Archiv für den Monat: Juni 2012

Unter Geisterjägern

Ein Mysterium! Ermordet liegt der Parapsychologe Gabriel Rosenfeld in einem von innen verschlossenen Raum im Institut für Grenzwissenschaften. Das Herz wurde ihm heraus- geschnitten – doch das war nicht die Todesursache. Was zunächst wie ein höchst klassischer Krimiplot scheint, entpuppt sich als etwas ganz anders: Statt wie ein Locked- Room-Mystery ein logisches und rationales Krimirätsel zu bieten, bekommt die Story einen gehörigen Drall ins Paranormale.

Christine Lehmann spielt mit allerlei aktuellen Trends der Literatur- und Filmindustrie: Vampire, Nachzehrer, Voodoo, Spuk, Hellseherei, Psi-Phänomene, Telekinese und und und. Über allem droht der all- mächtige Mentalterrorist, der allein durch seine Geisteskraft Erdbeben hervorruft, Flugzeuge abstürzen lässt und verstörende Tweets via Twitter versendet. Mittendrin Schwabenreporterin Lisa Nerz, die zu ihrem Erstaunen auch über Psi-Kräfte verfügt. – Oder?

Wie schon in »Malefizkrott« greift Lehmann aktuelle Ereignisse und Strömungen in Gesellschaft wie Medien auf und verzwirbelt sie in gestochen scharfer Sprache und zwingender Logik zu einem klugen Krimiplot. Da bleiben auch der Seitenhieb auf die Rätselralley à la Dan Brown und das Geheimnis um den schwingenden Kronenleuchter in Schloss Neuschwanenstein nicht außen vor. Leicht ins Surreale übersteigert, bleibt Lehmann dennoch bodenständig und zeigt unter anderem die Manipulierbarkeit der Medien und deren Manipulationen, wenn es um den nächsten heißen Scoop geht.

Das Einflechten von Weltereignissen und Aufregern ist wunderbar gemacht, aber es hat – nachdem es bereits in »Malefizkrott« das zugrundeliegende Konzept war – dieses Mal ein bisschen was von dem Abgehen bestimmter Themenpunkte: Während des Lesens läuft im Hinterkopf eine Liste mit, auf der die einzelnen Punkte nach und nach abgehakt werden. Nichtsdestotrotz ist der Roman faszinierend, fesselnd und sinnlich, denn Christine Lehmann schafft es wie keine Zweite, dass man beim Lesen mit Lisa Nerz in das merkwürdige Denksystem der Parapsychologie eintaucht und gleichzeitig das Konzept von außen kritisch hinterfragt. Und nicht einmal der Katzencontent kommt dabei zu kurz.

Kirsten Reimers

Zum Bestellen bei eBook.de einfach auf den Titel klicken:

Christine Lehmann: Totensteige
Ariadne/Argument Verlag 2012
Tb., 537 Seiten, 12,90 Euro
ISBN 978-3-86754-189-3
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

 Diese Rezension ist zuerst erschienen im CrimeMag


Auf der Jagd nach dem Mentalterroristen

Drei Kriminalromane zwischen Okkultismus, Versicherungsbetrug und Gesellschaftsanalyse

Ermordet, das Herz herausgeschnitten, liegt Parapsychologe Gabriel Rosenfeld in einem von innen verschlossenen Raum. Was zunächst wie ein höchst klassischer Krimiplot – ein Locked-Room-Mystery – scheinen mag, entpuppt sich sehr bald als Spiel mit aktuellen Trends der Unterhaltungsindustrie: Vampire, Nachzehrer, Voodoo, Spuk, Hellseherei, Psi-Phänomene, Telekinese und und und. Mittendrin Christine Lehmanns ruppig-schillernde Schwabenreporterin Lisa Nerz, die mit ihren eigenen Psi-Kräften hadert.

Wie schon im Krimi »Malefizkrott« greift Lehmann aktuelle Ereignisse und Strömungen in Gesellschaft wie Medien auf und verzwirbelt sie in gestochen scharfer Sprache zu einem klugen Krimiplot. Leicht ins Surreale übersteigert, bleibt Lehmann dennoch bodenständig und zeigt unter anderem die Manipulierbarkeit der Medien und deren Manipulationen, wenn es um den nächsten heißen Scoop geht. Doch wirklich faszinierend und erstaunlich ist, wie man als Leser mit Lisa Nerz in das merkwürdige Denksystems der Parapsychologie eintaucht und gleichzeitig das Konzept von außen kritisch beäugt. Das schafft wohl nur Christine Lehmann. Und nicht einmal der Katzencontent kommt dabei zu kurz.

Antworten aus dem Jenseits

Okkultismus und die Beeinflussbarkeit der Medien sowie deren kreativer Umgang mit Fakten und Fiktionen spielen auch im neuen Kriminalroman von Carol O’Connell eine Rolle: »Tödliche Geschenke« lautet sein Titel. Vor zwanzig Jahren verschwand Josh, damals gerade mal 14 – heute kehrt er Stück für Stück, Knochen für Knochen (so auch der Originaltitel) zurück. Dadurch brechen alte Wunden wieder auf, und neue kommen hinzu.

