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Rückblick

Die 10 besten Krimis des vergangenen Jahres

Die 10 Krimis rauszusuchen, die mich im vergangenen Jahr am meisten beeindruckt haben, war gar nicht sooo schwer (eher, es bei 10 zu belassen) – aber eine Hierarchie zu erstellen: Das war überhaupt nicht einfach.  Die folgende Reihenfolge ist also mehr der augenblickliche Stand. Morgen, ach was, in zwei, drei Stunden sieht das wahrscheinlich schon wieder anders aus. Und außerdem habe ich »Die Farm« von Max Annas und »The Drop« von Dennis Lehane noch nicht zu Ende gelesen – es könnte sich also auch noch etwas verschieben. Aber für den Augenblick sieht es so aus:

1. Liza Cody: Lady Bag (Ariadne/Argument)
2. James Lee Burke: Regengötter (Heyne Hardcore)
3. Jim Nisbet: Der Krake auf meinem Kopf  (Pulp Master)
4. Bruce Holbert: Einsame Tiere (Liebeskind)
5. Dominique Manotti: Ausbruch (Ariadne/Argument)
6. Daniel Woodrell: In Almas Augen (Liebeskind)
7. Anne Goldmann: Lichtschacht (Ariadne/Argument)
8. Nathan Larson: 2/14 (Diaphanes)
9. Malcolm Mackay: Der unvermeidliche Tod des Lewis Winter (Fischer)
10. David Peace: GB84 (Liebeskind)

»Die Wut« von Gene Kerrigan, »Absolute Zero Cool« von Declan Burke sowie  »Black Heat« von Mike Nicol stehen alle zusammen auf Platz 11. Vielleicht auch noch ein paar mehr. Wie gesagt: In zwei, drei Stunden würde meine Liste ganz anders aussehen. Und in vier Tagen sowieso.

Die Vergangenheit ist nicht vorbei

Neue Kriminalromane von Anne Goldmann, Sara Gran und Daniel Woodrell

Als sie das Fundament für einen Anbau aushebt, entdeckt die Justizbeamtin Regina in ihrem Garten ein Skelett. Zur Polizei gehen kann sie damit nicht, denn die Ermittlungen würden aufdecken, dass Regina Häuschen und Garten von der Tante eines Gefängnisinsassen überschrieben bekam – doch Kontakte zwischen Justizangestellten und Insassen sind untersagt. Außerdem möchte die verschlossene junge Frau vermeiden, dass in ihrer unschönen Vergangenheit herumgestöbert wird. Als Regina deshalb versucht, ihren Fund verschwinden zu lassen, macht sie sich erpressbar. Dies nutzt der inzwischen entlassene Neffe, dessen Bewährung bei Entdeckung des Skeletts hinfällig wäre. Und außerdem ist da noch der extrem eifersüchtige Kollege und Liebhaber Reginas.

Aus dieser Dreieckskonstellation erwächst in Anne Goldmanns Kriminalroman »Triangel« ein Drama, das kein gutes Ende nehmen kann. In knappen klaren Sätzen, distanziert und ohne viel Brimborium schildert die Autorin, wie der Zusammenstoß der drei unterschiedlichen Charaktere in den Abgrund führt. Hier sitzt jede Geste, jedes Wort: Aus der Fehleinschätzung der Situation oder einem missverstandenen Gesichtsausdruck erwächst die Katastrophe. Selbst die Nebenfiguren haben noch Geheimnisse, die das Geschehen vorantreiben. Leider fehlt Anne Goldmann am Ende der Mut, die Geschichte auf die bitterste Spitze zu treiben. So ist »Triangel« ein guter Krimi, der leider knapp daran vorbeischrappt, wirklich grandios zu sein.

Genial und durchgeknallt

Sehr viel konsequenter hingegen ist das Debüt von Sara Gran. Mit »Die Stadt der Toten« legt sie einen ganz hervorragenden Krimi vor: Die Privatdetektivin Claire de Witt wird beauftragt, das Verschwinden eines Mannes in New Orleans zu klären. Bis kurz vor dem großen Sturm, dem Hurrikan Katrina, hatte er noch gelebt, danach hat sein Neffe, Claires Auftraggeber, jeglichen Kontakt verloren. DeWitt ist nicht irgendeine Detektivin, sondern – wie sie gern darlegt – die beste der Welt. Und vermutlich auch die durchgeknallteste. Interessiert an jeder Droge, die man ihr reicht, jeder kreisenden Flasche zugetan, zieht sie neben dem fernöstlichen I Ging außerdem das Handbuch eines absonderlichen französischen Ermittlers zurate, hört aber ebenso auf ihre Träume und Visionen, die dank halluzinogener Drogen nicht zu selten sind.

