Archiv für den Monat: Juni 2009

Zerbrechende Seelen

Ängste: vernichtender als offene Gewalt

An seinem ersten Arbeitstag an der Universität von Bath springt der Psychologe Joe O’Loughlin für einen Kollegen ein: Auf Bitten der Polizei versucht er, eine Selbstmörderin davon abzuhalten, in den Tod zu springen. Die Frau steht auf der Brüstung einer viel befahrenen Brücke, nur bekleidet mit roten Pumps, auf ihrem Bauch steht mit Lippenstift das Wort »Hure« geschrieben. Fortwährend telefoniert sie mit ihrem Handy. Als O’Loughlin sich ihr nähert, wendet sie sich ihm kurz zu, sagt: »Sie verstehen nicht« und springt. Ganz offenkundig Selbstmord. Doch als kurze Zeit später die Geschäftspartnerin und Freundin der Toten im Wald gefunden wird – erfroren, an einen Baum gekettet, zu ihren Füßen wiederum ein Handy -, zeichnet sich ab, dass mehr hinter diesen Todesfällen steckt.

Gewagt und gelungen

Michael Robotham kommt ohne viel Blutvergießen oder Gemetzel aus. Sein Täter berührt die Opfer nicht, allein durch Worte vernichtet er sie, nimmt ihnen alle Würde und treibt sie in den Tod.

Es gibt einen Moment, in dem alle Hoffnung vergeht, aller Stolz schwindet, alle Erwartungen, aller Glaube, alles Sehnen. Dieser Moment gehört mir. Dann höre ich den Klang einer zerbrechenden Seele.
Es ist kein lautes Knacken wie von splitternde Knochen, wenn ein Rückgrat bricht oder ein Schädel birst. Auch nicht weich und feucht wie ein gebrochenes Herz. Es ist der Klang, bei dem man sich fragt, wie viel Schmerz ein Mensch ertragen kann; ein Laut der das Gedächtnis zerschmettert und die Vergangenheit in die Gegenwart sickern lässt; ein Ton, so hoch, dass nur die Hunde der Hölle ihn hören können.

Von mehreren Passagen aus Sicht des Täters abgesehen, wird das Geschehen vom klinischen Psychologen Joe O’Loughlin in der ersten Person singular und im Präsenz geschildert. So gewagt dies ist, so gelungen ist es auch. Denn Michael Robotham stimmt Sprache, Stil und Tempo des Romans perfekt auf seine Hauptfigur ab. Obwohl viel passiert, bleibt der Duktus vorsichtig, zurückhaltend, misstrauisch und sehr reflektiert. Oft durchsetzt mit einem feinen, tiefschwarzen, bitteren Humor. Und obwohl man als Leser O’Loughlin so nah kommt, entsteht doch nie das Gefühl von Nähe. Bei aller Offenheit bleibt die Hauptfigur distanziert und eigenständig.

Tiefenspannung

»Dein Wille geschehe« ist bereits der vierte Thriller Robothams um die Figur des Joe O’Loughlin. Anders als verschiedene Profiler, die heute die Krimiwelt bevölkern, muss der klinische Psychologe seine Fähigkeit, andere Menschen zu verstehen, weder glorifizieren noch mystisch überhöhen. Er ist kompetent und erfahren, bleibt insgesamt aber eher unauffällig, und das mit Absicht: Denn O’Loughlin leidet an Parkinson. Seine linke Hand, sein linker Arm beginnen mitunter unkontrolliert zu zittern, die Mimik wird starr. Hält er eine Vorlesung, hofft er, dass sein linkes Bein nicht plötzlich blockiert und er vom Podium stürzt. Aufmerksamkeit möchte er vermeiden. Kein Held, sondern ein Mensch mit sehr nachvollziehbaren Ängsten, Unsicherheiten und Problemen.

Robothams Thriller lebt von der Glaubwürdigkeit seiner Figuren. Mit viel Gespür für innere Zusammenhänge und Widersprüche sind sie facettenreich und lebendig gezeichnet. Darum kann der Australier auf plumpe Spannungsmache verzichten. Er packt den Leser auf den ersten Seiten sehr perfide an tiefen Ängsten und lässt ihn bis zum Ende nicht wieder los.

Kirsten Reimers

Michael Robotham: Dein Wille geschehe
Aus dem Englischen von Kristian Lutze
Goldmann Verlag 2009
geb., 576 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-442-31178-1
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Schiffbruch mit Nolde

Ein Regionalkrimi aus dem Baukasten

Vor achtzehn Jahren hat der damalige Kunststudent Harry Oldenburg – schon zu jener Zeit nicht schlecht im Fälschen alter und neuer Meister – vier Bilder aus dem Nolde-Museum in Seebüll gestohlen. Eines davon musste er auf seiner Flucht über Amrum dort zurücklassen: die „Ferien- gäste“. Nun kehrt er zurück – inzwischen erfolgreicher Kunsthändler von echten wie gefälschten Gemälden -, um das Bild zu holen. In einem Wechsel zwischen gestern und heute wird erzählt, was damals geschah und wie sich in der Gegenwart die Suche gestaltet.