Wirklich viel passiert nicht in Carol O’Connells neuem Krimi – doch das Wenige ist dafür umso intensiver. Niemand in diesem Buch sagt zunächst die ganze Wahrheit, jeder hält ein Stück zurück, manche lügen ganz bewusst. Nichts und niemand ist, wie er im ersten Moment scheint. Als Leser weiß man lange Zeit nicht, wem und ob man überhaupt einer dieser seltsam-verschrobenen Figuren im Städtchen Coventry im Norden Kaliforniens glauben soll – oder den Fernsehberichten, die durch geschickten Schnitt Tatsachen verdrehen, oder den Antworten des Ouijabretts, des Hexenbretts, mit dem Touristen und  Einwohner seit Jahren mit dem Geist des jungen Josh Kontakt aufnehmen. »Tödliche Geschenke« ist ein eher zurückhaltender Kriminalroman von warmherzigem und intelligentem Charme.

Antworten aus dem Feuer

Ganz irdisch hingegen ist »Die Sprache des Feuers« von Don Winslow. Dank der großen Erfolge von Winslows »Tage der Toten« und »Zeit des Zorns« liegt nun endlich auch dieser Roman erstmals auf Deutsch vor, obwohl er bereits 1999 im Original erschienen ist. Schon da zeigt sich Winslows kreatives Desinteresse an einschränkenden Formkonventionen.

Präzise und detailgenau schildert er die Arbeit des Brandermittlers Jack Wade, der für die Versicherungsgesellschaft California Fire & Life tätig ist. Bei dem Brand in einem schmucken Bungalow, bei dem es eine Tote gibt, scheint es sich zunächst um einen tragischen Unfall zu handeln. Doch je genauer Jack hinschaut – und als Schadensregulierer der Versicherung ist genau dies sein Job –, um so deutlicher wird, dass es sich um Brandstiftung und Mord handelt. Aber beweisen kann er es nicht, und so entspinnt sich ein gnadenloses Duell zwischen Ermittler und Brandstifter – und eine scharfsichtige Analyse der US-amerikanischen Gesellschaft, von Gier und Korruption.

Kirsten Reimers

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Christine Lehmann: Totensteige
Ariadne/Argument Verlag 2012
Tb., 537 Seiten, 12,90 Euro
ISBN 978-3-86754-189-3
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Carol O’Connell: Tödliche Geschenke
Bone by Bone, 2008)
Aus dem Amerikanischen von Renate Orth-Guttmann
btb 2012
Tb., 414 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-442-75341-3
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Don Winslow: Die Sprache des Feuers
(California Fire & Life, 1999)
Aus dem Amerikanischen von Christ Hirte
Suhrkamp 2012
Tb., 419 Seiten, 9,99 Euro
ISBN: 978-3-518-46350-5
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 Diese Besprechung ist zuerst erschienen in der Frankfurter Neue Presse.


Das Ende von allem

Lizzie und Evie sind die besten Freundinnen. Beide sind 13 Jahre alt, gehen in die gleiche Klasse, wohnen nebeneinander und teilen alles miteinander. Die Freundschaft ist so tief, dass Lizzie Evies Schmerzen fühlen kann. Und umgekehrt. Zwischen ihnen gibt es keine Lügen, keine Geheimnisse. Zumindest dachte Lizzie das. Bis Evie eines Tages verschwindet. Nun muss Lizzie sich eingestehen, dass ihre Freundschaft sich längst verändert hatte.

„Das Ende der Unschuld“ erzählt – konsequent aus Lizzies Sicht in Ich-Form – von Desillusionierungen und Verlusten, letztlich vom Erwachsenwerden. Zwar kehrt Evie nach einer Weile zurück, doch mit ihrem Verschwinden hat sich alles verändert: die Freundschaft der Mädchen und vor allem die Mädchen selbst. Denn die Erfahrungen, die beide in der Zwischenzeit gemacht haben, die Einblicke in das Leben hinter Fassaden und Masken, haben deutliche Spuren hinterlassen. Lizzie begreift, dass Liebe nichts mit ihren romantisch-verklärten Kleinmädchenträumen zu tun hat, sondern sehr komplex und schmerzhaft sein kann. Und dass die Dinge oft nicht so sind, wie sie scheinen – oder wie Lizzie sie haben möchte. Denn sie muss erkennen, dass sie ihre Erinnerungen zurechtgebogen und verfälscht hat – ähnlich, wie sie Beweise von Evies Entführung manipuliert hat.

So naiv Lizzies Weltsicht zunächst sein mag – der Roman selbst ist alles andere als romantisch-verklärend. Abbott gelingt es, die Dissonanz zwischen Lizzies Wahrnehmung und dem tatsächlichen Geschehen unangestrengt und glaubwürdig spürbar zu machen – und die gute Übersetzung von Isabel Bogdan bewahrt dies in der deutschen Ausgabe. Abbott wirft einen feinfühligen, aber nüchtern-unverstellten Blick auf das Verhältnis von Töchtern und Vätern, auf die Sehnsüchte und Fixierungen junger Mädchen und erwachsener Männer. Das Ergebnis ist ein ebenso sensibler wie verstörender und beunruhigender Coming-of-Age-Roman.

Kirsten Reimers

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Megan Abbott: Das Ende der Unschuld
(The End of Everything, 2011)
Aus dem Amerikanischen von Isabel Bogdan
KiWi 2012
geb., 287 Seiten, 17,99 Euro
ISBN 978-3-462-04390-7
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Diese Rezension ist zuerst erschienen im CrimeMag