Die 10 Krimis rauszusuchen, die mich im vergangenen Jahr am meisten beeindruckt haben, war gar nicht sooo schwer (eher, es bei 10 zu belassen) – aber eine Hierarchie zu erstellen: Das war überhaupt nicht einfach. Die folgende Reihenfolge ist also mehr der augenblickliche Stand. Morgen, ach was, in zwei, drei Stunden sieht das wahrscheinlich schon wieder anders aus. Und außerdem habe ich »Die Farm« von Max Annas und »The Drop« von Dennis Lehane noch nicht zu Ende gelesen – es könnte sich also auch noch etwas verschieben. Aber für den Augenblick sieht es so aus:
1. Liza Cody: Lady Bag (Ariadne/Argument)
2. James Lee Burke: Regengötter (Heyne Hardcore)
3. Jim Nisbet: Der Krake auf meinem Kopf (Pulp Master)
4. Bruce Holbert: Einsame Tiere (Liebeskind)
5. Dominique Manotti: Ausbruch (Ariadne/Argument)
6. Daniel Woodrell: In Almas Augen (Liebeskind)
7. Anne Goldmann: Lichtschacht (Ariadne/Argument)
8. Nathan Larson: 2/14 (Diaphanes)
9. Malcolm Mackay: Der unvermeidliche Tod des Lewis Winter (Fischer)
10. David Peace: GB84 (Liebeskind)
»Die Wut« von Gene Kerrigan, »Absolute Zero Cool« von Declan Burke sowie »Black Heat« von Mike Nicol stehen alle zusammen auf Platz 11. Vielleicht auch noch ein paar mehr. Wie gesagt: In zwei, drei Stunden würde meine Liste ganz anders aussehen. Und in vier Tagen sowieso.
Der titelgebende Krake, ein Tattoo auf Curly Watkins rasierter Glatze, ist ein Überbleibsel aus dessen Punkzeiten. Heute – also in den Nullerjahren, in denen Jim Nisbets »Der Krake auf meinem Kopf« spielt – schlägt sich der Musiker damit durch, dass er in hippen Cafés in San Francisco Gitarre spielt: beliebte Songs von damals, als die Stadt noch das Zentrum eines bunten Gemischs aus Gegenkulturen war. Inzwischen haben Profit- gier und Gentrifizierung für allgemeine Strom- linienförmigkeit, Selbstoptimierung und soziale Kälte gesorgt. Musiker, Künstler, Bohemiens, Idealisten, Aktivisten jeder Couleur – all diejenigen, die früher für gesellschaftliche Gegen- entwürfe standen, führen isolierte, prekäre Randexistenzen. Wie Curly zum Beispiel. Die quirlige Aufbruchsstimmung von früher ist längst zum schicken Accessoire und Marketingtrick verkommen. Curly lebt – eher schlecht – davon, dass er dies bedient.
Weil er für Ivy, einen talentierten Drummer und Junkie, die Kaution zusammenkratzen will, lässt er sich von der gemeinsamen Freundin Lavinia – ebenfalls auf Droge – auf einen schnellen, kleinen Job ein (»Achthundert oder neunhundert Dollar für eine Stunde Arbeit. Und es ist vollkommen legal.« »So gut wie«, fügte sie hinzu.), der der Anfang einer ebenso rasanten wie bizarr-witzigen Achterbahnfahrt durch verschiedene Milieus, Bewusstseinszustände, Geistesverfassungen und Verbrechen wird.
Jenseits von Genrekonventionen
Lavinia und Curly – der Drogen ebenfalls nicht abgeneigt ist – stolpern über eine Leiche und geraten schließlich in die Fänge eines Serienmörders. Das ist markant, passiert aber erst recht spät und nimmt nur einen relativ geringen, aber eindrucksvollen Teil des Buches ein. Mit dem neuen Akteur wechselt die Perspektive: Für die nächten 70, 80 Seiten steht der Killer, sein Werdegang, sein Lebensüberdruss und seine eigenwillige Gedankenwelt im Mittelpunkt. Lavinia und Curly sind nur noch Statisten – bis sich das Blatt wieder wendet.
Wundervoll intelligente, witzige Dialoge, engagierte Diskussionen über Marx oder Johann Sebastian Bach, Drogenexzesse, ein genau richtig hochgeschraubter Plot, ein beißend-klarer, sarkasmusgesättigter Blick auf das San Francisco der Dotcom-Millionäre und Digitalbienchen: Jim Nisbet kümmert sich nicht um Genrekonventionen, sondern mixt sehr gekonnt und sprachgewaltig einen grandiosen Noir. Ein Buch wie ein Rausch: schnell, hochkomisch, bunt, schräg, erschreckend brutal, voller Zartheit und Liebe sowie ein wenig melancholisch. Ein Abgesang auf San Francisco und alte Träume, ein unschönes Erwachsenwerden und ein »Dennoch!«.
Verbrechen und Wirtschaft – eine explosive Mischung
Lewis Winter ist im Gefüge des organisierten Verbrechens in Glasgow nur ein kleines trauriges Licht – bis er beginnt, einen großen Coup vorzubereiten und dabei den falschen Leuten in die Quere kommt. Der Auftragskiller Calum MacLean wird auf ihn angesetzt. MacLean, eigentlich freischaffend und ohne die Rückendeckung einer großen Organisation, gerät dadurch zwischen Fronten und in Abhängigkeiten. Keine ganz ungefährliche Situation.