Der Diebstahl vor achtzehn Jahren verlief nicht so glatt wie geplant. Erst wurde Harry von der Putzfrau überrascht. Sie konnte er noch unblutig überwinden. Der Kunststudent flüchtete daraufhin nach Amrum, um dort zunächst unterzutauchen. Doch auf der Nordseeinsel kamen mehrere Menschen hinter sein Geheimnis, die daraufhin einer nach dem anderen beseitigt werden mussten. Dabei war es gar nicht unbedingt Harry, der die unerwünschten Mitwisser tötete. Zufälle und Unfälle kamen ihm zu Hilfe. Auch in der Gegenwart gestaltet sich die Suche nach dem versteckten Bild als nicht ganz so einfach wie erhofft.

Die Geschichte hängt aufgrund ihrer Konstruktion vollständig von der Hauptfigur ab – und scheitert auch an ihr. Denn Harry Oldenburg ist nicht der etwas tollpatschige, naive Dieb, der eigentlich ganz in Ordnung ist, als den ihn der Autor schildern will. Allzu selbstgerecht reagiert er auf den Tod der unliebsamen Mitwisser, allzu selbstgefällig nimmt er Mord und Totschlag zu seinen Gunsten in Kauf. Was schwarzhumorig wirken soll, entlarvt sich unfreiwillig als kaltschnäuzig.

Der für ein Debüt erstaunlich munter und routiniert erzählte Krimi wirkt zudem wie vom Fremdenverkehrsamt der Insel Amrum gesponsert. Brav werden alle Sehenswürdigkeiten abgeklappert und beschrieben. Es fehlen nur noch die jeweiligen Öffnungszeiten und Eintrittspreise. Ein Regionalkrimi wie aus dem Romanbaukasten inklusive kauzigem Personal, geradezu idealtypisch. Nichts gegen Amrum – ganz im Gegenteil -, es zeigt sich nur wieder: Die Liebe zu einer Insel ist überhaupt kein Argument, zu einem Buch zu greifen, dessen Handlung dort angesiedelt ist.

Kirsten Reimers

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Krischan Koch: Flucht übers Watt
dtv 2009
Tb, 299 Seiten, 9,95 Euro
ISBN: 978-3-423-21140-6
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Leben ohne Grenzübergang

Kein Entkommen aus dem Zonenrandgebiet

Vor dreißig Jahren verließ Peter Blum fluchtartig seine Heimatstadt im Zonenrandgebiet. Seine damalige Freundin Astrid war von einem Tag auf den anderen verschwunden. Einfach weg, ohne ein Wort. Wochenlang suchte Peter gemeinsam mit ihrem Vater, doch vergebens. Astrids Vater beging schließlich Selbstmord, Peter suchte einen Neuanfang in den USA. Dort änderte er seinen Namen in Bloom. Nun liegt sein Vater im Sterben, und er kehrt zurück. Dreißig Jahre lang hat Astrid ihn nicht losgelassen. Bloom hat zwar Karriere als Fotograf gemacht, aber die Ehe, die er in der Zwischenzeit eingegangen ist, ist gescheitert, zu seinem Sohn findet er keinen Zugang. Freunde oder enge Vertraute hat er in der neuen Heimat nicht.

Auch in der alten Heimat wird er nicht mit offenen Armen empfangen. Die Mutter ist zwar glücklich, ihn wiederzusehen, doch auch etwas hilflos angesichts des fremden Sohns. Seine Schwester ist verbittert, weil er damals die Familie im Stich ließ – wie Astrid ging er ohne ein Wort, erst Monate später sendete er ein Lebenszeichen.

Peter Bloom war mit 19 von Astrid besessen, und er ist es mit Ende vierzig immer noch. In seiner Erinnerung ist sie zur großen Liebe geworden, zu der einen, an die keine zweite je heranreichen wird. Dabei waren es gerade einmal vier Monate, die diese Beziehung währte.

Sie lehnte in der Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern. Ich konnte sie nur erahnen. Zu wenig Licht. Ob sie lächelte, als ich sie fotografierte, oder ob ihre Augen geschlossen waren, hatte ich nicht erkennen können. Sie stand nur da. Eine Schulter gegen einen Türpfosten gelehnt und sagte »Hi!«, wie es neuerdings manche taten. Es sollte amerikanisch klingen.