Diese unwirsch-knurrige, gewaltbereite, beinharte und höchst misstrauische Detektivin hat bei aller Toughheit etwas zutiefst Schutzloses und Rührendes. Geschrieben mit großer Komik und knacktrockener Ironie ist »Die Stadt der Toten« von einer zerbrechlichen Zartheit, die einem bei allem beißenden Sarkasmus die Tränen in die Augen treibt. Zudem enthält das Buch, angesiedelt im nahezu völlig zerstörten New Orleans, so fürchterlich viel schmerzhafte Wahrheit, dass es ganz wunderbar ist.

In den Abgrund

Nach dem großen Erfolg von Daniel Woodrells »Winters Knochen« ist nun auch sein etwas älterer Roman »Der Tod von Sweet Mister« auf Deutsch erschienen. Er schildert das Ende einer Kindheit: In den Ozarks, einem strukturschwachen Hochplateau in der Mitte der USA, wächst Morris, genannt Shuggie, in Armut, Kleinkriminalität und Drogenmissbrauch auf. Der pummlige Junge wird von einer alkoholkranken Mutter verhätschelt, vom gewalttätigen Vater verachtet und von beiden ausgenutzt. Ein geborener Verlierer, ein unsicherer kleiner Kerl. Doch nach einer Gewalttat zeichnet sich die Chance ab, alles hinter sich zu lassen.

Woodrells Roman folgt der Struktur des klassischen Dramas: Auf die Hoffnung, das Geflecht von Gewalt, Kriminalität, sexueller Unterdrückung und Rauschmitteln abzustreifen und neu anzufangen, folgt die Katastrophe – denn dem Erbe der Väter ist nicht zu entkommen. Nicht ganz so kraftvoll wie »Winters Knochen«, ist »Der Tod von Sweet Mister« aber dennoch äußerst beeindruckend: Klare Sätze, wenig Schnörkel, keine offenen Gefühle – doch unter der lakonischen Oberfläche brodeln Enttäuschung und Hass.

Kirsten Reimers

Zum Bestellen bei eBook.de einfach auf den Titel klicken:

Anne Goldmann: Triangel
Ariadne/Argument Verlag 2012
Tb., 266 Seiten, 11 Euro
ISBN 978-3-86754-202-9
auch erhältlich als eBook (hier klicken)
auch erhältlich als Hörbuch (hier klicken)

Sara Gran: Die Stadt der Toten
(Claire deWitt and the City of the Dead, 2011)
Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné
Droemer 2012
Brosch., 361 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-426-22609-4
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Daniel Woodrell: Der Tod von Sweet Mister
(The Death of Sweet Mister, 2001)
Liebeskind 2012
geb., 191 Seiten, 16,90 Euro
ISBN 978-3-935890-95-3
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Diese Besprechung ist zuerst erschienen in der Frankfurter Neue Presse.


Intrigen, Bandenkriege und phantastische Morde

Von Noir bis Phantastik

Paris kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Zwar körperlich unversehrt zurückgekehrt, doch nachhaltig desillusioniert schlägt sich René Griffon recht gewitzt als Privatdetektiv durch. Bei seinem neuesten Fall scheint es sich zunächst um etwas eher Unspektakuläres zu handeln: Die Frau des Colonels Fantin de Larsaudière nimmt es mit der ehelichen Treue nicht so genau, und der gefeierte Kriegsheld wird deswegen erpresst. Doch Griffons Nachforschungen drohen einige ganz andere Dinge aufzudecken, die der Colonel lieber im Dunkeln gelassen hätte.

