Archiv für den Monat: Februar 2014

Düstere Abgründe hinter harmloser Kulisse

Spannende und aufwühlende neue Kriminalromane von Gillian Flynn, Charlotte Otter und Frank Göhre

Eine junge Frau verschwindet spurlos aus einer ruhigen Vorstadtsiedlung. Alles deutet auf ein Gewaltverbrechen hin, doch es gibt keinerlei Spur – niemand hat auch nur irgendetwas gesehen, kein Entführer meldet sich, keine Leiche wird gefunden. Verdächtigt wird natürlich unter anderem ihr Ehemann, denn wer sollte es sonst gewesen sein? Schließlich war die Frau allseits beliebt, eine harmlose, freundliche Ehefrau. Oder?

In Gillian Flynns Thriller »Gone Girl« ist nichts so, wie es zunächst scheint – es ist noch nicht mal so, wie man es auf den zweiten Blick vermuten würde. Hinter der Fassade der guten Ehefrau, des liebenden Mannes steckt Unerwartetes und Ungeheuerliches. Das Buch ist von wunderbar perfider Gemeinheit und fieser Boshaftigkeit, gespickt mit schwarzem Humor, erzählt aus zwei verschiedenen Perspektiven. Dazu ist es wunderbar geplottet und mit spitzen Seitenhieben auf die Mediengesellschaft versehen.

In den USA erstürmte das Buch Platz 1 der New-York-Times-Jahresbestsellerliste, eine Verfilmung unter der Regie von David Fincher ist geplant.

Engagierte Story, spannend erzählt

Pietermaritzburg in Südafrika, Hauptstadt der Provinz KwaZulu-Natal. Vor dem Gebäude der AIDS-Hilfe-Mission wird ein Mann mit vier Schüssen in die Brust getötet. Die Polizei geht von einem aus dem Ruder gelaufenen Raubüberfall aus – doch die Kriminalreporterin Mag- dalena Cloete zweifelt an dieser Version. Nur wenige Tage zuvor hatte dieser Mann sie angerufen, um sie auf einen Prozess hinzuweisen, in dem es um den Verkauf wirkungsloser AIDS-Medikamente ging. Oder handelte es sich um einen Racheakt für ein lang zurückliegendes Verbrechen, wie der Vater des Opfers glaubt? Oder war es ein Attentat, dass sich gegen die Arbeit der AIDS-Hilfe-Mission richtete?

Charlotte Otter schickt in ihrem schnellen und engagierten Debüt »Balthasars Vermächtnis« eine unkonventionelle Hauptfigur auf die Suche nach den Hintergründen der Tat im Post-Apartheid-Südafrika der Jahrtausendwende. Maggie Cloete trifft auf absurden Aberglauben, der viel zu vielen Menschen auch heute noch das Leben kostet, Korruption, verdrängte Vergangenheit und eines der zentralen Probleme Südafrikas: AIDS und die gesellschaftliche Leugnung der Brisanz des Problems. Viel zu viele Betroffene haben auch heute noch keinen Zugang zu antiretroviralen Medikamenten, stattdessen sind sie mit Scharlatanen konfrontiert, die sie betrügen und abzocken. Otter schildert dies in ihrem Thriller anschaulich und aufwühlend, ohne belehrend oder bemüht betroffen zu wirken.

Ungeschminkt und messerscharf

Im Dezember 2013 feiert Frank Göhre, einer der interessantesten und besten deutschen Krimiautoren, seine siebzigsten Geburtstag. Aus diesem Grund legt der Pendragon Verlag mit »Geile Meile« einen dicken Band mit bekannten wie bislang unveröffentlichten Erzählungen vor. Alle spielen rund um die Reeperbahn in Hamburg. Göhre wirft in jeder seiner Geschichten einen ungeschminkten und messerscharfen Blick auf das Rotlichtmilieu und hinter seine Kulissen.

In »Geile Meile« findet sich neben »Zappas letzter Hit« – sozusagen dem vierten Band zu Göhres bekannter »Kieztrilogie« – »St. Pauli Nacht«, erfolgreich verfilmt von Sönke Wortmann; Frank Göhre schrieb das Drehbuch dazu und wurde dafür mit dem Deutschen Drehbuchpreis ausgezeichnet. Hinzu kommen die Erzählungen »Rentner in Not«, »Der letzte Freier« und – bislang unveröffentlicht – »Es war einmal St. Pauli«. Unbedingt lesenswert!

