Archiv für den Monat: September 2008

Serienmord und Popcorn

Im Garten ihres neuen Hauses entdeckt Julia Hamill menschliche Knochen. Offensichtlich handelt es sich um eine Frau, und die Kopfverletzungen, die sie erlitten hat, deuten darauf hin, dass sie erschlagen wurde. Allerdings liegt die Tat in weiter Vergangenheit: Vermutlich wurde die Leiche um 1830 hier verscharrt. Gemeinsam mit einem Verwandten der Vorbesitzerin des Hauses macht sich Julia auf die Suche nach Erklärungen. Wer war die Frau? Und warum wurde sie getötet? Die Spuren führen geradewegs ins Boston des 19. Jahrhunderts, zu einem unheimlichen Serienmörder und in die Geschichte der Medizin.

Die Spurensuche in der Gegenwart bildet die Rahmengeschichte, das eigentliche Geschehen spielt im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Routiniert verknüpft Tess Gerritsen ihre Handlungsstränge, mischt Elemente des Schauerromans, der Romantic Novel und des Serienmörderthrillers, im Mittelpunkt ein Fräulein in Nöten. Das Buch stieg kurz nach Erscheinen ziemlich hoch in die Spiegel-Bestsellerliste ein und blieb dort für mehrere Wochen. Und dafür ist es auch geschrieben: Teeplätzchen-Literatur mit Gänsehautgarantie.

Aber bei aller Routine und Bestsellerabsicht, die dahinter stehen mag: Tess Gerritsen versteht ihr Handwerk, „Leichenraub“ ist nun auch schon der zwölfte Titel, der von ihr auf Deutsch erschienen ist. Das Buch ist gut geschrieben, die Figuren lebendig motiviert, der Plot sauber und spannend gearbeitet. Und es ist reichlich blutig. Gerritsen hat Medizin studiert und als Ärztin gearbeitet, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Das merkt man ihren Büchern deutlich an. Fachkundig wird geschildert, wie Operationen vorgenommen und Leichen seziert werden. In „Leichenraub“ ist es eine Amputation, die en detail beschrieben wird. Das ist nicht immer leicht zu lesen.

Auch die Opfer kommen mit viel Blut und offenem Gedärm ums Leben – doch diese Taten werden nie so ausführlich geschildert wie zum Beispiel die Obduktion, in der es darum geht, der Tat und dem Täter auf die Spur zu kommen. Das wirkt gegenüber dem Opfer durchaus respektvoll. Nicht sein Tod und seine Schändung wird ausgeschlachtet, sondern das Gewicht wird auf die Aufklärung des Mordes gelegt. Dafür darf dann in der sauberen Atmosphäre des Obduktionssaales das letzte verbliebene Blut fließen und der Darm entrollt werden. Das wirkt nicht ganz so sensationslüstern, da der Blick in die Bauchhöhle einem höheren Zweck dient.

Das meine ich nun nicht nur ironisch. Ich mag die Bücher von Tess Gerritsen – solange ich nicht zu viele davon hintereinander lese und solange ich nicht zu sehr darüber nachdenke. Es wird Gewalt und Gedärm benutzt, um Leser anzulocken, der medizinische Anstrich macht das alles moralisch etwas vertretbarer – okay. Das ist Popcorn-Serienmörder-Thrillerei, Teeplätzchen-Belletristik. Aber es ist gutes Handwerk. Es ist verständlich motiviert, spannungsreich aufgebaut, es ist in sich logisch und geschlossen. Die Doppelmoral ist in einem vertretbaren Maß gehalten – nicht viel anders als in jedermanns Leben. Ich kann mich beim Lesen entspannt zurücklehnen, in Leben und Tode versinken, die nichts mit mir zu tun haben, und mich von fremden Gefühlen unterhalten lassen. Ich ärgere mich nur selten während des Lesens (nur wenn der Schmonzes um die Seelenverwandtschaft der Liebenden dann doch zu arg wird).

