Archiv für den Monat: Januar 2009

»Gute Kriminalliteratur hat zu schmutzen, zu ätzen, zu spotten und zu speien«

Aufsätze, Artikel, Vorträge zur Kriminalliteratur aus fünfzehn Jahren

»Kriminalliteratur ist die Literatur, die – weltweit gesehen – am meisten gelesen wird«, stellt Thomas Wörtche gleich zu Beginn seines Buches »Das Mörderische neben dem Leben« fest. Trotzdem gehört Kriminalliteratur zu der Literatur, die am wenigsten ernst genommen wird – als Literatur. Die Literaturwissenschaft begegnet dem Krimi bis heute mit Skepsis; immer wieder sind Krimibesprechungen aus diesem Lager wirklich amüsant: Mit Erstaunen wird dort ein ums andere Mal konstatiert, dass das tatsächlich Geschriebene ganz anders ist als die Theorie! Jeder Krimi ein Regelbruch! Das überfordert die Literaturwissenschaft, für die der Krimi in all seinen Subformen zumeist etwas Starres zu sein hat. Außerdem gibt es natürlich noch die Kritikerschar, die sich an eine breite Leserschaft wendet. Sie ist zumeist etwas flexibler und geht mehr vom gerade gelesenen Buch als von theoretischen Über- oder Unterbauten aus. Aber auch in diesen Kreisen ist der Umgang mit Kriminalliteratur eher nebensächlich. Krimis werden meist nur danach beurteilt, ob sie unterhaltsam und spannend sind. Wie schade! Da steckt doch sehr viel mehr drin.

Gewalt und Verbrechen als soziale Interaktion

Zum Glück gibt es Thomas Wörtche, der – belesen, scharfsichtig, eloquent – sich schon seit Jahren, Jahrzehnten mit Kriminalliteratur als Literatur beschäftigt – nicht nur, aber auch und viel. »Das Mörderische neben dem Leben« vereint erstmals veröffentlichte wie unveröffentlichte Aufsätze, Artikel, Vorträge aus rund fünfzehn Jahren, dazu kommen Texte, die extra für dieses Buch verfasst wurden.

Thomas Wörtche geht nicht davon aus, definieren zu können, was ein Krimi ist und worin der Unterschied zum Nicht-Krimi liegt: »Die Kriminalliteratur ist, genauer betrachtet, keine Form. Sie ist nicht die ›eine Form‹. Das ist ein Missverständnis.« Dadurch bleibt er offen für die unterschiedlichsten Spielformen, für Entwicklungen und Untertöne. Es geht in den Beiträgen zum Beispiel um den oft unterschätzen Eric Ambler, um den kategoriensprengenden George Simenon, um Chester Himes, seine unterschiedlichen Schreibrichtungen sowie deren Wahrnehmung, um Patricia Highmiths Mr. Ripley. Es gibt Überlegungen zum Verhältnis des Mörderischen zum Komischen – nicht zu verwechseln mit dem Humorigen -, zur Universalität das Konzeptes Krimi, das weltweit relativ problemlos verstanden wird, zum Unterschied von Krimi und Kriminalliteratur, zu den Beziehungen von Kriminalliteratur und Science Fiction, zum Zusammenhang von Gewalt und Musik. Außerdem gibt es einen Text zur Entstehung und Konzeption der Reihe metro im Unionsverlag, deren Herausgeber Thomas Wörtche bis 2007 war, TWs seltsame Rankings und einen Beitrag zu der verstörenden Ästhetik des argentinischen Zeichners Alberto Breccio.

