Archiv für den Monat: August 2010

Mancher stirbt mehrfach

Gut gemeint, nicht zwingend gut gemacht

Kathy Reichs ist nicht nur Krimiautorin, sondern auch Professorin für Anthropologie an der Universität in Charlotte, North Carolina (USA), und als forensische Anthropologin für das Office of the Medical Examiner in North Carolina sowie für das Laboratoire de Sciences Judiciaires et de Médecine Légale in Montréal tätig. Das spiegelt sich in ihren Krimis wider: Reichs weiß, wovon sie schreibt. Eher unaufgeregt als bluttriefend, sind ihre Beschreibungen von Obduktionen, Knochenanalysen oder Gewebeextraktionen eine detailreiche, aber dennoch meist unterhaltsame Lehrstunde in Anatomie, Forensik, Anthropologie und und und. In ihre Romane fließen Fälle ein, an denen sie mitgearbeitet hat, das macht es oft sehr lebensnah mit einem guten Blick für Zusammenhänge und Hintergründe.

Als externe Beraterin war Reichs auch tätig für das JPAC, das Joint POW/MIA Accounting Command mit Sitz auf Hawaii, dessen Aufgabe die Suche nach Kriegsgefangenen und vermissten Soldaten der Streitkräfte der USA sowie deren Identifizierung ist. In erster Linie geht es um verschollene Armeeangehörige aus dem Zweiten Weltkrieg, dem Koreakrieg, dem Kalten Krieg und den Kriegen in Südostasien. Das bildet den Hintergrund für Reichs neuesten Krimi: »Blut vergisst nicht« (»Spider Bones«, 2010). In dessen Nachwort schreibt die Autorin, sie wollte vermitteln, was sie empfunden hat bei der Identifizierung von Männern und Frauen, »die vor langer Zeit und weit weg von zu Hause im Dienst an ihrem Land umgekommen waren«.

Ein durchaus ehrbares Anliegen. Aber leider auch ein bisschen erzwungen, denn die Umsetzung ist über weite Strecken steif und belehrend, an anderen Ecken wiederum so krampfhaft auf Spannung gebürstet, dass das neue Buch ein wenig zusammengestoppelt und überladen wirkt. Und etwas pathetisch.

Schwankend zwischen Offensichtlichem und völlig Verworrenem

Dr. Temperence Brennan, die den gleichen Beruf ausübt wie ihre Schöpferin, hat es diesmal mit einer Wasserleiche zu tun, die aus einem See in der Nähe von Quebec gezogen wird. Offenbar ein reichlich bizarrer autoerotischer Unfall nur wenige Stunden zuvor. Doch die Fingerabdrücke der frischen Leiche gehören zu einem US-amerikanischen Soldaten, der angeblich 1968 in Vietnam gefallen ist und in seinem Heimatort in den USA begraben liegt. Um der Sache auf den Grund zu gehen, werden die sterblichen Überreste exhumiert und beim JPAC auf Hawaii untersucht. Brennan wird als externe Beraterin hinzugezogen.

Die Ermittlungen und Verwicklungen, die sich nun ergeben, schwanken zwischen derart kurzsichtig beziehungsweise offensichtlich, dass man in den Tisch beißen möchte als Ersatzhandlung dafür, dass man die Figuren nicht schütteln kann, damit sie endlich mal die Augen aufmachen. Andere Handlungsstränge sind dagegen so gewollt verworren und mit medizinischen Sonderfällen aufgemotzt, dass man Probleme hat, die tatsächlichen Zusammenhänge zu verstehen. Dazu kommen die üblichen emotionalen Unentschiedenheiten zwischen Brennan und ihrem On/Off-Lover Detective Ryan, die inzwischen in ihrer Absehbarkeit auch nur noch ermüden.