Die Bücher von Tess Gerritsen bringen weder das Genre noch die Welt voran. Aber das wollen sie auch nicht. Sie wollen unterhalten. Und das machen sie gut. Das ist doch auch mal in Ordnung – so für zwischendurch.

Ach so: Es taucht in „Leichenraub“ zwar kurz eine von Gerritsens Serienheldinnen auf, doch ansonsten gehört das Buch nicht zur Serie um die Pathologin Maura Isles und Detective Jane Rizzoli.

Kirsten Reimers

Tess Gerritsen: Leichenraub
Deutsch von Andreas Jäger
Limes Verlag 2008, 447 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-8090-2539-9

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Herrlich bissig und gelungen überdreht

Maggie Abendroth leidet: Sie hat das Drehbuch für einen „Tatort“ vergeigt, darum ist sie aus der Medienmetropole Köln in ihre Heimatstadt Bochum geflüchtet. Ihre Souterrainwohnung hat einen Wasserschaden, vorübergehend ist die Drehbuchautorin deshalb im Haus eines Freundes untergekommen (in dem im Vorgängerbuch „totgepflegt“ mehrere Personen gestorben sind, darum gibt es „gute Sofas“ und „böse Sofas“). Und schlussendlich hat sie Liebeskummer, denn ihr Ex, Kölner Starfotograf – von Maggie nur „der Knipser“ genannt -, hat ihr das Herz gebrochen.

So liegt sie deprimiert auf dem „guten Sofa“, löst Kreuzworträtsel und futtert Nudeln. Da kommt das Angebot, das ihr ihr Lieblingskommissar Winnie Blaschke – zu Maggies Bedauern schwul und frisch verliebt – macht, nach anfänglichem Grummeln ganz recht: Sie soll Winnies Oma Bertie zur Kur ins hessische Bad Camberg begleiten.

Das entpuppt sich als purer Horror zwischen erdrückender Fachwerkidylle und Kurgastanimation. Lichtblick nach zweieinhalb Wochen – „gefühlten zwei Jahren“ meint Maggie – ist die traditionelle Schnitzeljagd, deren Gewinnerteam ein üppiges Schnitzelessen winkt. Glückhaft ist die Diäterrunde: Oma Bertis Damengang. Doch statt des erhofften Gutscheins für die rustikale Sause findet sich in der Schatzkiste eine abgetrennte menschliche Hand. Männlich, mit gepflegten Fingernägeln.

Maggie ist zunächst überhaupt nicht an den Hintergründen interessiert. Weit aufregender ist ein unerwarteter Anruf aus Köln und die Möglichkeit, als Produzentin einer Comedyserie wieder ins Geschäft zu kommen. Doch diese Chance zerschlägt sich unter höchst dramatischen Umständen. Und nach und nach nimmt sogar Maggie wahr, dass sich die tödlicher Abgänge von Männern in ihrem Umfeld häufen. Oma Berties Damengang ist inzwischen vollständig verwitwet. Aber erst als ein alter Schulfreund ermordet wird und sie unter Verdacht gerät, wird Maggie aktiv.

Es dauert ein wenig, bis die Krimihandlung in die Gänge kommt. Doch das macht wenig, denn die Autorinnen haben eine wunderbare Beobachtungsgabe und ein – beziehungsweise zwei – Händchen für bissige Bemerkungen. Darum bringt es sehr viel Spaß, Maggie in die trügerische Kuridylle und in die Abgründe ihres Alltags- und Liebeslebens zu folgen. Und als die Handlung dann schließlich Fahrt aufnimmt, wird es rasant und furios.

Eigentlich mag ich keine witzigen Bücher – besser gesagt: Ich mag keine Bücher, die sich „witzig und humorvoll“ oder womöglich gar „Comedy“ auf ihre Fahnen und/oder die U4 geschrieben haben. Meist ist das ziemlich schmerzhaft verkrampft. Meist sind die Witze zusätzlich ziemlich ausgelaugt, da reichlich alt. Und die Verbindung aus Krimi und Comedy – fürchterliche Vorstellung.