Der Kriminalroman als Verständigung über Gesellschaft

Wörtches zugrunde liegende Überzeugung ist, dass die überall präsente, überall erfahrbare Gewalt – und sei es nur in ihrer medialen Vermittlung – ihren Widerhall im Kriminalroman findet. Gewalt und Verbrechen sind die Generalthemen der Kriminalliteratur – und zwar als soziale Interaktion zwischen Menschen. Auf diese Weise ist Kriminalliteratur ein Mittel zur Gesellschaftsanalyse und zur Kommunikation über Gesellschaft. Damit dient der Krimi auch zur Einübung eines nicht-naiven Denkens: »[…] weil für den Umgang mit der Welt, in der wir leben, das Bewusstsein dafür nicht ganz unerheblich ist, dass Gewalt und Verbrechen konstitutiver Bestandteil menschlichen Zusammenlebens sind.«

Kriminalliteratur verdoppelt nicht einfach Realitäten, indem sie versucht, möglichst einfach abzubilden; Kriminalliteratur versucht vielmehr, möglichst viele Dimensionen und Facetten von Realität zu artikulieren. […]
Die besten Kriminalromane sind nach all dem Gesagten vermutlich die, die auf der Basis einer penibel genauen Wirklichkeitsbeobachtung die Realität poetisch zum Leuchten bringen.

Das Mitdenken von Gesellschaft bewahrt Wörtche vor Dogmatik. Und ermöglicht – neben der Freude an den intelligenten Beiträgen – das Beste dieses Buches: Die Aufsätze, Artikel, Vorträge regen zum Nachdenken, zum Hinterhergrübeln, zum begeisterten Zustimmen (Endlich sagt das mal jemand!) und zum Widersprechen an. Sie sind Reibungsflächen. Das schärft die eigene Wahrnehmung und lädt ein, die eigenen Kategorien und Wertmaßstäbe mal wieder durchzumustern, auszuschütteln, neu zu sortieren. Allein störend ist die Abwesenheit von Frauen als Autorinnen von Kriminalliteratur. Zwar werden Liza Cody oder Pieke Biermann am Rande erwähnt, Sara Paretsky kaum gestreift, natürlich auch Highsmith genannt (eher ambivalent) – aber es gibt doch deutlich mehr Frauen, die gute Kriminalromane schreiben, in denen Realität und Gesellschaft eine Rolle spielen. Ein blinder Fleck? Auf jeden Fall ein Katalysator zum Darüber-hinaus-Denken.

Kirsten Reimers

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Thomas Wörtche: Das Mörderische neben dem Leben
Libelle Verlag 2008, 203 Seiten, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-905707-21-2

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Gemetzel mit Mission?

Leichenteile und Blutlachen mit unklarem Auftrag

Der Rezensent eines großen Magazins war schwer beeindruckt von diesem Thriller. Er lobte das Wagnis Slaughters, entfernt vom Mainstream mutig facettenreiche Personen in fesselnder, ungewöhnlicher Handlung agieren zu lassen. Große Worte. Hatte ich bei meiner bisherigen Lektüre von Büchern dieser Autorin etwas übersehen? Bislang hatte ich zwei Thriller von Slaughter gelesen und sie unnötig grausam sowie ziemlich selbstgerecht gefunden. Doch vielleicht war dieser Thriller wirklich anders. Immerhin gehört er nicht zu Slaughters »Grand-County«-Serie. Also: Wer weiß, vielleicht hatte sie diesmal tatsächlich andere Töne angeschlagen.

Die ersten Seiten ließen mich schlucken: Es beginnt heftig. Eine Prostituierte wird ermordet im Hausflur vor ihrer Wohnung gefunden – brutal zusammengeschlagen, in grotesker Haltung zurückgelassen. Die Zunge wurde ihr herausgebissen (!), daran ist sie wohl verblutet. Das Körperteil liegt in einer Blutlache neben der Toten. Der Detailreichtum ist beeindruckend, die Wortwahl drastisch. Die Handlung wird geschildert aus Sicht des Detectives, der zum Tatort gerufen wird. Schon mal ein grausiger Auftakt. Nach rund 70 Seiten endet dieser erste Teil mit einem Paukenschlag, der das bisher erzählte in einem anderen Licht erscheinen lässt.

Der nächste Teil beginnt: Perspektivenwechsel. Nun ist es ein gerade aus dem Gefängnis entlassener Vergewaltiger und Mörder, auf dem der Fokus liegt. Kurz hinter Seite 200 startet der dritte Teil des Thrillers. Diesmal wechselt die Perspektive je nach Bedarf, viel wird allerdings aus Sicht eines Sonderermittlers und einer Polizistin geschildert.

