Archiv für den Monat: Mai 2009

Pfälzer Liebeskunst

Gleich drei explosive Schriftstücke verwirren Kommissarin Bettina Boll

In einer Fernseh-Talkshow sieht die Ludwigshafener Kriminalkommissarin Bettina Boll ihn zum ersten Mal: den Buchwissenschaftler Dr. Gregor Krampe. Er ist elegant, gepflegt, melancholisch, intelligent und kettenrauchend, und er gefällt Bettina Boll ganz ungemein. Gregor ist nicht nur der Sohn des bekannten Spionageromanautors Georg Krampe, sondern auch der wissenschaftliche Leiter einer hochmodernen Bibliothek, die für ein einziges Buch erbaut zu sein scheint: für eine Handschrift von Ovids »Ars amatoria«, der »Liebeskunst«. Es ist die wohl älteste erhaltene Handschrift des Textes, mit expliziten und exquisiten Zeichnungen versehen und versteckt in einem Psalter. Die wissenschaftliche Sensation daran: Das Büchlein könnte Hinweise geben auf die verschollene Medea-Tragödie von Ovid.

Allerdings ist die Herkunft des Bändchens eher ominös, es wurde der Bibliothek anonym zugesandt. Inzwischen gibt es zahllose diplomatische Anfragen wegen der Handschrift, denn womöglich wurde sie aus einer anderen Sammlung gestohlen. Schon vor geraumer Zeit hat das BKA darum die Sonderkommission »Ovid« gegründet, der auch Bettina Boll angehört, da die Beamten in Ludwigshafen die Organisation der Ermittlungen vor Ort übernehmen sollen. Und der Hauptverdächtige ist ausgerechnet jener attraktive Gregor Krampe.

Ein Leitfaden zur Mädchenherzgewinnung

Bislang hatte die SOKO Ovid wenig zu tun, doch nun gewinnen die Ereignisse an Dramatik: Krampes Mutter wird durch eine Briefbombe schwer verletzt, eine Hellseherin bringt einen Roman heraus, den ihr angeblich der vor zwei Jahren verstorbenen Georg Krampe aus dem Jenseits diktiert hat, und die Ovid-Handschrift ist in Gefahr, gestohlen zu werden – bevor das Buch auf Jahre in der Faksimilisierung verschwindet, soll es im Rahmen einer kleinen Feier ausgestellt werden, die beste und die letzte Gelegenheit für einen Diebstahl.

»Ein Buch ist ein Gedankengebäude«, sagte Marny in heiligem Ernst.
»Das Sie mit vier realen Schlössern sichern«, erwiderte Bettina.
Darauf grinste Marny, ihre kleine Nase kräuselte sich lustig, und Bettina fragte sich plötzlich, wofür diese Frau bezahlt wurde. Sie sah selbst aus, wie ein Liebhaberobjekt, charmant, gebildet, aber nicht den ganzen Raum füllend, ein Mensch mit Platz für andere, für Rätsel. »Sie haben recht«, sagte sie, »aber dieses Buch ist wirklich was Besonderes. Und jetzt, wo bald jeder seine Schönheit sehen kann und soll, da muss es geschützt werden. Inzwischen würde es vermutlich einen angemessenen Preis erzielen. Es hat das Zeug zum Star.« Wieder zog sie die Nase kraus. »Es ist sexy.«

Dank ihrer Zugehörigkeit zur SOKO ist Bettina Boll beinah im offiziellen Auftrag auf der privaten Feier anwesend und kommt dem Hauptverdächtigen sehr nah. Zu nah. Denn in dieser Nacht wird der Ovid tatsächlich geraubt, und Bettina Boll liefert Gregor Krampe das beste Alibi, das der sich wünschen kann.

Leichtfüßig und bissig, spannend und elegant

Kommissarin Bettina Boll gehört zu den wunderbar unprätentiösen und unverwechselbaren Ermittlergestalten der deutschen Krimilandschaft. Immer ein bisschen desorganisiert, immer etwas in Zeitnot, immer ein wenig chaotisch, nimmt sich die inzwischen halbtags arbeitende Kommissarin – die die beiden kleinen Kinder ihrer verstorbenen Schwester zu sich genommen hat -, selten Zeit, in die Tiefe eines Falles zu gehen. Dafür hat sie die Oberfläche gut im Blick und entdeckt auf diese Weise Zusammenhänge, die anderen entgehen. Dabei wirkt sie mitunter so naiv und kindlich-staunend, dass ihre Gesprächspartner sie schnell unterschätzen. Zu schnell.