Ganz offenbar ist die Luft raus aus Reichs Temperence-Brennan-Krimis. Das ist sehr schade, denn sie waren wirklich gut: sorgfältig recherchiert, den Blick über den Krimirand hinauswerfend, mit Bedacht in der Gegenwart angesiedelt und spannend ohne größere Effekthascherei. Doch der aktuelle Band, immerhin der 13. der Serie, kann damit leider nicht aufwarten.

Kirsten Reimers

Kathy Reichs: Blut vergisst nicht
Aus dem amerikanischen Englisch von Klaus Berr
Karl Blessing Verlag 2010
geb., 384 Seiten, 19,95 Euro
ISBN 978-3-89667-324-4
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Weil es sich so ergibt

Ein beklemmender Blick über die innere Grenze

Neun »ordentliche Männer mit ordentlichen Berufen« vergewaltigen auf einem Volksfest eine junge Frau – weil es sich so ergibt. Danach werfen sie sie weg wie einen Sack Müll und urinieren auf sie. Die Frau überlebt schwerverletzt. Weil die Männer kostümiert waren und weil die Ärzte bei der Rettung der Frau die DNA-Spuren beseitigen (müssen), kann die Tat keinem der Familienväter zweifelsfrei zugeordnet werden. Die Vergewaltiger gehen straffrei aus, es kommt nicht einmal zum Prozess. Der Erzähler, ein sehr junger Strafrechtanwalt, ist der Verteidiger eines der Täter; er muss sich eingestehen, dass er mit diesem Mandat seine Unschuld verloren hat.

Der Erzähler, das könnte der Strafverteidiger Ferdinand von Schirach sein. Schirach ist zumindest der Autor der Geschichte, die den Auftakt zu seinem zweiten Buch »Schuld« bildet. »Schuld« ist dunkler und beklemmender, an manchen Ecken aber auch kalkuliert bedrückender und damit banaler als Schirachs aufsehenerregendes Debüt »Verbrechen« vom Sommer 2009, für das der Autor den Kleist-Preis erhielt.

15 »Stories« sind im neuen Buch versammelt. Manche erschreckend und beunruhigend, manche etwas gewollt, manche absurd-witzig. Da ist die Geschichte von zwei Kleinganoven, die einen großen Drogendeal abschließen wollen – doch der Hund verschluckt den Schlüssel zum Schließfach mit dem Geld und löst so eine Kaskade von aberwitzigen Ereignissen aus. Da ist der Mann, der von einem kleinen Mädchen beschuldigt wird, es sexuell missbraucht zu haben, und seine gesamte Existenz verliert – und das nur, weil er mit der Lehrerin des Mädchens verheiratet und die Kleine eifersüchtig war. In einem Koffer werden die Fotos von 18 gewaltsam getöteten Menschen gefunden, doch der Besitzer des Koffers ist nur der Kurier und weiß offenbar von nichts; kaum aus der Untersuchungshaft entlassen, wird er ermordet, der Fall bleibt ungeklärt. Ein Mann glaubt sich von CIA und BND verfolgt und bringt schließlich fast seinen Anwalt in die Psychiatrie.

Schuld, Strafe, Recht und Gerechtigkeit

Wie schon in »Schuld« schreibt Schirach nüchtern, zurückhaltend, lakonisch in sehr einfachen Worten und Sätzen. Diese stehen in ihrer Schlichtheit in einem eklatanten Gegensatz zum hochdramatischen Geschehen. Daraus resultiert eine große Spannung und Eindringlichkeit. Der Blick Schirachs gilt weniger der Gesellschaft als vielmehr dem Einzelnen in ihr. Und dieser Blick ist sehr konzentriert: Schirach schildert, wie seine Figuren schuldig werden, welche Umstände und Zufälle dabei zusammenkommen – alles Darüberhinausführende wird weggelassen, eine Psychologisierung vermieden. Mit verhaltener Empathie zeichnet der Autor seine Akteure, nie überschwänglich, nie verletzend, immer respektvoll.