In schnoddrigem Ton schildert Didier Daeninckx in seinem Kriminalroman »Tod auf Bewährung« mit einer guten Portion Sarkasmus das Frankreich der Nachkriegszeit. Gleichzeitig rechnet er mit albernem Hurrapatriotismus ab, legt die Wunden offen, die der Krieg geschlagen hat – die offensichtlichen ebenso wie die verborgenen -, und zeigt die ungleiche Verteilung der Narben auf Arm und Reich auf. Ein ganz vorzüglicher, böser, rotziger Krimi von einem der bedeutendsten Vertretern des französischen Noir, der hierzulande noch viel zu unbekannt ist.

Bandenkrieg im berühmtesten Rotlichtviertel der Welt

Einer der wichtigsten Vertreter des deutschsprachigen Noir ist Frank Göhre. Dessen »Kiez-Trilogie« – die St.-Pauli-Romane »Der Schrei des Schmetterlings«, »Der Tod des Samurai« und »Der Tanz des Skorpions« – erscheinen nun gesammelt im Pendragon Verlag, ergänzt um ein aktuelles Nachwort des Autors, das Hintergründe und Materialen zur »Kiez-Trilogie« bietet. Göhre – preisgekrönter Roman- und Drehbuchautor – bindet Fiktion in Fakten ein und orientiert sich am Kiez-Auftragskiller Werner »Mucki« Pinzner, dem Bandenkrieg und dem Hamburger Polizeiskandal der achtziger Jahre. Präzise, lebensnah und ohne Weichspüleranteile zeichnet Göhre das Rotlichtmilieu der Reeperbahn und die Verflechtungen von Politik, Polizei und organisierter Kriminalität.

Tödliche Abgründe

Weitgehend fiktional ist der neue Krimi von Håkan Nesser: Ein rund sechzigjähriger Mann liegt tot am Grund der sogenannten Gänseschlucht. Vor genau 35 Jahren stürzte seine damalige Lebensgefährtin an exakt derselben Stelle in den Tod. Damals sprach das meiste für einen Unfall. Auch der Todesfall heute lässt nicht zwingend darauf schließen, dass noch jemand Drittes darin verwickelt ist. Ein Selbstmord? Um nach mehr als dreißig Jahren mit der Geliebten vereint zu sein? Oder steckt doch mehr dahinter? Denn es gibt ein paar Hinweise, die sich nicht so ganz ins Bild passen.

Inspektor Gunnar Barbarotti und seine Kollegin Eva Backman kommen bei den Ermittlungen nur langsam voran, denn die Anhaltspunkte sind spärlich und Zeugen gibt es keine. Parallel dazu werden die Ereignisse vor 35 Jahren aufgerollt. Als Leser nähert man sich so auf zwei Ebenen dem Freundeskreis, dem die beiden Toten angehörten: drei Männer und drei Frauen, über Jahre verbunden, getrennt durch Geheimnisse, einsam bei aller Gemeinsamkeit. Håkan Nessers Kriminalroman »Die Einsamen« besticht durch seine ruhige Erzählweise und einen genauen Blick auf die Figuren und ihre inneren Abgründe.

Geliebt, verkauft, vergessen

Teilweise in die Vergangenheit führt auch der neue Roman von Kate Atkinson: »Das vergessene Kind«. Die pensionierte Polizistin Tracy Waterhouse kauft in einem Moment der Geistesabwesenheit einer Prostituierten ein Kleinkind ab. Prompt steht sie nicht nur auf der anderen Seite des Gesetzes, sondern wird auch von unterschiedlichsten Parteien verfolgt. Zudem wird ein alter Mordfall wieder aufgerollt, zu dem Tracy am Anfang ihrer Polizeilaufbahn gerufen wurde. Auch damals spielte ein Kleinkind eine gewichtige Rolle. Parallel dazu sucht Expolizist Jackson Brodie im Auftrag einer Klientin nach deren leiblichen Eltern.

Kate Atkinson spielt mit den unterschiedlichsten Aspekten der Liebe zu Kindern, die sie gekonnt in die verschiedenen Erzählstränge einbindet. Diese Stränge berühren einander, verknoten sich, lösen sich wieder und krachen am Ende furios und unaufhaltsam aufeinander. Um einen Krimi handelt es sich dabei eher am Rande, vielmehr verflechten sich Handlungen und Ereignisse zu einem dichten Gewebe, in dem nichts wirklich zufällig geschieht und doch nichts so verläuft wie geplant. Atkinson gelingt dies mit großer Souveränität und einem sehr entspannten schwarzen Humor, der gefangen nimmt.