»Die Herzen aller Mädchen« ist das fünfte Buch von Monika Geier um die Ludwigshafener Kommissarin, und es ist eines ihrer besten – obwohl eigentlich alle ihre Kriminalromane ganz wunderbar sind. Geier schreibt elegant und leichtfüßig, mit gekonnt gesetzter, bissiger Komik, unhysterisch, intelligent und äußerst lebendig. Ihre Figuren sind komplex und plastisch, denn Geier spielt versiert mit Klischees, die schließlich herrlich unterlaufen werden. Spannend und ungemein glaubwürdig sind die Krimis obendrein. Das macht Monika Geier zu einer der besten deutschen Krimiautorinnen.

Kirsten Reimers

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Monika Geier: Die Herzen aller Mädchen
Ariadne Krimi, Argument Verlag 2009
brosch., 351 Seiten, 11,00 Euro
ISBN: 978-3-86754-184-8

Diese Rezension ist auch erschienen auf satt.org


Datenmissbrauch und Terrorhysterie

Wenn Identität zur Ware wird

Michael Bellichers Welt beginnt auseinander zu brechen, als er Zeuge eines schweren Autounfalls wird. Die von ihm herbeigerufene Polizei interessiert sich überraschend intensiv für den jungen Unternehmensberater aus Amsterdam. Und völlig unvermutet wird er selbst beschuldigt, einen andern Unfall mit tödlichem Folgen verursacht und anschließend Fahrerflucht begangen zu haben. Das Unfallauto ist auf seinen Namen zugelassen. Nicht einmal seine Pflichtverteidigerin scheint Bellicher zu glauben, der beteuert, nichts davon zu wissen.

Doch das ist erst der Anfang. Denn kurz darauf muss Bellicher erfahren, dass auf seinen Namen ein Kredit von über drei Millionen Euro aufgenommen wurde, der nun geplatzt ist. Der Unternehmensberater ist ohne sein Zutun hoch verschuldet, sein Besitz droht gepfändet, sein Vermögen beschlagnahmt zu werden. Außerdem wird er von zwei Männern verfolgt, die offenbar auch vor seinem Tod nicht zurückschrecken.

Innerhalb weniger Tage zerfällt Bellichers Existenz, weil sich jemand seine Identität angeeignet hat und in seinem Namen Verbrechen begeht. Weder Banken noch Behörden schenken seinen Unschuldsbeteuerungen Glauben.

Datendiebstahl im Internet – Hysterie oder reale Gefahr?

Angesichts der in jüngster Zeit bekannt gewordenen Datenmissbräuche gewinnt den Tex‘ Thriller mehr Aktualität und Brisanz, als ihm ohnehin schon inneliegen. Identität lässt sich heute in Daten pressen – damit wird sie handelbar wie Ware. Solange sie nur benutzt wird, um den Betroffenen um sein Geld zu prellen, ist es sogar noch vergleichsweise harmlos. Um wie viel bedrohlicher ist die Situation, wenn die Personendaten an Terroreinheiten verkauft werden, die ihre Mitglieder damit ausstatten. Und wie ungeheuerlich, wenn auch noch Regierungsorganisationen ihre Finger mit im Spiel haben.

Den Tex nutzt für seinen Thriller eine reale Gefahr, die alle gern verdrängen: Das Mitmischen in virtuellen Netzwerken ist gang und gäbe, Online-Banking und Internetshopping gehört zum Alltag. Ist wirklich alles so sicher, wie uns die Betreiber weismachen wollen? Wir alle neigen dazu, eine Menge von uns im Internet preiszugeben. Warum auch nicht, wir haben ja nichts zu verbergen. Aber wir haben auch keine Kontrolle darüber, was andere mit unseren Daten anstellen. Und die haben unter Umständen eine Menge zu verbergen.

Während eines Terroralarms gerät Michael Bellicher – durch Zufall? – in eine Personenkontrolle. Unversehens landet er in einem Militärgefängnis, in dem angesichts der Terrorgefahr die bürgerlichen Rechte nicht mehr viel zählen. In zermürbenden Verhören soll der Unternehmensberater dazu gebracht werden, seine Zugehörigkeit zu einer terroristischen Zelle zu gestehen. Das Ironische an der Sache: Als Berater des Justizministeriums hat er in der Vergangenheit dabei geholfen, derartige Antiterroreinsätze zu planen.

Identität – mehr als Daten

Damit ist nicht nur die äußere Existenz von Bellicher in Gefahr. Auch sein innerer Zusammenhalt wird unter Beschuss genommen. Und wie viel ist das Wissen um die eigene Unschuld wert, wenn niemand sonst davon überzeugt ist? Was macht eine Person aus? Besteht Identität nur aus Daten? Was passiert mit einem Menschen, dem diese Daten genommen werden?