Eigentlich. Aber dieses Buch ist wirklich eine Ausnahme. Die Autorinnen kommen wie Maggie aus der Film- und Fernsehbranche und haben ein Gefühl für perfektes Timing. Handlung wie Figuren sind in äußerst angenehmer Weise überspannt und überdreht – aber nie zu viel. Nie rutscht es ab in Slapstick und Albernheiten, auch wenn die Kurve manchmal haarscharf genommen wird. Und die Hauptfigur ist sehr sympathisch: selbstmitleidig, egozentrisch, aber auch nicht ausreichend trinkfest, peinlich und hilfsbereit (manchmal).

Der Krimiplot an sich ist nicht wirklich neu, das Konstrukt gab es so oder ähnlich schon mehrfach, aber das tut dem Ganzen keinen Abbruch. Die Mincks beherrschen ihr Metier so wunderbar, dass es einfach Spaß bringt, dieses Buch zu lesen.

Kirsten Reimers

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Minck & Minck: abgemurkst
Maggie Abendroth und das gefährliche Fischen im Trüben
Droste Verlag 2008, 348 Seiten, 10,00 Euro
ISBN: 978-3-7700-1280-0

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Von der Suche nach Liebe jenseits der Dreißig

Der ehemalige Detective Frank Elder kommt auf Bitten seiner Exfrau aus seinem rauen Rückzugsort in Cornwall nach Nottingham, um nach der Schwester ihrer Freundin zu suchen. Claire Meecham ist Mitte fünfzig und insgesamt eher unauffällig: Nachdem sie die Kinder umsorgt und danach ihren Mann in seiner Krankheit gepflegt hat, lebt sie nun als Witwe sehr zurückgezogen. Keine Freunde, wenig Abwechslung. Umso unerklärlicher, dass sie plötzlich spurlos verschwunden ist. Das passt nicht zu ihr. Kein Fall für die Polizei, schließlich ist die Frau erwachsen und nichts deutet auf ein Verbrechen hin.

Elder nimmt sich des Falles an, weil er unter anderem hofft, sich in Nottingham mit seiner Tochter treffen zu können. Seit sie in einen seiner Fälle verwickelt und entführt wurde (in John Harvey: „Schrei nicht so laut“, dtv 2007), schlägt sich der Frühpensionär mit einem schlechten Gewissen herum. Ohne große Erwartungen macht er sich auf die Suche nach der verschollenen Claire. Bald schon wird deutlich, dass sie ihrer Schwester einiges verschwiegen hat. Offenbar war sie auf der Suche nach einem neuen Glück. Via Internet nahm sie Kontakte zu Männern ihres Alters auf und traf sich mit dem einen oder anderen. Ist sie also einfach mit einer neuen Liebe verreist?

Leider ist das nicht der Fall: Denn so plötzlich, wie Claire verschwand, ist sie wieder da: Vollständig bekleidet, die Haare sorgfältig gebürstet, liegt sie tot in ihrem Bett. Offenbar erwürgt und dann nahezu liebevoll in ihrem Zuhause zur Ruhe gebettet.

Elder fühlt sich an seinen ersten Fall in Nottingham erinnert. Damals war eine Frau in den Fünfzigern erdrosselt und ebenso sorgsam drapiert in ihrem Hotelzimmer gefunden worden. Hängen die Fälle zusammen? Ist es gar derselbe Täter? Ehe er sich versieht, ist Elder als Berater der örtlichen Polizei engagiert und geht gemeinsam mit seiner früheren Partnerin den Spuren nach. Unaufgeregt, ohne hektische Verfolgungsjagden oder forensischen Schnickschnack macht Elder sich auf die Suche. Er stützt sich auf Befragungen, Beobachtungen, Schlussfolgerungen.

