Archiv für den Monat: April 2012

Eine leichtfüßige Gratwanderung zwischen Surrealem und Handfesten

Ein Geisterheer in der Normandie

Fred Vargas ist die meistgelesenste Krimiautorin Frankreichs, und nicht nur dort wird sie geliebt: In mehr als vierzig Sprachen wurden ihre Werke übersetzt. Auch bei uns erstürmen ihre Kriminal-romane regelmäßig die Bestsellerlisten. Ihr Krimi »Fliehe weit und schnell« wurde 2004 mit dem Deutschen Krimipreis (Kategorie international) ausgezeichnet, im gleichen Jahr errang »Der vierzehnte Stein« den dritten Platz der Jahres-Bestenliste der Krimi-Welt. Seit kurzem liegt Fred Vargas aktuellster Roman auf Deutsch vor: »Die Nacht des Zorns«. Es ist der siebte Kriminalroman mit Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg.

Ein Gespür für Untertöne und verborgene Zusammenhänge

Wer einen Krimi von Fred Vargas aufschlägt, stellt schnell fest, dass er eine eigene Welt betritt. Hochtechnisierte Ermit- tlungsmethoden à la CSI sucht man hier ebenso vergeblich wie Action-geladene Verfolgungsjagden. Kommissar Adamsberg ermittelt vollkommen anders: Er geht assoziativ vor, mit einem feinen Gespür für Untertöne und Zusammenhänge, die anderen entgehen – dabei ist er stur, eigensinnig und ohne größeren Pragmatismus.

Unterstützt wird der Chef der Pariser Brigade criminelle, der sich keine Namen merken kann und der mit einem »wie ertrunkenen Blick ohne Glanz noch Schärfe« durch das Leben geht, von einer Schar nicht weniger eigenwilliger Ermittler: Sein Stellvertreter Danglard hat nicht nur ein großes Alko- holproblem, sondern auch ein schier unermessliches kultur- geschichtliches Wissen, aus dem er beständig und verlässlich schöpft; Adamsberg Freund und Kollege Veyrenc spricht unvermittelt in Hexametern; ein weiterer Polizist ist ein Fischexperte, ein anderer neigt zu plötzlichen Schlafattacken, und Lieutenant Violette Retancourt ist trotz ihres zarten Namens so unfassbar stark und groß, dass Adamsberg sie eine Göttin nennt.

Poetisch und skurril, aber logisch und rational

Poetisch und skurril ist die Welt, die Fred Vargas entwirft, von feiner Ironie durchzogen. Nie kippt sie ins Klamaukige, Laute oder Schrille, stets bleibt sie elegant, versponnen, mehrbödig und warmherzig mit großer Liebe zum absonderlichen Detail. Wie Fred Vargas in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erklärt, hat Literatur in ihren Augen nicht die Aufgabe, das Leben einfach abzubilden, sondern es neu zu erfinden. Und so schafft Vargas eine Realität eigener Prägung, ein wenig surreal, verschoben und doch zwingend, denn wie Vargas im gleichen Interview ausführt: »Poesie ist dazu da, die Dinge komplizierter zu machen, aber – und das ist das Paradoxe – vielleicht versteht man sie dadurch besser.«

Doch bei aller traumartiger Verschrobenheit: Stets bleibt die Handlung glaubwürdig, und die Auflösung, die die Französin für ihre obskuren Kriminalfälle findet, folgt ganz den Gesetzen von Logik und Rationalität. Alle Fragen werden am Ende geklärt. Die duftig-beschwingte Verbindung von Surrealem und Greifbaren macht sicherlich einen großen Teil des Zaubers der Kriminalromane von Fred Vargas aus.

Dass ihr diese Gradwanderung gelingt, liegt vielleicht auch daran, dass die Autorin Wissenschaftlerin ist: Frédérique Audoin-Rouzeau, wie sie eigentlich heißt, ist Historikerin und Archäologin mit dem Spezialgebiet Archäozoologie (Schwer- punkt Mittelalter). Bis 2004 hat sie am staatlichen Forschungsinstitut CNRS, dem Centre national de la recherche scientifique, gearbeitet. Ihr erster Roman erschien 1986, bereits für ihn wählte sie ihr Pseudonym, das sich von der Figur Maria Vargas aus dem Film »Die barfüßige Gräfin« ableitet.