Beklemmend bedrohlich ist das Szenario, das den Tex entwirft – eine allgegenwärtige Gefahr, die nicht wirklich zu fassen ist, ein Alter Ego, das ein kriminelles, gar staatsfeindliches Eigenleben führt. Darüber hinaus ist der Thriller tempo- und actionreich mit rasanten Verfolgungsjagden gestaltet. Nur die Figuren bleiben etwas blass und papiernen. Störend auch die Verweise auf das Vorgängerbuch „Die Macht des Mr. Miller“, denn dadurch gerät Hauptfigur Bellicher in ein falsches Licht: Schon damals wurde er des Mordes verdächtigt, seine Existenz zerbrach in Stücke. Und nun schon wieder. Das schmälert Glaubwürdigkeit der Figur auch beim Leser, denn wer hat schon derart viel Pech, wer wird so oft mit Verbrechen konfrontiert, der nicht Polizist oder Krimineller ist?

Bei aller Rasanz schwingt stets die philosophische Frage mit, was Identität ausmacht, was ein Individuum definiert. Und den Tex findet darauf eine eindeutige Antwort: ohne soziales Netz, ohne Unterstützung von anderen, ohne Freundschaft keine Identität – und auch keine Fallauflösung. Zum Glück hat Bellicher einen Kompagnon mit einflussreicher Familie, so stehen ihm bald verschiedene Personen bei, um die eigene Identität zurückzuerobern. Das ist gut gelöst. Und – um ehrlich zu sein: Mir hängen die taffen Alleinunterhalter zum Hals heraus!

Die in sich gefangenen Ermittler – ob nun Profi oder Amateur -, die in Selbstmitleid und sozialer Inkompetenz baden – sie sind Dinosaurier, zum Aussterben verurteilt. In der heutigen Welt sind sie weder glaubwürdig noch existenzfähig. Das Heute ist viel zu zersplittert, in Nischen aufgeteilt und gleichzeitig viel zu vernetzt, als dass ein Einzelner sich darin zurechtfinden kann, ja überhaupt überlebensfähig wäre (nicht ohne Grund gibt es eine riesige Beraterbranche und umfangreiche Ratgeberliteratur zu allem und jedem). Was bei Hammett und Chandler noch funktionierte, hat sich heute überholt. Jeder einsame Wolf ist ein lächerliches Fossil. (Das musste mal gesagt werden.)

Kirsten Reimers

Charles den Tex: Die Zelle
Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer
Grafit Verlag 2009
geb., 446 Seiten, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-89425-659-3

Diese Rezension ist auch erschienen auf satt.org


Chaosidylle mit finnischem Bestatter

Herbst in Bochum – und nicht nur die Blätter fallen

Seit sie das Drehbuch zu einem »Tatort« vermasselte, lebt Drehbuchautorin Maggie Abendroth im selbstgewählten Exil in Bochum. Schreibblockade, permanenter Geldmangel und ein sehr chaotisches Leben zwischen skurrilen Ruhrpottgestalten und einem finnischen Bestatter prägen seitdem ihren Alltag. Und Todesfälle. In »umgenietet«, dem dritten Band mit der chronisch vernörgelten, überdrehten Ermittlerin wider Willen, verschwindet zunächst Herrmanns, Stammgast an Oma Bertis Kiosk, um wenig später schwer verletzt wiedergefunden zu werden. Hat das etwas mit seiner eventuellen Verwandtschaft mit Winston Churchill zu tun, wie Borowski, Herrmanns Lebensabschnittsbegleittrinker, vermutet?

Doch richtig zur Sache geht es erst, als ein bekannter Sammler alter Musikinstrumente ausgerechnet von Borowski tot aufgefunden wird. Dazu kommt ein verschwundenes altes Musikinstrument, zerschlagenes Porzellan und fatale Fingerabdrücke auf Herrmanns Flachmann. Um das Chaos perfekt zu machen, taucht Maggies Ex, der Knipser (bekannter Starfotograf) wieder auf und säuselt Verführerisches. Ausgerechnet in dieser verfahrenen Situation sind weder Freundin und Frisöse Wilma noch Freund und Kommissar Winnie da, um zu helfen, zu retten, aufzufangen.