Und er begegnet vor allem Menschen auf der Suche nach Liebe und Vertrautheit im reiferen Alter. Der Wunsch nach Glück jenseits der Jugend, nach einem erfüllten Leben ist das bestimmende Thema dieses Buches – auch Frank Elder ist davon nicht ausgenommen, auch er ist auf der Suche nach Kontakt: zu seiner Tochter und – wenn er ehrlich sein soll – auch zu seiner Exfrau. Elder trifft auf die unterschiedlichsten Lebensentwürfe – von der agilen, zufrieden alleinlebenden Rentnerin über die Beziehung, die nur noch aus Angst vor Einsamkeit aufrecht erhalten wird, bis hin zu Männern, die Nähe allein bei Prostituierten finden.

Das ist perfekt aufeinander abgestimmt – bis hin zu den Filmen, die gesehen, den Büchern, die gelesen werden. Und auch der Täter ist auf der Suche nach einem Weg aus seiner Einsamkeit. Als Leser ist man dem Ermittler einen Schritt voraus, denn es sind Rückblenden eingestreut, die schildern, wie im Jahr 1965 eine Psychologin versucht, Kontakt zu einem neunjährigen Jungen aufzubauen. Er scheint von seiner Mutter sexuell missbraucht zu werden – oder bildet er sich das nur ein?

Es ist klar: Das ist der spätere Mörder, und alle drei Verdächtige, die Elder schließlich im Auge hat, könnten die Erwachsenenversion des verhaltensgestörten Kindes sein. Das ist so hervorragend zusammengefügt, so viele Ebenen greifen so wunderbar ineinander, dass man dem Autor einen Kunstgriff (der vielleicht wirklich ironisch gemeint ist) gern verzeiht: Frank Elder kommt durch die Literatur auf die richtige Spur, ein Deus ex machina oder besser: Deus ex libro verhilft dem Ermittler zum Erfolg.

Unaufgeregt, intelligent, ohne größere Blutmengen, jenseits von Serienmörderhysterie legt Harvey mit „Schlaf nicht zu lange“ einen fast altmodischen Krimi vor (wobei der deutsche Titel ein Rätsel bleibt, im Original heißt das Buch „Darkness & Light“). Hervorragend komponiert, glaubwürdig in Plot wie Figuren von der ersten bis zur letzten Seite. Und besonders beeindruckend ist, wie respektvoll Harvey mit seinen Figuren umgeht: An keiner Stelle erhebt er sich über sie, gibt keinen von ihnen der Lächerlichkeit preis, platziert jeden Lebensentwurf gleichberechtigt neben dem anderen, so unterschiedlich sie auch sein mögen.

Dieser Roman ist der Abschluss der Trilogie um Frank Elder („Schrei nicht so laut“, dtv 2007; „Schau dich nicht um“, dtv 2007) – schade, aber auch in Ordnung so: Die wirklich guten Sachen erkennt man daran, dass sie nicht überreizt werden.

Kirsten Reimers

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John Harvey: Schlaf nicht zu lange
Deutsch von Sophie Kreutzfeld
dtv 2008, 232 Seiten, 8,95 Euro
ISBN: 978-3-423-21064-5

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„Sieben Tage lang werde ich frei sein“

Sieben Tage bleiben Peter Crumb noch. Dann ist er tot. Sieben Tage, während derer für ihn keine Grenzen mehr gelten, es keine moralische Zurückhaltung mehr gibt. Mordend und prügelnd zieht er durch London, auf der Suche nach dem nächsten Opfer, nach Drogen, nach Erniedrigung. Ob man ihn erwischt, ist ihm egal, es sind ja nur noch sieben Tage, dann ist er tot.

Ohne jede Hemmung lässt Crumb seinem aufgestauten Hass auf Menschen jeglicher Couleur und Schicht Lauf – und er ist nicht allein: Mindestens eine weitere Persönlichkeit haust in ihm und treibt ihn zu immer neuen Taten an.