»Der unvermeidliche Tod des Lewis Winter« ist Malcom Mackays Debüt und gleichzeitig der Auftakt seiner »Glasgow-Trilogie«. Kurz, knapp, fast schroff und mit knacktrockenem Humor beschreibt Mackay aus der Sicht des Profikillers MacLean die unausgesprochenen Regeln des organisierten Verbrechens – wie man überlebt, ohne den falschen Leuten auf die Füße zu treten, und sich trotzdem Respekt verschafft. Und das in einem Milieu, das heutzutage ähnlich funktioniert wie jede andere Wirtschaftsbranche, nur tödlicher. Das klingt so überzeugend, als würde Mackay die Branche tatsächlich von innen kennen. Mackay schreibt sehr konzentriert: Alles, was nicht unmittelbar zur eigentlichen Story gehört, wird weggelassen. Das Ergebnis ist ein schneller, rauer, konsequenter »tartan noir«.
Eine neue Gangstergeneration
Auch Howard Linskeys neuer Krimi »Gangland« spielt im Milieu des organisierten Verbrechens in Schottland, und zwar in Newcastle. Dort hat David Blake das Sagen. Linskeys erster Roman (»Crime Machine«, 2012) beschrieb Blakes Aufstieg – nun geht es darum, die Organisation am Laufen zu halten und sich an der Spitze zu behaupten. Blake schlägt sich dabei mit ähnlichen Problemen herum wie jeder andere Firmenchef: Mitarbeiterführung durch Motivation und Zielvorgaben, das Delegieren von Aufgaben und die Kontrolle der richtigen Ausführung, der Einkauf von Waren und die Distribution. Nur dass es sich halt um eine schwierige Branche handelt, in der Motivation schon mal mittels Gewalt eingefordert wird.
Blake – mit Anfang dreißig recht jung für einen Gangsterboss – gehört zu einer neuen Generation von Verbrechern: Er hat BWL studiert und versucht, die Organisation entsprechend zu leiten: indem er Gewalt möglichst vermeidet und tunlichst nachhaltig wirtschaftet – auch wenn es um Drogenhandel, Prostitution und Geldwäsche geht. Allerdings zeigt sich, dass die Regeln, die innerhalb der Branche herrschen, nur schwer zu verändern sind.
Howard Linskey zeichnet diese neue Art von Gangstertum sehr gekonnt: Einerseits ist seine Hauptfigur ein kühler Kalkulator mit weißem Kragen – andererseits weiß Blake genau, wann er Gewalt bis hin zu Mord einsetzen muss, um sich und seine Organisation gegen Konkurrenten zu behaupten. Hier überschneiden sich Wirtschaft und Verbrechen im hohen Maße. Linskey beschreibt das sehr schön: schnell, ohne hektisch zu werden, amüsant, ohne ins Klamaukige zu kippen, spannend, ohne zu actionlastig zu sein.
Mit kaltem, analytischem Zorn
Ein Buch über Verbrechen und Wirtschaft ganz anderer Art legt Dominique Manotti mit »Madoffs Traum« vor. Das ist kein Krimi im eigentlichen Sinne. Die »moralische Erzählung«, wie die Autorin ihre Novelle nennt, schildert aus Sicht des »Jahrhundert- verbrechers« Bernard Madoff seinen Aufstieg und Fall. Madoff, ehemaliger Finanz- und Börsenmakler, Mitbegründer der NASDAQ, scheffelte über Jahre hinweg Milliarden US- Dollar. Ende 2008 wurde er wegen Betrugs verhaftet. Der finanzielle Schaden wurde vom Gericht mit rund 65 Milliarden US-Dollar beziffert. Zu den Geschädigten gehörten Investmentfonds und Banken rund um die Welt, aber auch Prominente. Die Reichen und Superreichen. Madoff wurde im Sommer 2009 zu 150 Jahren Gefängnis verurteilt.
In Manottis Novelle blickt er im Gefängnis zurück auf sein Leben, träumt sich einerseits weg aus der Gegenwart und schildert andererseits den amerikanischen Traum: den Aufstieg aus kleinen Verhältnissen zum Multimilliardär – was nur jenseits der Legalität funktioniert. Dominique Manotti, Professorin für Wirtschaftsgeschichte und gefeierte Krimiautorin, schreibt im Nachwort, dass sie die Novelle im Zorn verfasst hat. Dabei richtet sich ihre Wut weniger auf die Person Madoff als vielmehr auf das System, dessen Symbol er wurde. Ein System, dass Investmentbankern erlaubt, unzählige Menschen ins finanzielle Verderben zu reißen – und das dann denjenigen bestraft, der die Reichen und Mächtigen betrogen hat, während all die Bänker, die kleine Leute in den Ruin getrieben haben, ungeschoren davonkommen.
Manotti schildert mit fundiertem Wissen Madoffs kriminelle Praktiken, ohne sich von ihren Emotionen davonreißen zu lassen: Es ist ein kalter, analytischer Zorn, der die Veränderung der amerikanischen Gesellschaft seit der Reagen-Ära aufzeigt, den Siegeszug der Gier, des Raubtierkapitalismus. Ohne ein Wort zu viel, ohne Schnörkel, ohne Abwege. Brillant.