Gut getimter Balanceakte ohne Abwege in Albernheiten

Wie die Vorgängerbände »totgepflegt« und »abgemurkst« besticht auch dieses Buch durch angenehme Überspanntheit und verqueren, rauen Charme. Handlung wie Charaktere sind auf die Spitze getrieben, immer leicht hysterisch, ohne aber ins Alberne umzukippen. Dafür haben die Mincks ein sehr feines und sicheres Gefühl. Nie wird die Grenze zur Klamotte überschritten. Ein sehr witziger Balanceakte, der auf Schenkelklopfer verzichten kann und stattdessen durchgehend überdrehtes Amüsement bietet. Nichts Süßliches hebt das auf unerträglich herzige Ebene, sondern die Figuren zicken und murren sich an, dass es eine Freude ist. Wahrheitsgetreue Wirklichkeitswiedergabe ist nicht das Ding der Bücher, Wahrscheinlichkeit reicht schon vollkommen. Da verzeiht man den zart absurden Whodunits gern, dass sie den Mordfall nicht gerade neu erfinden und Kommissar Zufall ein wenig viel zu tun bekommt.

Kirsten Reimers

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minck & minck: umgenietet.
Maggie Abendroth und der alten Narren tödliches Geschwätz
Droste Verlag 2009
brosch., 348 Seiten, 10,00 Euro
ISBN: 978-3-7700-1290-9


Mord mit komplexem Ursachenwurzelwerk

Selbst die Verbrechen geschehen in Pajala auf Finnisch

Es beginnt wie ein typischer Schwedenkrimi: Im hohen Nordosten Schwedens, in der Kleinstadt Pajala an der Grenze zu Finnland, wo ein gegen die Tür gelehnter Besen das Türschloss ersetzt, dort in der vermeintlich sicheren Idylle ist ein entsetzlicher Mord geschehen. Ein alter Mann wurde in seinem eigenen Bett mit einem Lachsspeer erstochen. Sehr blutig. Einen Teil der Leiche hat der Täter auf der Herdplatte in der Küche verschmoren lassen. Sehr eklig. Aus dem Süden, der Hauptstadt Stockholm, reist die Kriminalkommissarin Therese Fossnes an, um den Fall zu lösen – eine junge Großstädterin, die sich als Weltbürgerin ohne Wurzeln versteht, eine unabhängige Frau ohne beschwerende Bindungen. Nicht nur die Provinzialität macht ihr in Pajala zu schaffen. Besonders irritierend ist es für Fossnes, dass sie einen Dolmetscher braucht, um Verhöre zu führen. Natürlich können die Menschen hier Schwedisch sprechen – doch manche wollen nicht. Sie halten am Meänkieli, dem Tornedalfinnisch, dem lokalen finnischen Dialekt, fest.

»Sano se meänkielelä«, unterbrach Esaias.
»Er möchte, dass du das auf Finnisch sagst«, übersetzte Eino.
»Auf Torndealfinnisch«, korrigierte Sonny.
Eine Weile herrschte sonderbares Schweigen. Zum Schluss räusperte sich Kenneth Mikko.
»Hm … Mein Mandant hat das Recht auf einen Dolmetscher.«
»Aber er ist doch Schwede!«, widersprach Therese.
»Tornedalfinnisch ist vom Schwedischen Reichstag als Minoritätensprache anerkannt worden. Also hat er innerhalb des Distrikts Pajala das Recht auf Hilfe durch einen Dolmetscher.«
(…)
»Okay«, sagte Therese verbissen. »Eino kann übersetzen, ist das in Ordnung?«
»Natürlich kann ich übersetzen«, sagte Eino. »Mie käännän.«
Esaias schüttelte den Kopf, schief grinsend.
»Mie tartten puoluettoman tulkin.«
»No mitäs perkele sie höpiset«, zischte Eino, »kyllä piru vietä mie tiiän ette sie ossaat routtia! Verflucht, ich weiß ganz genau, dass du Schwedisch kannst!«
»Puoluettoman tulkin«, wiederholte der Anwalt lächelnd. »Ein neutraler Dolmetscher.«

Entscheidungen am Reißbrett, Unterdrückung im Alltag

Als Leser wird einem bald schon klar: Die Krimihandlung ist nur Aufhänger und Rahmen, um etwas anderes zu erzählen. Im Zentrum von Niemis Buch steht ein anderer Tod: der von Kultur und Sprache des Tornedalen.. Über Jahrhunderte gehörte das überwiegend von Finnen besiedelte Tal entlang des Flusses Torne älv zu Schweden. Doch im Jahr 1809 fiel das rechte Flussufer zusammen mit Finnland an Russland, eine Entscheidung des russischen Zaren nach dem russisch-schwedischen Krieg. Zurück blieb auf schwedischer Seite eine finnischsprechende Minderheit, isoliert von ihrer ursprünglichen Kultur.