„Und ich spürte ihn sofort, er sprang mich an, er drang in mich ein, beängstigend und vertraut zugleich, er durchfuhr mich, zerriss mich, wrang mich aus, zwang meine müden, steifen Extremitäten auseinander, schob seine Gliedmaßen in die meinen, signalisierte mir, dass er wieder daheim sei, und gähnte.“

Für seine Exzesse lässt sich Crumb von den Schlagzeilen der Zeitungen inspirieren – „Mord“, „Meine Drogenschande“, „Tommy Cooper in Fischklops gefunden“ -, um im fortwährenden Dialog mit seinen gewaltteiligen Anteilen nach einer phantasie- und effektvollen Umsetzung zu suchen. Akribisch hält er in einer Art Tagebuch seine Taten, seine Gefühle, seine Beobachtungen fest.

Die Figur des Peter Crumb wurde in der Kritik verglichen mit Raskolnikow aus Dostojewskis „Schuld und Sühne“, mit Jekyll und Hyde oder auch mit Patrick Bateman aus Bret Easton Ellis „American Psycho“. Aber keiner der Vergleiche will so richtig greifen. Crumb hält sich nicht für moralisch-menschlich überlegen wie Raskolnikow, er plant nicht den perfekten Mord – es ist ihm egal, ob er gefasst wird. Und er sucht die Erniedrigung ebenso wie den Schmerz.

„Sie schlugen mich fast zu Klump. Ich weiß noch, dass ich währenddessen seltsam neben mir stand. Ich wollte, dass sie mir wehtaten, mich schlugen und traten und prügelten und bestraften, mich erniedrigten und demütigten. Und genau das taten sie. (…) Es tat zugleich weh und nicht weh. Tut weniger weh, als man denkt. Die Schmerzen sind unwichtig. Wichtig ist die Erniedrigung. (…) Als sie gingen konnte ich hören, dass die Jukebox Johnny Cash’s ‚Folsom Prisom Blues‘ spielte. Ich musste lächeln, und dann verlor ich das Bewusstsein.“

Es gibt in Crumb auch nicht die perfekte Trennung in Ehrenmann und Monster wie bei Jekyll & Hyde – er ist beides, und beides vermengt sich. Er ist nicht zwei Personen – er hat die unterschiedlichsten Anteile in sich, die in den unterschiedlichsten Mischungsverhältnissen auftreten. So kann er einer Hure besorgt raten, sich einen anderen Job zu suchen und ihr sogar Geld dafür anbieten, nachdem er sie brutal gefickt hat und bevor er sie noch brutaler zusammenschlägt. Er kann auch hoch charmant mit seinen Nachbarn plaudern („Kochen Sie gerade Tee?“, fragte ich entzückt (…)) – bevor er ihn und seine Frau ungerührt umbringt.

„Adrian starb ziemlich schnell, übertrieb die Sache allerdings maßlos. Ich hatte seine Drosselvene durchtrennt, und er verlor Unmengen an Blut. Es dauerte nur Minuten, aber er machte aus jeder Sekunde ein Drama – hustete und spuckte und … ganz ehrlich, ich hatte den Eindruck, als wollte er einen scheiß Oscar bekommen! Aber dann, echt seltsam, hörte er einfach auf und war tot, und damit hatte sich die Sache. Beth dagegen spielte viel zurückhaltender.“

Die Erzählperspektive wechselt jeweils mit den Anteilen, die gerade am Zuge sind. Mal ist Crumb entsetzt von seinen Taten, mal ist er genervt von der Restmoralität und seinen Schuldgefühlen. Aber stets hängen die Anteile zusammen:

„Mir gefror das Blut in den Adern, Janice – ich kann wirklich nicht beschreiben, welche Phantasien er hatte (…). All die Werkzeuge, all die Instrumente – seine Phantasie drehte komplett durch, das Wasser lief ihm im Mund zusammen, ja, das Wasser lief ihm im Mund zusammen – und er leckte mir die Lippen, die langsam rissig werden, und wenn ich etwas hasse, dann rissige Lippen.“

Crumb mordet nicht aus Langeweile, er ist nicht wie Patrick Bateman unbeteiligt, glatt und leer, kein Hygienefanatiker wie jener, der alles tut, um nur ja keine persönlicher Duftmarke zu verströmen. Im Gegenteil, Peter Crumb ist eng mit seinen Körperflüssigkeiten verbunden, seine Haut ist bedeckt mit Ekzemen, er achtet mit Leidenschaft auf die Beschaffenheit seines Stuhls, nässt sich ein in der U-Bahn, onaniert im Bus.