Beklemmend offensichtlich wird dabei, wie dünn die Schicht der Zivilisation ist, wie einfach es ist, die Regeln zu verletzen, die Grenze zu überschreiten und zum Verbrecher zu werden. Schirachs Figuren werden schuldig durch ihre Taten, aber auch durch Untätigkeit, durch Verleumdung, seltener durch Kalkül, meist durch Zufall. Wesentlicher Bestandteil der Stories ist das Strafmaß, dass die Menschen für ihr Verbrechen erhalten. Damit verbunden ist eine – nicht zwingend explizite – Reflexion über den Zusammenhang von Schuld, Strafe und Recht, was – aber das ist nicht neu – nichts mit Gerechtigkeit zu tun haben muss.

Schirachs Figuren sind in der Mehrheit ganz durchschnittliche, bis zu ihrem Verbrechen unauffällige Menschen. Das hätte auch ganz anders sein können, den Ferdinand von Schirach lehnt seine Stories an seine tatsächlichen Fälle an, und im tatsächlichen Leben ist er (übrigens der Enkel des überführten NS-Kriegsverbrechers Baldur von Schirach) durchaus so etwas wie ein »Promianwalt«. Zu seinen Mandanten gehörten zum Beispiel der ehemalige SED-Funktionär Günther Schabowski, den Schirach im Mauerschützen-Prozess vertrat, oder der BND-Spion Norbert Juretzko, aber auch Unterweltbosse, Industrielle – aber halt auch unbekannte Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten.

Wesentlich: die Vermutung von Authentizität

Natürlich erzählt der Anwalt seine Fälle nicht einfach nach, damit würde er sich strafbar machen, vom Vertrauensverlust mal ganz zu schweigen. Schirach literarisiert seine Mandate: Seine Geschichten seien anhand der Wirklichkeit frei erfunden, erklärte Schirach im Gespräch mit Benjamin von Stuckrad-Barre, der den Autor einen Tag lang begleitete. Er setze die Figuren aus mehreren Fällen zusammen und verfremde die Ereignisse durch die Übertragung in andere Milieus, Orte und Zeiten bis zur Unkenntlichkeit, sodass nur die Essenz bliebe. Erzähler ist jeweils ein Strafrechtsanwalt, zumeist ein einfaches »Ich«, vielleicht immer derselbe Anwalt, der nur in der letzten Geschichte von einem Dritten mit Namen genannt wird: Ferdinand von Schirach.

Schirachs Stories beziehen ihre Faszination aus dieser vermutbaren Authentizität. Ohne diese Hintertür der eventuellen »Echtheit« bliebe von der Eindringlichkeit seiner Geschichten wahrscheinlich wenig, zu unbeholfen mitunter die Sprache, zu simpel meist die Konstruktion, zu klischeehaft manche Figur, zu dick aufgetragen und zu deutlich ausgeprägt in einigen Stories das Betroffenheitskalkül. Die abwegigsten Szenen seien allerdings tatsächlich so geschehen, beteuert Schirach in einem Gespräch mit der »Zeit«, derlei könne man nicht erfinden – und irgendwie stimmt dies beim Lesen versöhnlich.

Kirsten Reimers

Ferdinand von Schirach: Schuld
Stories
Piper Verlag 2010
geb., 200 Seiten, 17,95 Euro
ISBN: 978-3-492-05422-5
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Knapp daneben

Bücher, die man sich schenken kann

Kriminalromane werden zwar in Unmengen gelesen, aber ihr literarischer Ruf ist immer noch zweifelhaft. Das liegt unter anderem an einfach richtig schlechten Büchern. Hier zwei Beispiele.

Simone Buchholz: Knastpralinen

Schwüle Sommerhitze über Hamburg und Leichenteile in der Elbe. Aber nur Köpfe, Hände, Füße – alles männlich -, der Rest ist weg. Wer in den achtziger Jahren die ersten richtig fiesen »Frauenkrimis« gelesen hat, weiß nach genau zwei Seiten, worauf das hinausläuft. Die ermittelnden Beamten und mit ihnen die Staatsanwältin Chastity Riley brauchen deutlich länger, aber immerhin auch nur 250 Seiten. Zumindest bleibt der Umfang übersichtlich.

