Archiv für den Monat: April 2017

Vexierbild eines Mörders

In einem Dörfchen an der Nordwestküste Schottlands wird im Jahr 1869 ein Dreifachmord begangen. Täter ist der 17-jährige Roderick Macrae, der Sohn eines kleinen und gequälten Pächters. Roderick ist geständig, die Tat an sich ist eindeutig – es geht in Graeme Macrae Burnets Buch »Sein blutiges Projekt« nicht um das Wer oder Wie, sondern um das Warum, um die Hinter- gründe der Tat.

Dies wird in Form einer Studie beziehungs- weise eines Projekts aufgezogen. Graeme Macrae Burnet firmiert darum auch nicht als Autor des Buches, sondern als sein Herausgeber. Wie er im Vorwort erklärt, sei er bei einer Recherche nach eigenen Vorfahren zufällig auf diesen Fall gestoßen – nicht ohne Grund ist der Nachname des Täters mit dem Mittelnamen des Autors beziehungsweise Herausgebers identisch.

Das Buch besteht deshalb auch nicht aus einer chronologisch erzählten Geschichte, sondern aus einer Zusammenstellung von Dokumenten, gespickt mit erklärenden Fußnoten und Verweisen auf Primär- und Sekundärliteratur. Enthalten sind Aussagen der Nachbarn zu Roddy Macraes Charakter, ein umfangreiches Manuskript, das von Roddy selbst stammen soll – einschließlich der Zweifel, ob ein einfacher Bauernjunge tatsächlich einen so eloquenten Text verfassen kann –, Gutachten zu Roddys Geisteszustand wie auch eine Rekonstruktion des Gerichtsprozesses anhand von Zeitungsartikeln. Das mag etwas trocken klingen, ist aber ebenso hervorragend wie spannend geschrieben und konstruiert.

Graeme Macrae Burnet spielt mit der Frage, ob es sich tatsächlich um einen historischen Fall handelt, er spielt mit Authentizität und Gewissheit und hält es offen, ob Roddy zurechnungsfähig ist oder nicht, ob er an »moralischem Schwachsinn« leidet, wie es im Buch heißt, ob er also Recht und Unrecht nicht voneinander unterscheiden kann – oder ob er nicht doch berechnend und manipulativ agiert.

Klar ist jedoch: Jeder Zeuge, jeder Gutachter schildert den Charakter des Täters und die Motive des Verbrechens aus eigener Perspektive, mit je spezifischen Wahrnehmungsfiltern – und auch mit je eigenen Absichten. Das spiegelt sich ebenfalls im Manuskript wider, das Roddy verfasst haben soll: Manche Situation wird geschönt, manche Dinge werden ausgelassen.

Aus der Zusammensetzung der unterschiedlichen Aussagen entsteht so ein Mosaik der Tat und des Charakters des Täters – aber keines, das ein klares Bild ergeben würde. Je nach Perspektive kippt das Bild wie ein Vexierbild. Das ist sehr intelligent gemacht, sehr spannend und sehr literarisch – das Buch stand 2016 aus gutem Grund auf der Shortlist des renommierten Man-Booker-Preises.

Bleibt die Frage, ob es sich bei Burnets »Blutigem Projekt« tatsächlich um den Kriminalroman handelt, als der er vom Verlagsmarketing gehandelt wird. Legt man für Kriminalliteratur sehr enge Kriterien an oder erwartet bestimmte Muster, wird man vermutlich verwirrt zurückbleiben. Und doch zeigt Burnets »Projekt«, was im Genre Krimi stecken kann. So stehen ein Verbrechen und seine Aufklärung im Mittelpunkt, so geht es um die Suche nach der Wahrheit – und gleichzeitig wird die Frage aufgeworfen, ob es eine einzige Wahrheit überhaupt geben kann. »Sein blutiges Projekt« ist ein Spiel mit der Frage, wie Wirklichkeit konstruiert wird, und wie das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, im Diskurs entsteht.

Das verweist auf etwas Weiteres, mit dem Burnet spielt und auf das er sich bezieht: auf den »Fall Rivière«: Anfang des 19. Jahrhunderts tötete ein junger französischer Bauer drei Mitglieder seiner Familie und verfasste ein Memoire, in dem er seine Tat begründete. Das Verbrechen erlangte damals viel Aufsehen. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts nahm sich Michel Foucault des Verbrechens an und gab unter dem Titel »Der Fall Rivière« ein kommentiertes Dossier der Dokumente heraus, das den Fall unter dem Aspekt des Verhältnisses von Psychiatrie und Strafjustiz betrachtete. Burnets »Projekt« ist ein Kommentar und eine Aktualisierung des Foucaultschen Projekts.

Graeme Macrae Burnets »Blutiges Projekt« zeigt, wie vielfältig, wie unkonventionell und doppelbödig Kriminalliteratur sein kann, wenn man das Genre als Literatur und als Genre ernst nimmt. Schade ist einzig, dass der Autor in der Danksagung offenlegt, dass es sich beim Fall Roderick Macrae tatsächlich um eine Fiktion handelt, und damit eine der Ungewissheiten aufklärt.