Kirsten Reimers

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Gillian Flynn: Gone Girl. Das perfekte Opfer
(Gone Girl, 2012)
Deutsch von Christine Strüh
Scherz 2013
broschiert, 584 Seiten, 16,99 Euro
ISBN 978-3-502-10222-9
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Charlotte Otter: Balthasars Vermächtnis
Deutsch von B. Szelinski und Else Laudan
Ariadne/Argument 2013
Tb., 316 Seiten, 13 Euro
ISBN 978-3-86754-214-2
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Frank Göhre: Geile Meile
Pendragon 2013
Tb., 507 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-86532-365-1

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in:
Frankfurter Neue Presse


Perfides Spiel mit Ängsten

Neue Kriminalromane von Matthias Wittekindt, Stephen Dobyns und Donald Ray Pollock

»Marmormänner«, so werden die vier jungen Männer genannt, die vor mehr als 40 Jahren im Städtchen Fleurville in der Nähe der deutsch-französischen Grenze verschwanden. Nur einen von ihnen fand man wieder: mit durchtrennter Kehle und marmorähnlich verfärbter Haut. Dies gab dem Fall den Namen. Bei Bauarbeiten werden nun Überreste von Kleidungsstücken entdeckt, die einem der Männer zugeordnet werden können. Dies gibt den Ausschlag, den Fall erneut aufzurollen.

Unaufgeregt und präzise beschreibt Matthias Wittekindt die akribische und manchmal mühselige Spurensuche des Ermittlerteams. Aus verschiedenen Perspektiven wird das Vorgehen der Polizei geschildert, hinzu kommen die persönlichen Lebensverhältnisse der Figuren, aber auch die politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen innerhalb des Städtchens spielen eine Rolle. Alles zusammen verwebt sich zu einem sehr soliden und sorgfältig geformten Kriminalroman.

Teufel, Hexen oder Einbildung?

Deutlich dramatischer und auch überzogener ist Stephen Dobyns Thriller »Das Fest der Schlangen«: In einer amerikanischen Kleinstadt verschwindet ein Baby von der Kinderstation des Krankenhauses, statt seiner wird eine Schlange im Kinderbettchen gefunden. Kurz darauf wird ein Mann mit einem Ritualdolch ermordet und skalpiert, und außerdem scheint es immer mehr Kojoten zu geben, die zudem immer dreister und gefährlicher werden. Oder sind es gar Menschen, die ihre Gestalt wandeln können? Ist Satanismus im Spiel? Tragen Hexen die Schuld?

Dobyns Roman kommt als Mischung aus Krimi und Horrorgeschichte daher und erinnert mitunter an Stephen King, ist aber besser. Dobyns spielt gekonnt mit Ängsten; was Wirklichkeit, was Übernatürliches und was nur Hysterie ist, lässt sich nicht immer unterscheiden. Dabei erfindet der Autor seinen Genremix nicht neu, füllt ihn aber mit großer Schreibfreude und Kreativität. Munter und ironisch überspitzt, ohne jedoch die Bodenhaftung zu verlieren, nimmt sich der Roman selbst nicht allzu ernst und hält gleichzeitig die Spannung straff.

Schlag sie tot

Donald Ray Pollocks Roman »Das Handwerk des Teufels« beeindruckte im letzten Jahr so stark, dass er mit dem Deutschen Krimi Preis in der Sparte »international« ausgezeichnet wurde. Mit »Knockemstiff« liegt nun Pollocks Debüt von 2008 vor: eine Sammlung von Kurzgeschichten, die alle über die gleichnamige Kleinstadt verbunden sind, ein trostloses Kaff in Ohio, übersetzt bedeutet der Name ungefähr »Schlag sie tot«. »Unser Leben zu vergessen ist das Beste, was wir zustande bringen«, meint einer der Bewohner – und das versuchen alle Protagonisten von Pollocks Geschichten: mit Alkohol, Drogen, Sex, mit Gewalt und Inzest. Hoffnungslosigkeit überall, kein Ausweg, nirgends.

Die Kurzgeschichten spielen in einem Zeitraum von den vierziger Jahren bis Anfang dieses Jahrhunderts, sie überkreuzen sich, was Orte und Personen angehen – und in all den Jahren scheint sich außer den Rauschmitteln nur wenig zu ändern. Das könnte beim Lesen unerträglich werden, aber Pollock schafft es, seine Figuren aus sich heraus zu schildern, ohne die Distanz zu ihnen zu verlieren. Er verrät sie weder noch entschuldigt er sie. So erwachsen schmerzhaft-schonungslose und sehr eindringliche Geschichten aus dem dunklen Herzen der USA.

Kirsten Reimers

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Matthias Wittekindt: Marmormänner
Edition Nautilus 2013
kart., 284 Seiten, 16,90 Euro
ISBN 978-3-89401-772-9

Stephen Dobyns: Das Fest der Schlangen
(The Burn Palace, 2013)
Aus dem Englischen von Rainer Schmidt
Bertelsmann 2013
kart., 542 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-570-10154-4
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Donald Ray Pollock: Knockemstiff
(Knockemstiff, 2008)
Aus dem Englischen von Peter Torberg
geb., 256 Seiten, 18,90 Euro
ISBN 978-3-95438-014-5
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Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in:
Frankfurter Neue Presse