Und er ist auch innerlich beteiligt. Crumb mordet nicht aus Sinnentleerung. Vor Jahren hat er seine damals fünfjährige Tochter verloren, die Opfer einer entsetzlichen Gewalttat wurde. Crumb fühlt sich schuldig – und ist über die Jahre daran zerbrochen. Seine Ehe ist gescheitert, er hat seinen Job verloren, und nun verliert er sich selbst.

„Sieben Tage“ ist nicht einfach zu lesen, es ist eklig, es ist erschreckend – aber es ist verdammt gut geschrieben, und es ist immer wieder ziemlich witzig. Trotz allem Ekels, aller Furcht vor dem, was da noch kommen kann, gibt es Szenen und Gedankensplitter, die eine Komik in sich bergen, die einen beim Lesen einfach überrollt. Und es ist entlarvend, denn trotz allem Ekels, aller Furcht vor dem, was da noch kommen kann: Man liest weiter, notfalls nur mit einem Auge, aber die Faszination der Gewalt, die verschämte Leidenschaft für Blut, Mord und was noch alles dazugehört: Jonny Glynn packt seine Leser genau dort und hält sie fest. Und es ist ja auch das, womit wir in den Medien täglich konfrontiert werden, Schlagzeilen, die jede Tat blutrünstig ausschlachten, Fernsehberichte, die nur knapp verhehlen, dass die Filmaufnahmen von Gewalttaten auch dazu dienen, mehr Zuschauer anzulocken als die Konkurrenz.

Mord, Vergewaltigung, Leichenschändung – Crumb findet seine Anregungen in den Medien, und er gibt ihnen die Schlagzeilen zurück mit seinen Taten. In aller Konsequenz wird er ein Medienstar – nicht als Mörder, sondern als Held.

An keiner Stelle kommt während des Lesens das Gefühl auf, Glynn setzt mit seinen Blutströmen nur auf Schockeffekte – und gleichzeitig gelingt es ihm, auf eine Interpretation der Gewalttätigkeit seines Helden zu verzichten. Es gibt keine klare Moral, keine deutliche Botschaft, keinen Zeigefinger. Damit ist Glynn in seinem Debütroman ein Balanceakt gelungen, der wirklich beeindruckt und beängstigt.

Kirsten Reimers

 

Jonny Glynn: Sieben Tage
Aus dem Englischen von Hennig Ahrens
Fischer Verlag 2008, 264 Seiten, 18,90 Euro
ISBN: 978-3-10-026300-1

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Keine Hoffnung für Dreizehnjährige

Nach dem Tod der Mutter zieht die Familie der dreizehnjährigen Anita von Leeds in ein ärmliches Viertel im Südosten Londons. Was ein neuer Anfang werden sollte, führt zum endgültigen Zerbrechen der Familie: Der Vater ist vollkommen aus der Bahn geworfen und hockt nur noch hilflos trinkend vor dem Fernseher. Die beiden Zwillingsschwestern, wenig älter als Anita, stürzen sich leicht bekleidet ins Londoner Nachtleben. Der große Bruder verfügt plötzlich über Dinge, für die er eigentlich gar kein Geld hat. Und dazwischen, nein, eher daneben: Anita, isoliert, zurückgezogen, schweigsam, nach dem Tod der Mutter desorientiert und verwirrt. Und sie ist schreckliche dreizehn Jahre alt – das Alter, das wirklich das entsetzlichste, das aufwühlendste und verstörendste ist. Anita gehört zu den Kindern, die stets außerhalb stehen, in der Familie wie in der Schule. Ihre pakistanisch-britische Abstammung macht es ihr dabei nicht einfacher.