Aber auch dies reicht, um aus Sankt Pauli eine Touristenattraktion zu machen. Okay: eine abgeranzte Attraktion, aber das ist halt Idyllisierung von unten. Erwartungsgemäß wird alles »Szeneunverdächtige« abgefeiert (und natürlich eine eigene Szene gebildet): Schrammelrock, Dosenbier und Menschen, die hart tun, aber eigentlich totaaal sentimentale Romantiker sind. Und das wird dann als »echt« verkauft, in einem Stil, der frisch sein will, aber oft nur unbeholfen wirkt.

Baden Kenney: Nadelstiche

Der »Vampir« geht um in New York: Er überfällt offenbar wahllos Menschen am helllichten Tag in ihrer eigenen Wohnung und zapft ihnen ein wenig Blut ab. Als seine Taten brutaler werden und Menschen sterben, wird der Pathologe Jake Rosen – mittelalt, attraktiv, brillanter Wissenschaftler, aber vollkommen unorganisiert im Alltagsleben – hinzugezogen. Ein zweiter Fall, der – so ein Zufall aber auch! – unerwarteterweise mit den Blutzapfkram zusammenhängt, bringt auch Rosens Freundin, die Anwältin Philomena »Manny« Manfreda – jung, hübsch, rotlockige Mähne, mit Vorliebe für Manolo Blahniks – ins Spiel.

Personen, geleckt wie einem Werbespot für Luxusschnickschnack entsprungen, mit der charakterlichen Tiefe von Filzstiftzeichnungen, lösen einen hanebüchenen Mordfall, der ein bisschen Betroffenheitsquark aufrührt. Nahezu unerträglich ist in dieser Mischung aus Chicklit und Forensikdramolett die Selbstgefälligkeit und die Klischeestarre. Solche Bücher verraten mehr über die Autoren, ihr Selbst- und ihr Idealbild, als man wirklich wissen möchte. Michael Baden ist übrigens Pathologe im Ruhestand, seine Ehefrau Linda Kenney Anwältin.

Kirsten Reimers

Simone Buchholz: Knastpralinen
Droemer 2010
Klappbroschur, 251 Seiten, 12,95 Euro
ISBN: 978-3-426-19814-8
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Michael Baden & Linda Kenney: Nadelstiche
(Skeleton justice, 2009)
Aus dem amerikanischen Englisch
von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Blessing 2010
Klappbroschur, 366 Seiten, 14,95 Euro
ISBN 978-3-89667-286-5

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Der Neue

Hosenträgerträger statt Haudrauf

Malcolm Fox ist der Neue von Ian Rankin. Anfang vierzig, geschieden, ein wenig schwerfällig, trägt Fliege und Hosenträger. Er trinkt keinen Alkohol, raucht nicht und hört Birdradio – einen Sender, der nur Vogelstimmen bringt. Und anders als sein Vorgänger John Rebus arbeitet er bei der internen Ermittlung.

Complaints and Conduct hieß ihre Abteilung offiziell. Sie waren die Polizisten, die gegen andere Polizisten ermittelten. Die »Leisetreter«, die »Schleicherbrigarde«. Innerhalb der Abteilung gab es eine Unterabteilung – die Professional Standards Unit. Während Complanits and Conduct die bodenständigen Fälle bearbeitete – Beschwerden über Streifenwagen, die auf Behindertenparkplätzen standen, oder Polizisten in der Nachbarschaft, die zu laut Musik hörten -, galt die PSU zuweilen als »die dunkle Seite«. Ihre Ermittler spürten Rassismus und Korruption auf. Sie befassten sich mit Fällen, in denen Schmiergelder kassiert oder beide Augen zugedrückt worden waren. Sie gingen geräuschlos vor und verfügten über so viel Macht, wie sie brauchten, um ihre Arbeit zu erledigen. Fox und sein Team gehörten zu PSU.