Mit seiner Rückkehr nach Deutschland erhält Blooms Obsession neue Nahrung. Vor kurzem wurde in der Nähe des ehemaligen Todesstreifens das Skelett eines Mädchens gefunden, das im Sommer 1975 ums Leben kam, demselben Sommer, in dem auch Astrid verschwand. Bloom vermutet, hofft und fürchtet, dass es sich hierbei um seine Exfreundin handelt. Doch die Polizei hat längst festgestellt, dass das tote Mädchen eine junge Norwegerin ist. Auch Peter hat sie damals kurz gesehen, nach einem Auftritt der örtlichen Rockband »Crest«. Von der Vergangenheit wieder in festen Griff genommen, macht sich Bloom erneut auf die Suche nach Astrid. Darüber vergisst er den totkranken Vater, stößt die Mutter und die Schwester vor den Kopf und macht sich auch unter seinen alten Bekannten keine Freunde, im Gegenteil.

Selektive Wahrnehmung

Die Erzählung springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ich-Erzähler ist Peter Bloom, doch auch aus Sicht anderer wird – in der dritten Person – das Geschehen damals wie heute geschildert. Auf diese Weise klärt sich nach und nach, was vor dreißig Jahren vorgefallen ist. Schmerzhaft muss Bloom erfahren, dass seine Astrid nicht die war, für die er sie gehalten hat. Die wundervolle Jugendliebe mit Fahrten zum Badeteich, Spaziergängen entlang des Todesstreifens und unerfahrenem Sex im Jugendzimmer war nicht so harmonisch und rein, wie er sie wahrgenommen hat. 372 Fotos hat Peter damals von Astrid gemacht, und als er sie heute betrachtet, muss er sich eingestehen, dass er sich hat täuschen lassen. Denn sehen wollte er nur den Bildausschnitt, der ihm gefiel. Alles außerhalb seines Kameraobjektivs blieb außerhalb seiner Wahrnehmung.

Ich ging noch einmal alle anderen Bilder aus dieser Zeit durch, aber das Mädchen aus Norwegen war auf keinem weiteren Foto zu sehen.
Astrid dafür umso häufiger. Vor der Bühne, wie sie begeistert in die Hände klatschte. Einmal jubelte sie sogar mit ausgestreckten Armen, die Augen geschlossen. Auf einem anderen Foto trug Astrid den mit Aufklebern übersäten Gitarrenkoffer von Gerrit. Sie lachte in die Kamera, stand gebückt da, mit angewinkelten Knien, als bräche sie jeden Moment unter der Last des Koffers zusammen. Ich dachte, dass ich all diese Fotos gemacht hatte, ohne zu verstehen, was sie mir eigentlich sagten.

Auch heute ist Bloom in seiner Wahrnehmung eingeschränkt, im Gestern gefangen, emotional verkümmert. Verstockt wirkt er, immer noch ein bockiger Teenager mit seinen fast fünfzig Jahren. Nicht wirklich sympathisch. Aber sympathische Figuren sucht man in diesem Buch sowieso vergebens. Es ist bevölkert von Menschen, deren Lebenstraum gescheitert ist, die einem verlorenem Ideal anhängen und nicht die Gegenwart wahrhaben wollen. Deshalb sind sie verbittert, unzufrieden, aggressiv, hinterhältig. Die Bandmitglieder von damals, in den siebziger Jahren Rebellen, die gegen den Kleinstadtmief aufmuckten, machen heute noch Musik, allein, in ihrem Probenraum. Sie haben es nie über die Stadtgrenzen hinaus geschafft und sind in ihrer jugendlichen Rebellion steckengeblieben. Sie fristen ein trostloses Dasein als Fossilien.

Verharren im Nirgendwo

So gut wie nichts hat sich verändert in den letzten Jahren – die Grenze ist weg, und doch verharren alle in einem trostlosen Nirgendwo. Kein Schritt heraus aus dem eng umzirkelten Leben. Auch Bloom hat außer seiner Namensänderung keine Entwicklung erfahren.

Das Debüt von Jochen Rausch – übrigens Programmchef beim Jugendsender 1Live – ist kein Krimi, auch wenn es meist in der Kritik so gehandelt wird. Zu viele Fragen bleiben dafür ungeklärt. Es ist stattdessen die Geschichte einer Erstarrung, innen wie außen. Der Roman zeigt, dass Flucht keine Veränderung mit sich bringt, dass Verdrängung Stillstand bedeutet. Wie gebannt sind die Figuren von einem Moment in der Vergangenheit, von dem sie sich nicht lösen können, von dem sie sich Erlösung erhoffen, wenn sie nur lange genug an ihm festhalten können. Ein Trugschluss.

Kirsten Reimers

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Jochen Rausch: Restlicht
Kiepenheuer & Witsch 2008
Paperback, 288 Seiten, 8,95 Euro
ISBN: 978-3-462-04029-6
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