Ist Zweidimensionalität schon Vielschichtigkeit?

Perspektivenwechsel, durch die Personen und ihre Handlungen in ein neues Licht gestellt werden – okay, das ist interessant, kann es zumindest sein. Und die Figuren sind durchaus – hm. Vielschichtig wäre jetzt zu viel gesagt. Also anders herum: Der Originaltitel lautet »Triptych«: Triptychon, dieses dreiteilige Gemälde, das aus einem Mittelteil und zwei Flügeln besteht, die man zuklappen kann. Auf der Außenseite der Flügel befindet sich auch ein Bild. Zunächst sieht man also das Außenbild – und wenn man die Flügel öffnet, zeigt sich etwas ganz anderes. So ist auch mit den Figuren in diesem Buch. Mit allen. Das Bild, das die Außenwelt gewinnt, entspricht nicht dem, was im Inneren der Personen stattfindet.

Nun macht aber ein Unterschied zwischen außen und innen noch keine Vielschichtigkeit, höchstens eine Zweidimensionalität. Und viel mehr ist da dann auch nicht. Abgesehen davon, dass bei mindestens drei Figuren dieses Prinzip genutzt wird, um noch mehr Gewalt und Grausamkeit unterzubringen. Die haben nämlich in ihrer Vergangenheit unglaubliches Leid, brutalsten Missbrauch erlebt. Und das wird ausführlich geschildert. Die Wendung »gebrochene Helden« bekommt eine ganz neue Färbung. Bei einer vierten Figur wird das Prinzip des Triptychons genutzt, um hinter der vertrauenserweckenden Fassade widerwärtigste Gräueltaten zu begehen.

Einen starker Magen – das braucht man durchaus, wenn man Bücher von Karin Slaughter liest. Der Name ist übrigens kein Pseudonym. Aber Slaughter gibt sich dennoch alle Mühe, ihm gerecht zu werden. Leichenteile und Körperflüssigkeiten, wohin man blickt.

Blut für höhere Ziele?

Karin Slaughter legt Wert darauf, dass sie ein Anliegen hat. In einem Interview anlässlich des Erscheinens von »Verstummt« sagt sie, sie beschreibe Gewalt nicht um der Gewalt willen, »und zwischen ihren hellen Augen bildet sich eine kleine Falte. Darstellung von Gewalt ›ist ein Instrument, um über soziale Missstände zu sprechen‹. Vor allem will sie auf Gewalt gegen Frauen hinweisen.« Diesem letzten Satz kann man nicht widersprechen, das tut sie: Vielen Frauen werden in ihren Büchern Gewalt angetan, und das nicht zu knapp. Aber stößt Slaughter damit Diskussionen über soziale Missstände an? Bekannt geworden ist sie eher wegen der Brutalität ihrer Krimis. Die Diskussionen drehen sich meist mehr um die Frage, wie weit Literatur in der Darstellung von Gewalt gehen darf.

Das liegt auch daran, dass Slaughter keinen gesellschaftlichen oder gar sozialpsychologischen Aspekt in ihre Thriller hineinbringt – wie auch immer der geartet sein mag. Die Figuren sind gemein und brutal, weil sie es nun einmal sind. Punkt. Im vorliegenden Buch ist der Täter einfach böse. Durch und durch böse. Warum? Mehrfaches Schulterzucken. Er quält halt Frauen gern, er mag das. Punkt. So steht es auch um die Gewalt, die die »gebrochenen« Figuren erlebt haben: Die wurden misshandelt von Menschen, die halt böse sind und eben andere gern misshandeln.

Außerdem werden die Bösen bei Slaughter stets geschnappt, in vielen Fällen entgehen sie einer Gerichtsverhandlung, indem sie vorher getötet werden. Am Ende ist also alles gut, und niemand muss sich mit den Ursachen der Gewalt auseinandersetzen. Böses tot, Welt gerettet, Buch zu, entspannt zurücklehnen.