Da die Wurzeln des aktuellen Verbrechens bis in das 19. Jahrhundert reichen, ergänzt Niemi seine Krimihandlung durch Exkurse in die Linguistik, in die Geschichte Schwedens, er stellt Überlegungen an, wie anders das Schicksal der Tornedaler verlaufen wäre, wenn der Zar einen anderen Fluss als Grenze bestimmt hätte. Wir sind auch Zeuge, wie am 2. November 1888 der schwedische König Oscar II. beschließt, dass in den Schulen künftig ausschließlich Schwedisch als Unterrichtssprache zugelassen ist – zur Stärkung der nationalen Identität.

Was folgt, ist das typische Schicksal einer Minderheitensprache in Europa. Die Entscheidungen auf Regierungsebene haben Konsequenzen bis in den Alltag, bis in die Psyche der Bewohner des Landes. Denn nun gibt es eine richtige und eine falsche Kultur. Die untergeordnete Minderheitenkultur wird von der Herrenkultur verfolgt und geächtet. Unterdrückung und Misshandlung sind die Folge – durch Lehrer, Beamte, Nachbarn. Die Minderheit passt sich an, ändert den finnischen Nachnamen in einen schwedischen, die Kinder lernen nicht die Muttersprache der Eltern, sondern Schwedisch, damit sie es später einmal besser haben, damit sie echte Schweden ohne Sprachbarriere werden können. Ein Riss tut sich auf zwischen den Generationen, der Sprache und Gebräuche umschließt. Eltern und Kinder können einander buchstäblich nicht mehr verstehen. Eine weitere Kluft entwickelt sich zwischen denen, die die alte Sprache erhalten wollen, und denen, die sie bekämpfen.

Verbindendes Wurzelwerk

Wie schon in »Populärmusik aus Vittula« interessiert sich Mikael Niemi für die Frage der kulturellen Identität, das Leben in zwei Kulturen und die Konsequenzen für den Einzelnen daraus. Schließlich stammt er selbst von dort, aus Pajala, und hat wie die meisten Tornedaler seiner Generation Finnisch erst im zweiten Bildungsweg erlernt. In der Kommissarin Therese und ihrem Hauptverdächtigen Esaias stehen sich die Vertreter unterschiedlicher Konzepte gegenüber: Großstadt und Land, Wurzellosigkeit und Verbundenheit, Moderne und Tradition. Niemi entwirft eine Vision, wie sich Gegensätze und Unterschiede verbinden lassen, ohne dass ein Element sich dem anderen unterordnen muss. Und mit der mysteriösen Figur des Petterson erschafft er den ersten freien Tornedaler, der für die schwedische Bürokratie nicht zu erfassen ist, der in den Wäldern des Nordens archaisch, animalisch und gefährlich wirkt, sich aber im Süden gewandt, elegant und verführerisch unter den Großstädtern zu bewegen weiß.

Der Mord an dem alten Mann, einem ehemaligen Zöllner und Lehrer, fungiert als roter Faden bis hin zu seiner überraschenden Aufklärung. Gleichzeitig stellt er die Verbindung her zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen den unterschiedlichen Sprachen, den Personen. Zusätzlich erlaubt dieser rote Faden Niemi, verschiedene Elemente mit der Krimihandlung zu verknüpfen: surreale Verlängerungen in den magischen Realismus, eine Liebesgeschichte, Rückblenden in das 19. Jahrhundert, Erläuterungen der Gebräuche des Tornedal, eine Sozialgeschichte der unterdrückten Minderheit. Auch eine typisch schwedische Kulturausprägung findet so einen Platz, denn der Auftakt der Krimihandlung erinnert stark an den typischen Mankell-Krimi: viel Blut und Innereien, ein Opfer, das sich bei genauerer Betrachtung als Ekel erweist, unter der glatten Oberfläche kaputte Familienstrukturen, pädophile Widerwärtigkeiten, Machtmissbrauch, Hass, Alkoholismus – so perfekt gesetzt, dass es schon wieder ironisch überzogen wirkt. Dieses komplexe Gebilde fasst Niemi in intensiven, sinnlichen Bildern, die Geräusche, Gerüche, Farben erlebbar machen. Wunderbar skurril, melancholisch, spannend, mit trockenem Witz und viel Liebe für das Tornedal.

Kirsten Reimers

Mikael Niemi: Der Mann, der starb wie ein Lachs
Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt
btb Verlag 2008
geb., 352 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-442-75198-3
auch erhältlich als eBook (hier klicken)
auch erhältlich als Hörbuch-Download (hier klicken)