Von der Suche nach Liebe jenseits der Dreißig

Der ehemalige Detective Frank Elder kommt auf Bitten seiner Exfrau aus seinem rauen Rückzugsort in Cornwall nach Nottingham, um nach der Schwester ihrer Freundin zu suchen. Claire Meecham ist Mitte fünfzig und insgesamt eher unauffällig: Nachdem sie die Kinder umsorgt und danach ihren Mann in seiner Krankheit gepflegt hat, lebt sie nun als Witwe sehr zurückgezogen. Keine Freunde, wenig Abwechslung. Umso unerklärlicher, dass sie plötzlich spurlos verschwunden ist. Das passt nicht zu ihr. Kein Fall für die Polizei, schließlich ist die Frau erwachsen und nichts deutet auf ein Verbrechen hin.

Elder nimmt sich des Falles an, weil er unter anderem hofft, sich in Nottingham mit seiner Tochter treffen zu können. Seit sie in einen seiner Fälle verwickelt und entführt wurde (in John Harvey: „Schrei nicht so laut“, dtv 2007), schlägt sich der Frühpensionär mit einem schlechten Gewissen herum. Ohne große Erwartungen macht er sich auf die Suche nach der verschollenen Claire. Bald schon wird deutlich, dass sie ihrer Schwester einiges verschwiegen hat. Offenbar war sie auf der Suche nach einem neuen Glück. Via Internet nahm sie Kontakte zu Männern ihres Alters auf und traf sich mit dem einen oder anderen. Ist sie also einfach mit einer neuen Liebe verreist?

Leider ist das nicht der Fall: Denn so plötzlich, wie Claire verschwand, ist sie wieder da: Vollständig bekleidet, die Haare sorgfältig gebürstet, liegt sie tot in ihrem Bett. Offenbar erwürgt und dann nahezu liebevoll in ihrem Zuhause zur Ruhe gebettet.

Elder fühlt sich an seinen ersten Fall in Nottingham erinnert. Damals war eine Frau in den Fünfzigern erdrosselt und ebenso sorgsam drapiert in ihrem Hotelzimmer gefunden worden. Hängen die Fälle zusammen? Ist es gar derselbe Täter? Ehe er sich versieht, ist Elder als Berater der örtlichen Polizei engagiert und geht gemeinsam mit seiner früheren Partnerin den Spuren nach. Unaufgeregt, ohne hektische Verfolgungsjagden oder forensischen Schnickschnack macht Elder sich auf die Suche. Er stützt sich auf Befragungen, Beobachtungen, Schlussfolgerungen.

Und er begegnet vor allem Menschen auf der Suche nach Liebe und Vertrautheit im reiferen Alter. Der Wunsch nach Glück jenseits der Jugend, nach einem erfüllten Leben ist das bestimmende Thema dieses Buches – auch Frank Elder ist davon nicht ausgenommen, auch er ist auf der Suche nach Kontakt: zu seiner Tochter und – wenn er ehrlich sein soll – auch zu seiner Exfrau. Elder trifft auf die unterschiedlichsten Lebensentwürfe – von der agilen, zufrieden alleinlebenden Rentnerin über die Beziehung, die nur noch aus Angst vor Einsamkeit aufrecht erhalten wird, bis hin zu Männern, die Nähe allein bei Prostituierten finden.

Das ist perfekt aufeinander abgestimmt – bis hin zu den Filmen, die gesehen, den Büchern, die gelesen werden. Und auch der Täter ist auf der Suche nach einem Weg aus seiner Einsamkeit. Als Leser ist man dem Ermittler einen Schritt voraus, denn es sind Rückblenden eingestreut, die schildern, wie im Jahr 1965 eine Psychologin versucht, Kontakt zu einem neunjährigen Jungen aufzubauen. Er scheint von seiner Mutter sexuell missbraucht zu werden – oder bildet er sich das nur ein?

Es ist klar: Das ist der spätere Mörder, und alle drei Verdächtige, die Elder schließlich im Auge hat, könnten die Erwachsenenversion des verhaltensgestörten Kindes sein. Das ist so hervorragend zusammengefügt, so viele Ebenen greifen so wunderbar ineinander, dass man dem Autor einen Kunstgriff (der vielleicht wirklich ironisch gemeint ist) gern verzeiht: Frank Elder kommt durch die Literatur auf die richtige Spur, ein Deus ex machina oder besser: Deus ex libro verhilft dem Ermittler zum Erfolg.

Unaufgeregt, intelligent, ohne größere Blutmengen, jenseits von Serienmörderhysterie legt Harvey mit „Schlaf nicht zu lange“ einen fast altmodischen Krimi vor (wobei der deutsche Titel ein Rätsel bleibt, im Original heißt das Buch „Darkness & Light“). Hervorragend komponiert, glaubwürdig in Plot wie Figuren von der ersten bis zur letzten Seite. Und besonders beeindruckend ist, wie respektvoll Harvey mit seinen Figuren umgeht: An keiner Stelle erhebt er sich über sie, gibt keinen von ihnen der Lächerlichkeit preis, platziert jeden Lebensentwurf gleichberechtigt neben dem anderen, so unterschiedlich sie auch sein mögen.

Dieser Roman ist der Abschluss der Trilogie um Frank Elder („Schrei nicht so laut“, dtv 2007; „Schau dich nicht um“, dtv 2007) – schade, aber auch in Ordnung so: Die wirklich guten Sachen erkennt man daran, dass sie nicht überreizt werden.

Kirsten Reimers

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John Harvey: Schlaf nicht zu lange
Deutsch von Sophie Kreutzfeld
dtv 2008, 232 Seiten, 8,95 Euro
ISBN: 978-3-423-21064-5

Diese Besprechung ist auch erschienen auf satt.org