Mittel und Zweck – da war was, oder?

Nun muss eine Thrillerautorin nicht mit sozialpsychologischen Theorien und Erlösungsvorschlägen für eine brutale Welt aufwarten. Doch ohne konkreten Standpunkt zur Gesellschaft, ohne durchdachten Blickwinkel lassen sich nun mal keine sozialen Missstände aufzeigen. Angesichts der Gewalt, die Slaughter schildert, kann man nur mit den Schultern zucken und feststellen: »Ja, es gibt Gewalt. Es gibt Gewalt gegen Frauen, es gibt Gewalt gegen Kinder, es gibt Gewalt gegen Männer.« Das löst aber keine Diskussion aus. Das beschreibt einen Zustand – und auch den nur eindimensional, dafür aber diese eine Dimension mit so viel Akribie, dass der Verdacht keimt, es wird Gewalt um der Gewalt willen beschrieben. Oder nein, wahrscheinlich hat Frau Slaughter recht: Sie macht das nicht um der Gewalt willen. Aber um der Verkäuflichkeit.

Karin Slaughter beherrscht das Handwerk des Schreibens, keine Frage. Sie erzählt ihre Geschichten routiniert, hat die unterschiedlichen Stränge meist im Griff, schildert anschaulich und spannend (um nicht zu sagen: lebendig, wenn das nicht so morbide wäre). Aber die gewählten Mittel entsprechen nicht dem anvisierten Zweck (Stirnfalte! Ernsthaftigkeit!). Im Gegenteil: Die Bücher werden nicht als Kommentar zur Gesellschaft wahrgenommen, lassen sich gar nicht als solcher wahrnehmen, sondern als brutale Schocker. Das verkauft sich nun mal besser.

Kirsten Reimers

Karin Slaughter: Verstummt
Aus dem amerikanischen Englisch von Klaus Berr
Blanvalet Verlag, 512 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-7645-0266-9
auch erhältlich als eBook (hier klicken)
auch als Hörbuch-Download (hier klicken)

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»Kommen wird der Tod, und er wird deine Augen haben«

Das Herz des Disparaten

Früher war Dave ein Agent im Dienst einer geheimniskrämerischen US-Regierungsorganisation, Teil eines Sonderkommandos, eine Killermaschine, die undercover in sehr speziellen Fällen eingesetzt wurde: Diktatoren entfernen, kooperative Militärjuntas mit Waffen versorgen, Attentate, Regierungsstürze. Sein Leben war eine Funktion für die Agency, mit wechselnden Identitäten. Vor neun Jahren war der letzte Einsatz. Inzwischen hat er sich ein eigenes Leben aufgebaut. Doch ein Telefonanruf ändert alles: Offenbar hinterlässt ein Agent, ebenfalls Teil jenes Sonderkommandos, eine Blutspur, die quer durch die USA führt. Dave soll ihn aufspüren und stoppen. Damit verschiebt sich alles: Das Leben, das er sich geschaffen hat, muss er mit einem Schlag abstreifen, die Bindungen, die er eingegangen ist, muss er kappen. Stattdessen ist die vergangene Existenz mit seinen antrainierten Fertigkeiten wie aus dem Nichts wieder da: das Leben als Tötungsapparat ohne eigene Konturen im Dienste Dritter.

Die Jagd, die nun beginnt, führt durch Städte und Staaten. Doch wer Jäger und wer Gejagter ist, verliert sich mehr und mehr. Aus dem Agententhriller wird ein Roadmovie, melancholisch und harsch, der zunehmend einer Traumlogik folgt. Es wird eine Reise in Daves Vergangenheit, in der er sich mehrfach selbst begegnet – als Killer, als Lebensretter -, in sich, aber auch in anderen. Identitäten verschwimmen, Gegnerschaften, Zusammenhänge – alles verbindet sich und verliert seine Grenzen, um neue zu gewinnen.

