Archiv für den Monat: April 2014

Starr vor Schmerz

Gefängnisse und Ausbrüche

Christine Lehmann gehört zu den interessantesten deutschen Krimiautorinnen, weil sie so experimentierfreudig ist. Sie spielt unvoreingenommen mit Formen wie mit Personen. In ihrem neuesten Roman »Die Affen von Cannstatt« stellt sie ihr Reihenkonzept auf den Kopf. Denn die Hauptfigur ist nicht wie sonst die unkonventionelle Schwabenreporterin Lisa Nerz, sondern die in U-Haft sitzende Camilla Feh. Dieser wird vorgeworfen, ihren früheren Freund umgebracht zu haben, und sie wirft wiederum Lisa Nerz vor, durch deren Verleumdung hinter Gitter gelandet zu sein.

Der Fall an sich spielt eine etwas untergeordnete Rolle, was aber nicht verkehrt ist. Im Mittelpunkt stehen die Bedingungen der Untersuchungshaft und Camillas Bemühungen, nicht darin unterzugehen. Verdammt zu monatelanger Untätigkeit, isoliert von der Welt, mit weniger Rechten ausgestattet als die Häftlinge im Regelvollzug, beginnt Camilla ein Hafttagebuch zu führen, um nicht zusammenzubrechen. Darin besteht der Roman »Die Affen von Cannstatt« – und das zeigt zugleich, wie gelungen das Experiment ist: Der Ton unterscheidet sich deutlich von den Romanen, in denen Lisa Nerz im Mittepunkt steht; nüchtern, analytisch und distanziert, wie sie ist, schildert Camilla ihre Situation auf beeindruckende Weise. Was bei allen Unterschieden Christine Lehmanns Romane aber alle verbindet, ist der kluge und scharfe Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge und die Rolle der Einzelnen in ihnen. Sehr lesenswert!

Konfrontation der Kulturen

In Carl Nixons Roman »Settlers Creek« hat die Weltwirtschaftskrise den ehemals erfolgreichen neu seeländischen Bauunternehmer Box Saxton mitsamt seiner Familie in den finanziellen Ruin getrieben. Nun schuftet er für einen Hungerlohn ohne feste Anstellung auf dem Bau. Als sein 19-jähriger Stiefsohn Mark Selbstmord begeht, kann Box mit dem Schmerz kaum umgehen. Die Situation spitzt sich zu, als Marks leiblicher Vater, der Maori Tipene Pitama, verlangt, dass die Leiche des Jungen in der Erde seiner Maori-Vorfahren beerdigt wird. Da Box sich weigert, darauf einzugehen, und stattdessen darauf beharrt, dass Mark auf dem gleichen Friedhof wie Box’ Familie beigesetzt wird, entführt Tipene Marks Leichnam. Box macht sich auf den Weg, seinen Stiefsohn zurückzuholen.

Starr vor Schmerz, bleibt Box nur Wut und Gewalt, um seinen Verlust zu bewältigen. Schritt für Schritt streift er zivilisatorischen Konventionen ab, bis er schließlich nahezu wie ein wildes Tier reagiert. Carl Nixon beschreibt ohne Wertung die Konfrontation zwischen den beiden Vätern. Zwei Kulturen stehen einander unversöhnlich gegenüber – und keine ist die »bessere« oder »gerechtere«. Klar und schnörkellos untergräbt Nixon Klischees, stellt den erfolgreichen Maori-Unternehmer dem gescheiterten Weißen gegenüber und beschreibt Gewalt und Verbrechen in beiden Welten – und die zutiefst gespaltene neuseeländische Gesellschaft. Ein nachhaltig beeindruckendes Buch.

Rauschhaft, schnell, unverfroren

Jerome Charyns Roman »Unter dem Auge Gottes« spielt im Jahr 1988. Noch ist Isaac Sidel der Bürgermeister New Yorks, doch er steht kurz vor der Ernennung zum Vizepräsidenten, da muss er sich mit skandalösen Immobilienschachereien, einem unzuverlässigen designierten US-Präsidenten, gemeinen Vorwürfen und einer undurchsichtigen Femme fatale herumschlagen.

»Unter dem Auge Gottes« ist zwar der 11. Roman Charyns um »Citizen Sidel«, aber er ist dennoch ein prima Einstieg in Charyns Reihe um den mit einer Glock bewaffneten New Yorker Bürgermeister, der sich kaum um Regeln schert.  Wohl darum eröffnet Krimikritiker Thomas Wörtche die von ihm herausgegebene Reihe »Penser Pulp« im Verlag Diaphanes mit diesem Roman. Der amerikanische Autor ist hierzulande kaum bekannt, was sich nun hoffentlich bald ändert.

Wie seine Hauptfigur rabaukt Charyn souverän durch Logik und Linearität – und webt ein dichtes Netz von Fakten, Fiktionen und Mythen mit zahlreichen Anspielungen auf historische Personen, auf Vergangenheit und Gegenwart, auf Literatur und Verbrechen. Ein rauschhafter Roman, schnell und unverfroren.

Kirsten Reimers

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Christine Lehmann: Die Affen von Cannstatt
Ariadne/Argument 2013
Tb., 285 Seiten, 12 Euro
ISBN 978-3-86754-195-4

Carl Nixon: Settlers Creek
(Settlers’ Creek, 2010)
Aus dem Englischen von Stefan Weidle
Weidle Verlag 2013
geb. 343 Seiten, 23 Euro
ISBN 978-3-938803-60-8
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Jerome Charyn: Unter dem Auge Gottes
(Under The Eye of God, 2012)
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
Diaphanes 2013
Tb., 285 Seiten, 16,95 Euro
ISBN 978-3-03734-429-3

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in:
Frankfurter Neue Presse