Kirsten Reimers

Zum Bestellen bei eBook.de einfach auf den Titel klicken:

Graeme Macrae Burnet: Sein blutiges Projekt. Der Fall Roderick Macrae
(His Bloody Project. Documents relating to the case of Roderick Macrae)
Aus dem Englischen von Claudia Feldmann
Europa Verlag 2017
Broschur, 343 Seiten, 17,90 Euro
ISBN 978-3-95890-055-4
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen auf
FaustKultur


Blutige Projekte und dunkle Intrigen

Im Jahr 1869 wird in einem Dörfchen an der schottischen Nordwestküste ein brutaler Dreifachmord begangen. Der Täter ist der 17-jährige Roderick Macrae, der Sohn eines kleinen, gequälten Pächters. Roderick ist geständig, Tat und Täter sind eindeutig – es bleibt die Frage nach dem Motiv: War es zum Schutz der Familie oder aus nie- deren Motiven?

Der Schotte Graeme Macrae Brunet legt mit »Sein blutiges Projekt« ein faszinierendes literarisches Puzzle vor, das nicht nur gut geschrieben, sondern auch spannend und geschickt konstruiert ist. Burnet spielt mit der Frage, was authentisch und was inszeniert, was Fiktion und was faktisch ist. Deshalb erzählt er nicht schlicht chronologisch eine Geschichte, sondern legt (fiktive) Dokumente vor, und überlässt es dem Leser und der Leserin, sich ein eigenes Bild zu machen.

Dieses facettenreiche Spiel um Konstruktion und Wirklichkeit schaffte es zu Recht auf die Shortlist des renommierten Man-Booker-Preises 2016. Ein ungewöhnlicher und intelligenter Roman, der die Möglichkeiten von Kriminalliteratur gekonnt auslotet.

Wuchtvolles Rachedrama

Mit »Nichts bleibt« legt der Romancier und Lyriker Willi Achten seinen ersten Kriminalroman vor: Der Kriegsfotograf Franz Mathys hat sich mit Vater und Sohn auf einen abgeschiedenen Hof zurückgezogen. Verfolgt von Erinnerungen an Kriegserlebnisse und gequält von

Schuldgefühlen kommt er jedoch auch hier nicht zur Ruhe. Als der Vater von zwei Männern lebensbedrohend zusammengeschlagen wird, gerät Mathys vollends aus dem Gleichgewicht. Gemeinsam mit einem Freund begibt er sich auf die Suche nach den Tätern. Lebte er zuvor schon am Rande der Gesellschaft, lässt er im Laufe dieser Suche die Zivilisation in mehrfacher Hinsicht hinter sich.

»Nichts bleibt« erzählt mit großer Wucht von Verlust und Rache in fast schon archaischen Dimensionen. Willi Achten gelingt dies, ohne auf viel Blut oder Action zurückgreifen zu müssen. Sprachlich sehr präzise und mit intensiven Bildern versehen, ist auch dieser Roman kein Krimi nach vorhersehbarem Muster, sondern das Psychogramm eines Mannes, der zu lange in den Abgrund der Gewalt gesehen hat, um sich davon befreien zu können.

Zwischen Angst und Aufbruch

»Miss Terry« heißt eigentlich Nita Tehri und ist ein unbescholtene Grundschullehrerin Anfang zwanzig. Als in einem Müllcontainer in der Nähe ihrer Wohnung die Leiche eines dunkelhäutigen Babys gefunden wird, scheint es für die Polizei und einen Großteil der Nachbarn klar zu sein: Nita muss die Mutter sein, schließlich ist sie die einzige mit dunkler Hautfarbe in der Straße, und hat sie nicht in den letzten Monaten deutlich abgenommen? Das wohlgeordnete Leben der jungen Frau gerät vollkommen aus den Fugen.

Liza Cody erzählt in ihrem Roman »Miss Terry« von bewusstem und unbewusstem Rassismus, von Hass, Sexismus und Diffamierung, aber auch von Freundschaft und Mut. Leise, unaufdringlich und mit herrlich untergründigem Humor schildert sie gleichzeitig einen Aufbruch und eine Befreiung aus der Angst, denn wie Nita Tehri feststellen muss: »Wenn man nicht wegrennt, jagen sie einen auch nicht.« Kein einfacher Weg, aber ein notwendiger, der ein Umdenken erfordert. Ein kleiner, wirklich großer Kriminalroman jenseits ausgetretener Pfade.

Kirsten Reimers

Zum Bestellen bei eBook.de einfach auf den Titel klicken:

Graeme Macrae Burnet: Sein blutiges Projekt
Aus dem Englischen von Claudia Feldmann
Europa Verlag 2017
Broschur, 343 Seiten, 17,90 Euro
ISBN 978-3-95890-055-4
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Willi Achten: Nichts bleibt
Pendragon 2017
kart., 374 Seiten, 17 Euro
ISBN 978-3-86532-568-6
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Liza Cody: Miss Terry
(Miss Terry, 2012)
Aus dem Englischen von Grundmann & Laudan
Ariadne/Argument 2016
geb., 286 Seiten, 17 Euro
ISBN 978-3-86754-219-7
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in der
Frankfurter Neuen Presse