»Die Straße gibt uns Erlösung, bestätigt die Diskontinuitäten unseres Lebens aufs Neue«

Ein ungewöhnlicher Thriller: poetisch und rasant, fesselnd und beklemmend. Gleichzeitig auch eine Würdigung Cesare Paveses, eines seiner letzten Gedichte kling im Titel an. Sallis‘ Sprache ist lakonisch, knapp, spröde, beinah brüchig, wie die Identitäten, wie der Zusammenhang von Gegenwart und Vergangenheit, den er formt.

Um zu entdecken, was wir wissen, müssen wir nur entscheiden, was wir nicht sehen werden. Meine Erinnerungen können sehr wohl falsch sein, aber sie würden letztendlich genauso dienlich sein wie alle anderen. Jeden Tag rekonstruieren wir uns aus dem Bergungsgut unserer vorherigen Tage.
Als Agent lebte Dave mit geborgten Identitäten, nachdem er sich zurückgezogen hat, baut er ein Leben als Künstler auf: Er formt Skulpturen aus verschiedenen Materialen. Und so formt er schließlich auch sein Leben, fügt Disparate zusammen. Und das nicht in einer Macho-ich-allein-gegen-die-Welt-Haltung, sondern es finden auch Musik, bildende Kunst, Literatur und andere Menschen einen Platz darin.

James Sallis ist nicht nur Schriftsteller (und Träger des Deutschen Krimipreises 2008 für »Driver«), sondern auch Dichter, Kritiker, Lektor, Musiker und Übersetzer. Das merkt man diesem Buch an: der kunstvollen Sprache, der beklemmenden, irritierenden Atmosphäre, dem Plot, der nach innen führt: ins Herz von Amerika, ins Herz des Agenten. Und dort findet er nicht nur Verrat und Tod, sondern auch Freundschaft und Liebe, nebeneinander.

Sallis‘ Roman ist 1999 schon einmal auf Deutsch erschienen, doch damals ging er unter. Nun hat der kleine, feine Verlag Liebeskind es erneut gewagt – zum Glück. Denn »Deine Augen hat der Tod« zeigt neben dem sehr stringenten »Driver« die Bandbreite von Sallis‘ Schaffen. Und das ist, wie ein Leben, nicht in einer Schublade zu fassen.

Kirsten Reimers

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James Sallis: Deine Augen hat der Tod
Ein Roman über Spione
Aus dem Englischen von Bernd W. Holzrichter
Liebeskind 2008, 191 Seiten, 16,90 Euro
ISBN: 978-3-935890-56-4

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Vergangene und gegenwärtige Wälder

Geweckte Erwartungen gelungen untergraben

In einem Waldstück bei Dublin, in der Nähe einer archäologischen Grabung, wird auf einem urzeitlichen Opferaltar die Leiche der zwölfjährigen Katy entdeckt. Sie wurde geschlagen, erwürgt, nach dem Tod mit einem Gegenstand sexuell missbraucht. Die Ermittlungen übernehmen Detective Rob Ryan und seine Partnerin Cassie Maddox. Vor zwanzig Jahren war dieser Wald schon einmal der Schauplatz eines Verbrechens: Drei zwölfjährige Kinder verschwanden in ihm, zwei Jungen und ein Mädchen – Peter, Germaine, Adam -, und nur Adam wurde wieder gefunden. Er klammerte sich an einen Baum, krallte die Finger in die Rinde, die Schuhe waren blutdurchtränkt. Schwer traumatisiert, erinnert er sich an nichts. Was niemand außer Cassie weiß und auch nicht wissen darf: Rob Ryan, eigentlich Adam Robert Ryan, ist jener Junge. Würde dies bekannt, würde ihm der aktuelle Fall aufgrund seiner Verstrickung entzogen werden – denn möglicherweise besteht eine Verbindung zwischen beiden Verbrechen. Und je weiter die Ermittlungen voranschreiten und je tiefer Ryan von dem Fall berührt wird, umso weniger kann er zurück, ohne seine Karriere und auch die seiner Partnerin unwiderruflich zu ruinieren.