Fliegenpilz als Lebensmittelpunkt

Eine unterirdische Verbrecherrepublik, ein verborgener Wald, eine bislang unbekannte Varietät der Dahurischen Lärche, große Mengen an Fliegenpilzen, ein haiartiges Schwimmbad – willkommen in der Welt des Heinrich Steinfest. Die Handlung seines neuen Kriminalromans »Die Haischwimmerin« hüpft und springt ausgelassen, macht Ausfallschritte, kümmert sich nicht um Leseerwartungen, kippt manchmal kurz ins Klamaukige – und fasziniert ebenso mit Einfallsreichtum und grandiosen Volten, wie Steinfests Sprache mit Manierismen nervt, begeistert und punktgenau trifft.

Spielerisch und bei aller Phantastik stabil bodenständig erzählt der baden-württembergische Österreicher dieses Mal überraschend gradlinig und webt wie gewohnt ein dichtes Netz an Bezügen zu TV-Serien, Filmen, Comics, Literatur. Sehr eigen und sehr empfehlenswert!

Kirsten Reimers

Zum Bestellen bei eBook.de einfach auf den Titel klicken:

Didier Daeninckx: Tod auf Bewährung
Aus dem Französischen von Stefan Linster
Liebeskind 2011
geb., 271 Seiten, 18,90 Euro
ISBN 978-3-935890-83-0

Frank Göhre: Die Kiez-Trilogie
Pendragon 2011
Tb., 732 Seiten, 16,95 Euro
ISBN 978-3-86532-259-3

Håkan Nesser: Die Einsamen
Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt
btb 2011
geb., 605 Seiten, 19,99 Euro
ISBN 978-3-442-75313-0
auch erhältlich als eBook (hier klicken)
auch erhältlich als Hörbuch-Download (hier klicken)

Kate Atkinson: Das vergessene Kind
Aus dem Englischen von Anette Grube
Knaur 2011
geb., 464 Seiten, 19,99 Euro
ISBN 978-3-426-19910-7
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Heinrich Steinfest: Die Haischwimmerin
Piper 2011
geb., 351 Seiten, 19,99 Euro
ISBN 978-3-492-05407-2
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Diese Besprechung ist erstmals erschienen
in der Frankfurter Neuen Presse.


Tod einer Hausfrau

Für die »Polente Bremen« auf der Spur des Verbrechens

Dank wohlmeinender Verwandte (»Du liest doch so gern Krimis, da dachten wir, das gefällt dir bestimmt …«) war ich im Besitz eines Gutscheins für den Straßenkrimi in Bremen. Ein Mitmachkrimi. Danke. Auf der Homepage des Veranstalters hatte ich die Wahl zwischen zwei Fällen in der Bremer Innenstadt: »Tod einer Hausfrau« und »Der Baulöwe hat ausgebrüllt«. Ich wählte ersteres. Wenige Tage später ging es los.

Gedanklich stellte ich mich ein auf einen Nachmittag mit Menschen in Polyesterhosen und gesunden Schuhen jenseits des 68. Lebensjahres, die einander als »flott angezogen« bezeichneten. Wahrscheinlich bevorzugten sie humorlose skandinavische Grübler oder Commissarios in Postkartenkulisse. Und mit denen würde ich dann die touristischen Highlights von Bremen abklappern und dabei einen »Fall« »lösen«, der total einfach zu durchschauen ist. (Sorry, manchmal sind meine Vorurteile schneller als ich.)

Soko »Schlafmütze« meldet sich zum Dienst

Schließlich ist es so weit: ein wunderbar sonniger Sonntagnachmittag. Die erste Überraschung erwartet mich, als ich um die Ecke zum Sammelplatz biege – stilecht kurz neben einer Polizeiwache und ganz in der Nähe der Staatsanwaltschaft: Ich bin die Älteste! Alle anderen sind Ende zwanzig, knapp Anfang dreißig. Niemand trägt Polyesterhosen (ich auch nicht).