Ganz so langweilig und behäbig, wie man im ersten Moment meinen könnte, ist der Neue allerdings nicht. Gerade hat Fox die Ermittlungen zu korrupten Kollegen abgeschlossen, als er von der Abteilung CEOP, dem Kinderschutz, um Mithilfe gebeten wird: Ein Polizeibeamter – Jamie Brecks – wird verdächtigt, einem Pädophilennetzwerk anzugehören. Kaum hat Fox erste Informationen eingeholt, wird der schlägernde Freund seiner Schwester Jude tot aufgefunden, offenbar ermordet, kurz nachdem er Jude den Arm gebrochen hat. Und ausgerechnet Jamie Brecks führt die Ermittlungen. Fox hat nun mehr mit Brecks zu tun, als ihm lieb ist – und er muss zudem feststellen, dass ihm der andere sympathisch ist. Je näher er ihn kennenlernt, umso mehr zweifelt Fox an dem Vorwurf der Pädophilie. Brecks andererseits bezieht den Älteren über Gebühr in die Suche nach dem Mörder seines Fast-Schwagers ein. Als dies auffliegt, werden beide vom Dienst suspendiert. Ganz offenbar wurde ihnen eine Falle gestellt. Gemeinsam beginnen sie zu ermitteln und stoßen auf ein Netz aus Korruption und Verrat, das seine Fäden bis in Stadtverwaltung und die Polizei spannt.

Rankin inszeniert seinen Polizeikrimi vor dem Hintergrund der geplatzten Immobilienblase des Herbst und Winters 2008 und 2009. Komplex und gut durchdacht, hat jedes Geschehen, jedes Ereignis seinen Platz und seine Bedeutung. Mit hoher Könnerschaft verwebt Rankin seine Fäden zu einem vielschichtigen Ganzen, zu dem das zurückhaltende Tempo, das er anschlägt, hervorragend passt.

Kirsten Reimers

Ian Rankin: Ein reines Gewissen
(The Complaints, 2009)
Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller
Manhattan 2010
geb., 512 Seiten, 19,95 Euro
ISBN 978-3-442-54650-3
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Geisterdisko in Laos

Verschroben-charmante Verbrecherjagd mit metaphysischer Unterstützung

Der laotische Pathologe – genauer sagt: der einzige Pathologe in ganz Laos – Dr. Siri Paiboun und seine wirklich bezaubernde Assistentin Dtui werden im Jahr 1977 in die Provinz Houaphan nach Vieng Xai gerufen: Aus einem Betonweg, der ausgerechnet zum hiesigen Anwesen des Präsidenten führt, ragt ein mumifizierter Arm. Schuld daran ist ein Steinschlag: Die Villa des laotischen Staats- oberhaupts liegt vor einer der Höhlen, in denen sich die Anhänger der kom- munistischen Partei während des Vietnam- krieges verbargen. Von hier aus organisierten sie den Widerstand und den Befreiungskampf. Tausende lebten hier, und es existierte eine regelrechte Stadt in den Höhlen unter den Karsten. Diese hatten jedem Bombenangriff der USA standgehalten, selbst dem Streuteppich der Fünfhundert-Kilo-Bomben gegen Ende des Krieges.

Doch mitunter zeigen sich Folgen erst Jahre später: Aus einem der Karste hat sich jüngst ein Felsbrocken gelöst und beim Herunterkrachen den Betonweg zerschmettert. Einer der Risse gab die Leiche frei. Das ist besonders unschön, weil in wenigen Tagen die Creme de la creme der laotischen und der vietnamesischen Politiker hier in Vieng Xai eintreffen wird, Delegationen weiterer sozialistischer Bruderländer werden erwartet. Kein Wunder, dass Dr. Siri möglichst schnell zu einem Ergebnis kommen soll, möchte man doch vor den hochverehrten Gästen möglichst makellos dastehen.