»Ich sehne mich nach der Wahrheit …«

Soweit die Ausgangssituation, soweit eine Konstruktion, die zunächst nicht viele wirkliche Überraschungen verspricht. Eventuell Serienmord, bestimmt Kindesmissbrauch, ganz sicher ein dunkles Geheimnis in der Vergangenheit des Ermittlers. Ein Ekelgruselserienmörderding. Schon x-mal in dieser oder ähnlicher Form gelesen.

Doch mit dieser Einstellung hätte man sich von der Autorin schon ein erstes Mal verwirren lassen. Obwohl es auf den ersten Blick so aussieht, ist dieses 670-Seiten-Brikett kein »Ich-lasse-andere-für-mich-denken«-Schmöker, sondern erfordert ein waches Auge und ein vorsichtiges Herangehen. Denn wie Rob Ryan, aus dessen Sicht die Ereignisse geschildert werden, schon am Anfang erklärt:

Eins dürfen Sie nicht vergessen: Ich bin Ermittler. Unser Verhältnis zur Wahrheit ist grundsätzlicher Art, aber rissig, verwirrend gebrochen wie gesplittertes Glas. Wahrheit ist das Kernstück unseres Berufs, das Endspiel bei jedem Zug, den wir machen, und wir verfolgen sie mit Strategien, die sorgsam aus Lügen und Verschleierung und jeder Spielart von Betrug zusammengesetzt sind. (…)
Was ich Ihnen sagen will, ehe ich mit meiner Geschichte anfange, ist zweierlei: Ich sehne mich nach Wahrheit. Und ich lüge.

Die Suche nach dem oder den Tätern bestimmt zwar durchaus die Struktur dieses Kriminalromans. Aber neben dieser gibt es mindestens noch eine zweite Geschichte: die Suche nach Antworten: was damals vor zwanzig Jahren passiert ist, was aus Pete und Germaine geworden ist, was Adam gesehen hat, dass er sich nicht erinnern will. Manchmal scheint es, als würde in den Ereignissen von damals der Schlüssel für die Geschehnisse heute liegen – doch es könnte auch anders sein. Vielleicht hat das rein gar nichts miteinander zu tun. Vielleicht handelt es sich nur um einen Zufall.

»… Und ich lüge«

Damit öffnet sich eine andere Ebene, nämlich die Frage, welche Rolle die Vergangenheit und die Erinnerung an sie für das Leben und die eigene Identität spielt. Je weiter die Ermittlungen voranschreiten, umso mehr droht die Vergangenheit Ryan zu überwältigen, während ihm gleichzeitig die Gegenwart entgleitet. Die Wahrnehmung und Darstellung von Personen beginnt auseinanderzuklaffen, und manche Erinnerung wirkt seltsam verbogen. Auch das Verhältnis zwischen Rob und Cassie leidet darunter: Verband sie anfangs eine tiefe und offene Freundschaft, so zerbricht dies, weil Rob sich an der Vergangenheit festkrallt (wie damals an den Baumstamm) und nicht mit einer veränderten Gegenwart zurecht kommt.

Der Originaltitel lautet »In the Woods« – deutlich vielschichtiger als der Gruselreißertitel mit Irlandanklang »Grabesgrün«, und sehr viel passender. Denn Ryan hat nie wieder herausgefunden aus den Wäldern – seien sie nun Vergangenheit oder Gegenwart.

»Grabesgrün«, das Debüt der Schauspielerin Tana French, spielt gekonnt mit Krimierwartungen und -elementen. Was auf den ersten Blick als konventionelle Kost erscheint, entwickelt eine wunderbare Tiefe und Intensität. Andere Autoren hätten die Ausgangssituation als Anlass für Blut- und Spermaströme, für Ekelattacken und Gewaltorgien genommen – French belässt es bei einem unaufgeregten Fortgang. Weitere Leichen sind für die Aufrechterhaltung der intensiven Spannung nicht nötig. Das vermag sie zum einen aufgrund der Figuren, die mit Komplexität ohne alberne Schrulligkeiten gezeichnet sind, an deren lebendiger Beziehung untereinander, aber auch aufgrund der Kombination von Gegenwart und Vergangenheit und an dem Umgang damit. Und dank der Doppelbödigkeit: der allgegenwärtigen Unsicherheit, was Wahrheit, was Lüge, was Hoffnung ist. Das erlaubt French, einige Fragen ungeklärt zu lassen: Was bei anderen ein Zeichen von Unvermögen wäre, ist hier ein großes Plus und zeigt eine beeindruckende Könnerschaft im Spiel mit Regelbrüchen, mit geweckten Erwartungen und gelungenen Enttäuschungen.