Dennoch gelingt es ihr, mit zwei weiteren Außenseitern eine Art Freundschaft zu schließen: mit dem dicken, schwarzen Denis und mit Kyle. „Denis war das Kind mit dem Förderunterricht, wie es in jeder Klasse eins gibt. Die Brille, die er aufhatte, war ein Kassengestell mit Gläsern, dick wie Autoscheinwerfer“. Kyle ist das Kind, das als verhaltensauffällig gilt: „Er war dünn wie ein Strich in der Landschaft und eins dieser Kinder, die aussehen, als würden sie nach Pisse riechen. Die Art von Kind, die keiner wahrnimmt.“ Dennoch ist Anita wie in einen Bann gezogen von Kyle, denn er schert sich nicht um das, was andere von ihm denken, ist unberechenbar, manchmal wie ein anderer Mensch, wild, aggressiv: „Seine Augen waren unglaublich. Ein blasses, fahles Grau, die Farbe von Laternenpfählen und Rinnsteinen, die Farbe des Regens – riesengroß dominierten sie sein spitzes, knochiges Gesicht.“

Das Faszinierendste an Kyle jedoch ist, dass ihn ein Geheimnis umgibt. Vor einem Jahr verschwand seine kleine Schwester Katie – mitten in der Nacht aus dem Kinderzimmer, ohne jede Spur, ohne jeden Hinweis. Dies bewegt Anita immer wieder: Was ist mit Katie geschehen? Ist sie entführt worden? Ist sie tot? Ist der Täter noch in der Nähe? Wird er wiederkommen?

Gemeinsam machen sich Kyle, Denis und Anita während des Sommers auf die Suche nach stillgelegten Minen und vergessenen Gruben unterhalb von London. Und je weiter der Sommer voranschreitet, je tiefer diese merkwürdige Freundschaft wird, desto bedrohlicher und gefährlicher wird es, denn es ist klar, dass es da noch ein Geheimnis gibt.

„Als der Sommer in jenem Jahr zu Ende ging, waren drei von uns tot.“ Mit diesen Worten, diesem ersten Satz schickt Camilla Way ihre Leser auf die staubigen glühenden Straßen Londons im heißen Sommer 1986. Geschildert wird das Geschehen aus der Perspektive Anitas, die sieben Jahre später die Ereignisse berichtet. Nicht das stylische, coole London ist es, das das junge Mädchen damals kennengelernt hat, sondern die bröckelnden Strukturen dahinter, die Schrottplätze und dreckigen Tunnel, die stinkende Themse, die glühendheißen Straßen zwischen heruntergekommenen Häusern.

Way beschwört alte Kindheitserinnerungen herauf – endlos öde Sommerferien, erfüllt von stickiger Hitze und Langeweile. Die fürchterliche Welt der Dreizehnjährigen, in der die Bedrohung durch brutale Mitschüler beklemmende Realität ist, in der es keinen Ausweg gibt, eine Welt, die von Scham und Sprachlosigkeit geprägt ist, in der Erwachsene keinen Halt mehr bieten – und es im Fall von Anita, Kyle und Dennis auch nicht können, denn die Kinder erwartet in ihren Familien nur Desinteresse und Überforderung.

Was zu einem zähen sozialpädagogischen Roman über das Aufwachsen in zerrütteten Familien hätte werden können, ist zum Glück ganz anders gelungen: Denn ohne jeden Betroffenheitsschmalz schildert Camilla Way durch die Augen ihrer Protagonistin, wie die Suche nach Kontakt, wie der Versuch, aus der Isolation auszubrechen, in eine Katastrophe führen kann. Und dies in letztlich unerwarteter Weise, sehr mitnehmend und sehr verstörend.

Kirsten Reimers

 

Camilla Way: Schwarzer Sommer
Aus dem Englischen von Gabriele Weber-Jarić
Rowohlt Taschenbuch Verlag 2008, 208 Seiten, 8,95 Euro
ISBN: 978-3-499-24750-7

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