Das Schweigen der Lämmer« winkt im Hintergrund, ebenso Walter Satterthwaits »Perfection« (deutsch: »Scherenschnitte«). Mit deren Killern teilt der Fleischer die Vorliebe für mollige Opfer, wenn auch aus anderen Gründen. MacBrides Schlachter ist kein Feingeist oder Ästhet. Er ist Handwerker. Allerdings mit Sinn für Ironie: Zur blutigen Metzgerschürze trägt er eine Maggie-Thatcher-Maske.

MacBride forscht nicht umständlich in den Psychen seiner Figuren nach ihren Motivationen. Und doch ist verstehbar, warum wer auf welche Weise handelt, kaum anders kann. Ohne den Wahnwitz und die groteske Verzerrung wäre dies oft nicht auszuhalten. Das merkt man an den wenigen Szenen, in denen die Überzeichnung minimal zurückgenommen wird: In ihnen bricht eine ohnmächtige Verzweiflung hervor, die einem beim Lesen den Atem nimmt. Doch zum Glück ist in der nächsten Wendung der Irrsinn als Puffer und intellektueller Filter wieder da.

Daran zeigt sich, wie bewusst mehrbödig MacBride vorgeht. Bis zur Perfektion sind seine Romane ebenso Polizei- wie Serienmörderkrimis. Sie erfüllen jede Voraussetzung, spielen zusätzlich mit Horror- und Splatter-Elementen. Zur gleichen Zeit aber unterläuft der Autor dies ebenso perfekt mit absurdem Witz, sodass die Romane eine Parodie auf die unterschiedlichen Spielarten des Krimis und auf sich selbst sind. Hervorragend überdreht, den Aberwitz des Alltäglichen wie Unglaublichen einfangend und in Worte bannend, die wiederum Kaskaden von Bildern auslösen.

Kirsten Reimers

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Stuart MacBride: Der erste Tropfen Blut
Aus dem Englischen von Andreas Jäger
Goldmann Verlag 2008
Tb, 507 Seiten, 8,95 Euro
ISBN: 978-3-442-46574-3
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Stuart MacBride: Blut und Knochen
Aus dem Englischen von Andreas Jäger
Goldmann Verlag 2009
Tb, 541 Seiten, 8,95 Euro
ISBN: 978-3-442-47029-7
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

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Mumie allein genügt nicht

Ein zusätzlicher Schrumpfkopf und eine Moorleiche reißen es aber auch nicht heraus

Die Pathologin Maura Isles wird eingeladen, der computertomographischen Untersuchung einer ägyptischen Mumie beizuwohnen. »Madame X«, wie die konservierte Leiche genannt wird, soll der neue Publikumsmagnet des kleinen Bostoner Crispin Museums werden. Durch Zufall ist sie in den Lagerräumen des privaten Ausstellungshauses gefunden worden. Nun soll sie für bessere Einkünfte durch mehr Medienaufmerksamkeit sorgen. Und genau das tut sie, wenn auch anders als geplant: Die Mumie ist nämlich bei weitem nicht so alt, wie sie sein soll. Sie hat moderne Zahnfüllungen, und in ihrem Bein steckt ein Projektil. Wie sich herausstellt, ist dies die Leiche einer jungen Frau, die seit rund 26 Jahren vermisst wird.

Bei der nachfolgenden polizeilichen Untersuchung wird im Museum ein Schrumpfkopf entdeckt, der ebenfalls deutlich jünger ist, und wenig später taucht eine Moorleiche auf, eine Frau, die auch in den letzten zwanzig Jahren verschwand. Es ist offenkundig: Hier ist ein Serienmörder aktiv, der seine Opfer erst eine ganze Weile gefangen hält und sie dann konserviert, wenn sie gestorben sind. Und aus dunklem Grund will er nun Aufmerksamkeit.

Retortenware

Geheimkammern in dunklen Kellern, gruselig konservierte Leichen, ein seltsames Museum, ein reicher Mäzen mit unklaren Motiven, eine obskure Obsession. Bewährte Zutaten. Von Frau Gerritsen lustlos in einen Topf gekippt und einmal umgerührt. Das schaurige Setting soll wohl für sich sprechen. Denn die großen Logiklücken und die demonstrative Spannungsarmut tragen nichts zum Gelingen des Buches bei. Ein Serienkiller aus der Retorte, dessen vermeintliche Identität durch ein paar banale Fragen seitens Detective Jane Rizzolis erkannt wird, eine vorhersehbare Überraschung bei der Entlarvung der tatsächlichen Identität, ein müder Showdown – und das war’s dann.

Insgesamt ist das siebte Buch von Gerritsen um Detective Rizzoli und die Pathologin Isles enttäuschend und belanglos.

Kirsten Reimers

Tess Gerritsen: Grabkammer
Aus dem Englischen von Andreas Jäger
Limes Verlag 2009
geb., 448 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-8090-2540-5
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