Kirsten Reimers

Tana French: Grabesgrün
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
Scherz Verlag, 672 Seiten, 16,90 Euro
ISBN: 978-3-502-10191-8
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Norddeutsche Serienmörder: offenbar unverwüstlicher

Alter schützt vor Serienmord nicht

Ein Stolpern bringt alles ins Rollen. Als Rita Toski, Volontärin bei einer Oldenburger Tageszeitung, am Montagmorgen zur Redaktionssitzung eilt, gibt ihre Sandale nach. Rita stürzt, der Inhalt ihrer Handtasche ergießt sich auf den Bürgersteig, der teure, heiß geliebte Lippenstift entschwindet im Lichtschacht eines alten, grauen, großen Gebäudes. Bei der nachfolgenden Bergungsaktion entdeckt die angehende Journalistin das Wort »Hilfe« – mit Mühe und offenbar über einen langen Zeitraum hinweg in den Stein des Schachtes gegraben. Damit ist Ritas Neugier geweckt. Mit Hartnäckigkeit macht sie sich daran, das Geheimnis zu lüften. Die Spur führt zurück in die Nazizeit, in die Wirren des Zweiten Weltkriegs zu einem gemeinen Verbrechen. Und damit nicht genug – alles deutet daraufhin, dass der unheimliche Täter, der »Graumacher« noch heute sein Unwesen treibt.

Unaufgeregt und sprachlich fein austariert ist das Krimidebüt von Renate Niemann. Und streckenweise sehr gruselig – undurchsichtiges, schwer greifbares Grauen, Geschehnisse, die Zufälle oder absichtsvolle Botschaften sein können. Das sorgt für wohliges Schaudern. Ein Serienmörder in Oldenburg, der seit Ende des Zweiten Weltkrieges sein Unwesen treibt. Moment, seit Mitte der vierziger Jahre? Und der Krimi spielt definitiv nach der Jahrtausendwende? Dann muss der Täter – hm – mindestens sechzig Jahre alt sein. Eher siebzig. Dafür ist er ganz schön agil. Angesichts seiner ungesunden Ernährung und der eigenartigen Lebensweise ziemlich überraschend. Aber das rächt sich ja dann auch in seinem plötzlichen Ende. Plopp.

Muss es denn immer Serienmord sein?

Kurz: Diese Konstruktion ist reichlich unglaubwürdig. Warum muss überhaupt die Verbindung zur Vergangenheit über einen Serienmörder geschaffen werden? Dadurch verpufft das Schaurige, das so schön aufgebaut ist, weil man ständig das Alter des Graumachers mitdenkt – oder noch absurdere Konstruktionen ersinnt, um mit der Zeitschiene zurechtzukommen.

Die Serienmorde sind Aufhänger, um unrühmlichen Taten der Psychiatrie in Deutschland im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts zu benennen – ein Kapitel, das schon vor dem »Dritten Reich« ziemlich dunkel war und durch den Nationalsozialismus nicht gerade Lichtseiten eroberte. Ebenso wird die Lebenssituation der Sinti und Roma in jener Zeit aufgegriffen. Das wird von Renate Niemann durchaus gut zusammengepackt und verklammert, aber leider durch die merkwürdige Serienmörderkonstruktion weitestgehend beiseite gedrängt.

Kirsten Reimers

Renate Niemann: Der Graumacher
Pendragon Verlag, 254 Seiten, 9,90 Euro
ISBN: 978-3-86532-081-0