Rationalität und Animismus

Laos im Jahr 1977: Die Monarchie ist gestürzt, die Besatzungsmächte wurden vertrieben, der Krieg ist vorbei, und die sozialistische Partei hat die Regierung übernommen. De facto heißt das aber: Die kapitalistischen Unterdrücker wurden durch kommunistische Unterdrücker ersetzt, und Laos ist ganz dem Wohlwollen Vietnams ausgeliefert. Autor Colin Cotterill – in London geboren und seit Jahrzehnten im asiatischen Raum reisend und lebend – zeigt Laos in all seiner Zerrissenheit: Während in der Stadt und in den Verwaltungsbehörden sozialistische Rationalität, Bürokratismus, Vetternwirtschaft und blinder Parteigehorsam regieren, blüht in den kleinen Dörfern weiterhin der Animismus: Die Umwelt ist belebt, Menschen sprechen in Zungen, und Schamanen erlösen – glücklich berauscht von allerlei Substanzen – gefangene Seelen. Ist in Eliot Pattisons Tibet-Krimis das Übernatürliche eine Möglichkeit, präsentiert es sich in Cotterills Romanen als Tatsache.

Dafür sorgt allein schon Dr. Siri. Der ist im Grunde vom Marxismus vollkommen überzeugt, doch mit der tatsächlichen Umsetzung alles andere als einverstanden. Deshalb hat er sich – obzwar seit Jahren Mitglied der sozialistischen Partei – schon lange aus der aktiven Politik zurückgezogen. Stattdessen unterläuft er mit Gewitztheit und aus Mitgefühl die bürokratischen Strukturen. In der Figur des einzigen laotischen Pathologen steht dem strikt agnostischen System das Übernatürliche in schön abstruser Form entgegen. Denn der Wissenschaftler beziehungsweise sein Körper beherbergt den Geist eines alten Hmong-Schamanen. Das weiß Siri erst seit kurzem, es erklärt ihm aber endlich seine Begegnungen mit Verstorbenen, deren Geister ihn schon seit langem im Traum erschienen. In der letzten Zeit jedoch ist der alte Schamane aktiver geworden und hat den Unmut der bösen Waldgeister geweckt. Naturgemäß steht Siri dabei in der Schusslinie. Die Geisterwelt ist aber nicht nur hübsche Dekoration, sondern hilft Dr. Siri handfest bei der Aufklärung von Verbrechen. So auch diesmal, als der 73-jährige Pathologe, der eigentlich völlig unmusikalisch ist, vom Geist eines toten, aber sehr leidenschaftlichen Kubaners besetzt wird, der ihn nicht nur dazu bringt, rhythmisch mit den Fingern zu schnippen, sondern auch zu einem mitternächtlichen Tanz zu Diskomusik verführt.

Leichtfüßige Absurdität

Alles passt bei Cotterill gekonnt zusammen, die Handlungsstränge sind wohlüberlegt geformt und mit so sicherer Hand miteinander verwoben, dass sich selbst das Absurdeste noch leichtfüßig-elegant und vollkommen natürlich einfügt. Die Verbrechen werden zwar mit deutlicher Unterstützung der Geister gelöst, doch ihre Gründe wurzeln fraglos im Diesseits. Sehr britisch versieht Cotterill seinen Roman mit untergründigem Witz und großer Sympathie für Underdogs (der real praktizierte Sozialismus mag nicht das Gelbe vom Ei sein, aber das vorherige Regime war alles andere als human). So ist der Krimi wundervoll versponnen und sehr charmant-verschroben, ohne auch nur einen Hauch esoterisch zu sein. Und ganz nebenbei entsteht das Porträt eines Landes, das abseits der Weltöffentlichkeit aus strategischen Gründen Spielball der politischen Systeme geworden ist.

Kirsten Reimers

Colin Cotterill: Totentanz für Dr. Siri
(Disco for the Departed, 2006)
Aus dem Englischen von Thomas Moor
Manhattan 2010
geb., 319 Seiten, 17,95 Euro
ISBN: 978-3-442-54665-7
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