Schlechtigkeit braucht keinen Lernprozess

Aufregende neue Bücher von Patrícia Melo, Denise Mina und Giancarlo De Cataldo

»Lange Zeit habe ich geglaubt, Schlechtigkeit erfordere einen langen Lernprozess. In jenen Tagen begriff ich, dass das Schwere ist, ein guter Mensch zu sein«, stellt die namenlose Hauptfigur in Patrícia Melos in Brasilien spielendem »Leichendieb« fest. Er selbst ist überrascht von dem Ausmaß an Schlechtigkeit, dass er in sich entdeckt. Zufällig wird der ehemalige Call-Center-Manager Zeuge eines Flugzeugabsturzes. Um den Piloten zu retten, kommt er zu spät, doch im Cockpit findet er einen Packen Kokain. Warum nicht den Stoff nehmen und sich davonmachen? Schnell verdientes Geld. Doch wie jeder einfache Plan, sich mit gestohlenen Drogen rasch und unkompliziert etwas dazuzuverdienen, scheitert auch der des Namenlosen, der sich immer tiefer im Verbrechen verstrickt.

»Ich bin ein ganz normaler Mensch. Ein halbwegs guter«, betont der Mann immer wieder. Und das stimmt: Er ist ein ganz normaler gieriger Mensch in einer ganz normalen gierigen Welt, die von Korruption und Ausbeutung bestimmt ist. Patrícia Melo erzählt temporeich, mit dunklem Witz und Sinn für perfide Wendungen. Ein gutes, böses Buch.

Dunkle Geheimnisse

Ins Schottland der neunziger Jahre führt Denise Minas Kriminalroman »Der letzte Wille« (das Original heißt etwas treffender »The last breath«): Der Journalist Terry Hewitt wird ermordet, geradezu hingerichtet, doch aus unersichtlichem Grund. Früher berichtete Hewitt aus Krisen- gebieten in aller Welt, doch das ist lange her. Aktuell arbeitete er gemeinsam mit einem Foto grafen an einem interessanten, aber nicht brisanten Bildband. Seine ehemalige Freundin Paddy Meehan, ebenfalls Journalistin, glaubt an eine Verbindung zur IRA und geht den spärlichen Hinweisen nach.

Denise Mina, die hierzulande leider noch viel zu wenig bekannt ist, schildert spannend und mit einem glaubwürdigen Plot, wie der Nordirlandkonflikt selbst außerhalb Irlands bis in die Familienbeziehungen hinein das Denken und Leben der Iren bestimmt. Mit ihrem unaufgeregten Stil und den lebendigen, abseits von Klischees geformten Figuren zählt Denise Mina zu den interessantesten schottischen Krimiautorinnen der Gegenwart.

Die Verquickung von Verbrechen und Politik

Ebenfalls angenehm unaufgeregt ist »Der König von Rom« von Giancarlo De Cataldo. De Cataldo schildert darin die Vorgeschichte zu seinem beeindruckenden »Romanzo Criminale«, dem umfangreichen Roman, in dem der römische Richter und Schriftsteller Aufstieg wie Fall der sogenannten Magliana-Bande, der größten organisierten Verbrecherbande Roms, in den siebziger und achtziger Jahren nachzeichnet – nicht als Tatsachenbericht, sondern als Roman und so nah an der Wirklichkeit, wie Fiktion es zu sein vermag. Nicht nur die Geschichte der organisierten Kriminalität, auch die Roms und Italiens erzählt De Cataldo in »Romanzo Criminale«, ebenso wie von der Verquickung von Verbrechen und Politik.

»Der König von Rom« schildert die Anfänge der Magliana-Bande, den verzweifelten Versuch Libaneses, wie De Cataldo seine Hauptfigur nennt, ausreichend Geld aufzutreiben, um im großen Stil ins Drogengeschäft einzusteigen und die kleinkriminellen Handlangertätigkeiten hinter sich zu lassen. Aber noch ist auch ein bürgerliches Leben möglich, noch steht Libanese vor der Wahl. Auch »Der König von Rom« ist ein Zeitporträt der frühen siebziger Jahre Italiens, das der Verbindung von Kriminalität und Gesellschaft nachspürt, unaufgeregt und faszinierend. Den Abschluss des Buches bildet ein Nachwort von Literaturkritiker Tobias Gohlis und Giancarlo De Cataldo, in dem der Autor, seine Bücher und seine Ziele näher vorgestellt werden.

Kirsten Reimers

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Patrícia Melo: Leichendieb
Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita
Tropen/Klett-Cotta 2013
geb., 201 Seiten, 18,95 Euro
ISBN 978-3-608-50118-6
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Denise Mina: Der letzte Wille
Aus dem Englischen von Conny Lösch
Heyne 2013
Tb., 477 Seiten, 9,99 Euro
ISBN 978-3-453-43442-4

Giancarlo De Cataldo: Der König von Rom
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl
Folio Verlag 2013
geb., 174 Seiten, 19,90 Euro
ISBN 978-3-85256-619-1
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Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in:
Frankfurter Neue Presse