Archiv für den Monat: September 2012

Gefühliger Psychoquark

Schockstarre in Shipcott, einem kleinen Dörfchen in der englischen Grafschaft Somerset: Ein brutaler Mörder geht um. Er hat sich auf hilflose Personen spezialisiert, die er zunehmend bestialischer abschlachtet, und hinterlässt hämische Botschaften. Und das Schrecklichste: Es muss einer aus dem Örtchen sein – »Einer von uns!!« –, denn Shipcott ist wegen starken Schneefalls von der Außenwelt abgeschnitten.

Klingt wie aus dem Setzkasten für Whodunits mit Serienkilleranteilen, nicht wahr? Aber nicht nur der Plot ist abgedroschen (natürlich ist die unverdächtigste Person der Mörder), auch die Figurenkonstellationen wirken wie von der Stange: Da ist zum Beispiel der herzensgute, hilfsbereite und verantwortungsbewusste Dorfpolizist – natürlich intelligent und clever, dazu ein hingebungsvoller Ehemann, der seine vielversprechende Karriere bei einer Eliteeinheit der Polizei geopfert hat, um seine totkranke Frau zu pflegen –, und ausgerechnet dieser grundgute Mensch wird von den arroganten Stadtcops (die gerade noch rechtzeitig vor dem großen Schnee eingetroffen sind) unterschätzt und ganz, ganz gemein schikaniert. Dorf vs. Stadt, gewissenhaft vs. karrieregeil, liebevoll vs. selbstbezogen. Ganz fürchterlich ist, dass der Dorfpolizist lieber auf seine Gefühle hört, statt auf Verstand zu setzen: Er schließt Verdächtige aus, weil er einfach spürt, dass sie es nicht waren. So sieht verantwortungsvolle Polizeiarbeit aus.

Zwei der Stadtcops sind allerdings gut gelungen: DCI Marvel ist ein überhebliches, versoffenes Arschloch, das die Taten auf Biegen und Brechen dem erstbesten Verdächtigen anhängen will; und sein DS ist ein hinterhältiger Kriecher, der Beweise gegen seinen Chef sammelt, um dessen Posten zu ergattern. Schön ist, dass die Charakterisierung nicht durch Zuschreibungen erfolgt, sondern darüber, wie andere auf die Figuren reagieren und wie die Figuren sich selbst und ihre Mitwelt sehen. Dank konsequent durchgehaltener Perspektivwechsel setzt sich so erst nach und nach ein vollständiges Bild der Personen zusammen, die zugleich als unzuverlässige Beobachter entlarvt werden.

Doch diese netten beiden Unsympathen können leider nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Rest großer Mist ist: belanglos, hanebüchen, überkonstruiert und mit dem üblichen Zutaten Kindesmissbrauch und unverdaute Traumata zu einem albernen Psychoquark vermengt.

Kirsten Reimers

Belinda Bauer: Der Beschützer
(Darkside, 2011)
Aus dem Englischen von Marie-Luise Bezzenberger
Manhattan 2012
brosch., 383 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-442-54701-2
auch erhältlich als eBook (hier klicken)
auch erhältlich als Hörbuch-Download (hier klicken)

Diese Besprechung ist zuerst erschienen im CrimeMag