Heiko Sakel, Geschäftsführer der Agentur für Kriminalspiele, die die Straßenkrimis in Bremen, Oldenburg, Hannover und Nürnberg organisiert, berichtet später im Interview, das Gros der Teilnehmer sei zwischen 25 und 50. Und eher Frauen als Männer. Aber richtig statistisch erfasst sei das nicht, es sind eher Schätzwerte. Meine Erfahrungen dieses Nachmittags bestätigen dies: Wir sind zu sechst, vier Frauen, zwei Männer, und alle im Alter zwischen 28 und 42.

Soko »Schlafmütze«, so nennen wir uns an jenem Sonntagnachmittag (Fragen Sie nicht …). Bevor es losgeht, führt uns unser »Vorgesetzter« in den Fall ein: Eine 24-jährige Hausfrau wurde erschlagen in einer dunklen Gasse Bremens aufgefunden. Im Anschluss erhalten wir eine Tasche mit Ermittlungsunterlagen und Equipment: Obduktionsbericht, Protokolle von Zeugenaussagen, ein detaillierter Stadtplan, Handschellen und ein Handy. Dazu Dienstausweise und Visitenkarten. Und die ausdrückliche Instruktion, über jeden unserer Schritte telefonisch Bericht zu erstatten. Verhaften dürfen wir nur jemanden, wenn wir vorher bei unserem Chef angerufen haben und der via Staatsanwaltschaft beim Richter einen Haftbefehl beantragt hat.

Die Unterlagen sind wirklich liebevoll und mit Blick fürs Detail ausgearbeitet, der korrekte Dienstweg wird eingehalten, und auf unseren Ausweisen steht »Polente Bremen«.

Falsche Fährten, unzuverlässige Zeugen – so richtig einfach ist das nicht

Dann geht’s los. Zum Glück kommt noch jemand auf die Idee, nach der Telefonnummer des Ehemanns des Opfers zu fragen, sonst hätten wir überhaupt nicht gewusst, was wir nun anstellen sollen. Das ist die zweite Überraschung: So richtig einfach ist das nicht, und wirklich viel wird uns zunächst nicht an die Hand gegeben. Wir müssen selbst überlegen, wie wir vorgehen. So laufen wir aufgeregt kichernd und spekulierend durch Bremen, befragen Zeugen, mit denen wir vorher telefonisch Treffpunkte ausgemacht haben und versuchen, Licht ins Dunkel zu bringen.

Doch das gelingt uns nur mäßig erfolgreich, denn es gibt falsche Fährten, die Zeugen erzählen eine Menge, wenn man sie eine Menge fragt, und manchmal lügen sie auch. Am Ende haben wir zwei Verdächtige und können uns nicht entscheiden.

Kommt das oft vor, dass Ermittler nicht weiter wissen, will ich im Interview wissen. Sakel gibt sich bedeckt, vielleicht um die Soko »Schlafmütze« nicht zu kompromittieren. Es komme durchaus mitunter vor. Und was geschieht dann? Gibt es Möglichkeiten, den Ermittlern auf die Sprünge zu helfen? Die gibt es durchaus: Schließlich berichten das Ermittlerteam ja immer per Handy vom Stand der Dinge. Auch die Zeugen stehen mit den Organisatoren telefonisch in Kontakt und werden dann im Notfall angewiesen, den Ermittlern zügig die notwendigsten Informationen mitzuteilen oder – falls die Ermittler zu fix sind – sie etwas hinzuhalten. Und wenn die Ermittler gar nicht wissen, was sie tun sollen? »Es gibt natürlich ein paar Tricks, wie man unterstützend tätig werden kann«, erklärt Sakel, ohne sich in die Karten schauen zu lassen.

