Archiv für den Monat: Juni 2016

Ein neues Leben

Schon zum sechsten Mal schickt Simone Buchholz ihre Staatsanwältin mit dem ungewöhnlichen Namen Chastity Riley ins Rennen. Präzise im Hamburger Kiezmilieu verortet, ist Buchholz’ Roman alles andere als ein Regiokrimi: keine betulichen Morde vor kuschlig-skurriler Kulisse, sondern die Verschränkung von Wirtschaft, Politik und Verbrechen: Drogenhandel auf internationalem Niveau, Korruption und Mafiaverstrickungen in der Hansestadt.

Dreh- und Angelpunkt ist eine neue Droge, die es wirklich gibt und die seit gar nicht allzu langer Zeit von Osten her den Markt aufrollt – billig und hochaggressiv: Krok, auch Krokodil genannt, weil sich die Haut um die Einstichstelle grünlich verfärbt und verschuppt und an Krokodilhaut erinnert. Die Konsumenten werden regelrecht von innen heraus zersetzt.

Kontrapunkt sind die sympathisch gezeichneten Figuren des Krimis: mit Ecken, Kanten, Seelenschmerzen und Sehnsüchten. Lakonisch-schnoddrig im Ton, mit einer Milieuseligkeit, die manchmal ins Pathetische zu rutschen droht, aber doch nie kippt, leichtfüßig-witzig bei aller Melancholie. »Blaue Nacht« ist zwar der sechste Band der Reihe, eignet sich aber sehr gut zum Einstieg, da er eine Art Neuanfang darstellt.

Fatale Pläne

Sechs Menschen, sechs Pläne, die einander überkreuzen, sich gegenseitig befördern oder ausschließen: Der Ire Declan Burke hat mit »The Big O« einen Kriminalroman in bester Screwballmanier geschrieben. Ein neues Leben soll es sein, ein Neuanfang irgendwo, wo es schön ist: in der Legalität, im Wald oder am Strand.

Ermöglichen soll dies das Lösegeld aus einer bestellten Entführung: Der ebenso undurch- sichtige wie umsichtige Ray soll Madge, die Noch-Ehefrau des abgerockten Schönheitschirurgen Frank, in dessen Auftrag kidnappen. Rays neue Flamme Karen, die mit Tankstellenüberfällen ihr Gehalt aufbessert, ist unerwarteterweise nicht nur Sprechstundehilfe bei Frank, sondern auch Madges beste Freundin. Zu dritt wollen sie mithilfe von Doyle, einer ehrgeizigen Polizistin, Frank übers Ohr hauen und das Geld unter sich aufteilen. Aber dann ist da noch Rossi, Karens ehemaliger Lover, der noch ein oder zwei Rechnungen mit ihr offen hat. Und – nicht zu vergessen: Anna, die riesige, hochaggressive Wölfin, die nur auf Karen hört und Rossi aus guten Grund aus tiefstem Herzen hasst.

Eine wilde Melange von pointierter Leichtigkeit – kein Wort zu viel und gerade genug überdreht, um Groteskes, Spannung und Witz gekonnt zu verbinden, ohne je in albernen Slapstick zu verfallen, dabei klug, feinsinnig und gespickt mit zahlreichen Anspielungen und Zitaten. Bis in die Nebenfiguren wunderbar besetzt – unter anderem mit einem narkoleptischen Junkie als Fluchtwagenfahrer. Das kann nur auf ein tosendes Finale hinauslaufen direkt vor dem großen O: der schwarzen Mündung einer Handfeuerwaffe.

Das Böse

Ebenfalls ganz hervorragend, aber völlig anders ist der Kriminalroman »Mississippi Jam« von James Lee Burke – die einzige Übereinstimmung liegt im Nachnamen und endet auch dort. Der US-Amerikaner James Lee Burke entwirft ein ausgefeiltes Breitwandszenario, darin ist er ein Meister: Vor der Küste Louisianas ist im Zweiten Weltkrieg ein U-Boot der Nazis gesunken. Jahrzehnte später soll Dave Robicheaux, Detective in New Iberia bei New Orleans, Bootsverleiher und Vietnamveteran, es im Auftrag eines Geschäftsmannes lokalisieren. Aber Robicheaux ist nicht der Einzige, der sich für das U-Boot interessiert: wie aus dem Nichts taucht ein brutaler Neo-Nazi auf, der den Polizisten und seine Familie perfide terrorisiert.

Komplex, wuchtig und schonungslos (aber nicht geschmacklos) reißt Burke einen Kosmos aus Revierkämpfen um Drogenabsatzmärkte, Korruption, Rassismus und Antisemitismus auf. Boshaftigkeit ist grenzenlos und in jedem angelegt – und der Übergang zur dunklen Seite ist fließend und schnell durchmessen, aus Wut, aus Verletztheit, aus Rache. Damit einher geht der Wunsch nach Gewalt und Zerstörung, auch nach Selbstzerstörung. Dunkel und monströs.

Kirsten Reimers

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Simone Buchholz: Blaue Nacht
Suhrkamp 2016
brosch., 235 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-518-46662-9
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Declan Burke: The Big O
(The Big O, 2007)
Aus dem Englischen von Robert Brack
Edition Nautilus 2016
brosch., 316 Seiten, 18 Euro
ISBN 978-3-96054-002-1
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

James Lee Burke: Mississippi Jam
(Dixie City Jam, 1994)
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
Pendragon 2016
brosch., 588 Seiten, 17,99 Euro
ISBN 978-3-86532-527-3

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in der
Frankfurter Neuen Presse