Wenn die Fiktion zu echt wirkt

Im Fall der Soko »Schlafmütze« funktioniert es: Wir nehmen am Ende eine Verhaftung vor – und offenbar sogar die richtige. Das geht bei uns halbwegs glimpflich ab. Manche Teams haben da schon ganz andere Erfahrungen gemacht, berichtet Heiko Sakel: »Zweimal haben wir einen Polizeieinsatz ausgelöst. Einmal kamen zwei Beamte, einmal sogar acht. Die Verhaftungen haben so echt gewirkt, dass Passanten dachten, sie rufen lieber mal die Polizei.« Einmal ist sogar eine unbeteiligte Passantin auf einen Zeugen mit dem Regenschirm losgegangen, erzählt Sakel: »Beim Fall ›Der Baulöwe hat ausgebrüllt‹ wird ein Zeuge an einer Stelle etwas lauter. Der Darsteller war in seiner Rolle sehr überzeugend, und offenbar hat die Passantin gedacht, da muss sie eingreifen. Das ist ja eigentlich ein Glück, dass Menschen sich in solchen Fällen einsetzen und einmischen.«

Auch an diesem Sonntag sind die Darsteller wirklich sehr engagiert und überzeugend. Rollenadäquat beantworten sie auch die merkwürdigste Frage der Ermittler und fallen kein einziges Mal aus dem Spiel heraus, während wir Kommissare mitunter vor Kichern kaum weiterkommen. Pro Fall sind sechs bis sieben Darsteller dabei, die wenigsten von ihnen haben Schauspielerfahrung, die meisten sind über Kleinanzeigen dazugekommen oder haben eine Tour als Ermittler mitgemacht und sind dann als Zeugen dabeigeblieben. Fehlende berufliche Professionalität machen sie mit großer Spielfreude wett.

Abseits der Sehenswürdigkeiten an den Vorurteilen vorbei

Und die Fälle? Woher kommen die? »Das sind alles eigene Stücke«, sagt Heiko Sakel – ursprünglich Diplom-Kaufmann mit Studium der Tourismuswirtschaft. »Zwei habe ich geschrieben, und eins, der ›Tod einer Hausfrau‹, ist von einer Darstellerkollegin.« Neue Fälle werden zunächst in Oldenburg angeboten: »Da ist meine Homebase sozusagen und damit auch die Teststrecke«, erklärt Sakel. Zunächst wird anhand der Praxiserfahrung noch nachgebessert, denn »man kann gar nicht auf alles vorbereitet sein, was passieren kann, das hat eh alles viel mit Improvisation zu tun«. Und wenn’s gut läuft, gehen die Fälle auch an andere Städte. So zum Beispiel »Der Fall Chagall«, den es bislang nur in Oldenburg gibt, der soll im Laufe dieses Jahres auch in Bremen, Hannover und Nürnberg angeboten werden. Warum eigentlich dieser Schlenker in den Süden? »Nürnberg hat zwei Gründe«, erläutert Sakel: »Zum einen habe ich da ein paar Jahre gewohnt, dadurch kenne ich die Stadt ein bisschen. Und zum anderen lebt meine Schwester da und betreut das Ganze vor Ort.«

Dieses Vorgehen erklärt etwas, das mir erst nach Aufklärung des »Todes einer Hausfrau« auffällt: In den drei Stunden, die wir unterwegs waren, haben wir keine einzige Sehenswürdigkeit zu Gesicht bekommen. »Es gibt in Bremen auch Routen, die durchaus durch die Touristenviertel führen, durchs Schnoorviertel zum Beispiel oder durchs Ostertorviertel«, erklärt Sakel, aber die Fälle sind so aufgebaut, dass sie auch auf anderen Routen funktionieren – »falls in der Innenstadt etwas los ist: Christopher Street Day, der Umzug der Kulturen oder die Chaostage in Hannover« -, damit man ausweichen kann und die Fälle sich auch in andere Städten übertragen lassen.

Seit 2006 bietet Sakel die Straßenkrimis in Oldenburg an, seit 2007 in Bremen. Aus der Anfangszeit stammt noch die Bezeichnung als »Agentur für Kriminalspiele«. So ganz stimmt der Titel im Moment nicht, denn »wir bieten ja keine fremden Produkte an, sondern nur unsere eigenen«. Für die Zukunft sind weitere Sachen angedacht, nicht nur neue Fälle, aber Sakel hält sich bedeckt, wenn es um Einzelheiten geht: »Das ist alles noch nicht spruchreif.«

Meine Vorurteile sind an diesem Tag samt und sonders nicht bedient worden – stattdessen war es ein unerwartet vergnüglicher Nachmittag mit einem gut durchdachten und in der Tat nicht leicht zu durchschauenden Fall und wirklich überzeugenden Darstellern.

Kirsten Reimers

www.strassenkrimi.de