Die Wilde Jagd im 21. Jahrhundert

Wie schon in früheren Romanen greift Fred Vargas auch in ihrem aktuellsten Krimi einen mittelalterlichen Mythos auf: das Wütende Heer. Diese Sage verwebt Vargas mit der Struktur eines Whodunit. Die Geisterarmee ist bei uns bekannt als die Wilde Jagd, in Frankreich wird sie auch Mesnie Hellequin genannt. Sie führt Kommissar Adamsberg in die Normandie, zum Pfad von Bonneval in der Nähe des Örtchens Ordebec, wo schon 1091 ein normannischer Priester die L’Armee furieuse (so lautet auch der Originaltitel des Buches) sah und das erste schriftliche Zeugnis davon niederlegte. Der Sage nach reißt die Wilde Jagd Menschen mit sich, die Schuld auf sich geladen haben. Lina, eine junge Frau aus Ordebec, erkennt in einer Vision, wie die Mesnie Hellequin vier Dorfbewohner verschleppt. Drei von ihnen kann Lina mit Namen benennen. Als der Erste von ihnen stirbt, ist der Aufruhr und die Beunruhigung in Ordebec groß, denn laut Überlieferung kann man sich von seiner Schuld befreien und dem Wilden Heer entkommen, indem man einen der anderen »Ergriffenen« tötet. Wer ist also verantwortlich für den ersten Mord, dem weitere folgen sollen: der Seigneur Hellequin? Oder gibt es ganz handfeste Motive und einen vollkommen unmythischen Täter?

Kirsten Reimers

Fred Vargas: Die Nacht des Zorns
Aus dem Französischen von Waltraud Schwarze
Aufbau 2012
geb., 453 Seiten, 22,99 Euro
ISBN 978-3-351-03380-4
auch erhältlich als eBook (hier klicken)
auch erhältlich als Hörbuch-Download (hier klicken)

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in der Frankfurter Neuen Presse.


Die Abwesenheit von Leidenschaft

Eine kaleidoskopartige Reflektion

Ein namenloser Kriminalermittler erhält kurz vor seiner Pensionierung einen alten Fall aufgedrückt. Auf diese Weise soll er aus dem Weg sein und ohne großes Aufheben in den Ruhestand entschwin- den, vermutet er. Denn eigentlich ist der Fall schon längst geklärt, wegen eines Verfahrensfehlers kam der Verdächtige zwar wieder frei, doch inzwischen ist er schon seit Jahren tot. Der unauffällige und zurückhaltende Polizist – »Ich habe mich nie gedrückt, aber auch nie verausgabt«, sagt er von sich selbst – ermittelt so erstmals ohne die gewohnte Struktur, ohne Zwang und ohne Druck, und verliert darüber nach und nach den Halt. Er über- schreitet Grenzen, beginnt zu ahnen, was Leben bedeutet, und rutscht – nach kurzem Aufblühen – weg.

Dieser Roman ist definitiv kein Krimi. Zwar gibt es den Mord von vor dreißig Jahren, den Ermittler, der ihn wieder aufrollt, und die Andeutung, dass es sich damals tatsächlich vollkommen anders verhielt, als die Kriminalpolizei vermutete. Aber das ist nicht wichtig. Das ist nur der Aufhänger für diese kaleidoskopartige Reflektion über das Verhältnis von Leben und Mord, über Lebendigkeit und die Abwesenheit von Leidenschaft. Die Geschichte ist konsequent nur aus Sicht des ältlichen Polizisten erzählt. Er springt von Thema zu Thema, achtet auf keine Chronologie, spricht mal den Leser, mal seinen Vorgesetzten oder auch jemand völlig Indifferenten an und wechselt das Tempus von Abschnitt zu Abschnitt. Eigentlich soll er einen Bericht für seine Dienststelle schreiben, doch das Ergebnis gleicht weit eher Tagebuchaufzeichnungen ohne zeitliche Verankerung.

Eingehens entschuldigt sich der Erzähler für dieses Vorgehen, sagt, er schriebe einfach alles herunter, wie es ihm einfiele, ohne dies später noch einmal korrigieren – aber das ist natürlich nicht der Fall. Der Roman ist äußert bewusst geformt. Es ist die Geschichte einer Grenzüberschreitung und der Auflösung des Ichs. Am Ende ist nicht mehr klar, wo Wahn und Wirklichkeit zu trennen sind, ob sie je zu trennen waren. Boogs namenloser Polizist versucht, sich in den Mörder einzufühlen – so lautet der Originaltitel auch viel treffender »Ik begrijp de moordenaar«, »Ich verstehe den Mörder« –, der Mörder, der für ihn der einzig vollkommene Mensch ist, und verliert sich darüber selbst.

Boogs Roman ist durchaus faszinierend und merkwürdig, sprachlich gut geformt, aber ihm fehlt der Mut zur letzten Konsequenz. Das macht ihn dann im Rückblick leider ein wenig banal.

Kirsten Reimers

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Mark Boog: Mein letzter Mord
(Ik begrijp de moordenaar, 2009)
Aus dem Niederländischen von Matthias Müller
Dumont 2012
geb., 158 Seiten, 18,99 Euro
ISBN 978-3-8321-9596-0
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Diese Rezension ist zuerst erschienen im CrimeMag


Von abgebrühter Dreistigkeit und poetischer Skurrilität

Hintergründig und bemerkenswert

Oliver Harris legt mit »London Killing« ein wunderbar abgebrühtes und unverfrorenes Debüt vor. Seine Hauptfigur Detective Constable Nick Belsey ist am Ende: Nach Jahren der Spielsucht und einem ausgewachsenen Alkoholproblem ist er nun so bankrott, dass er selbst aus seiner heruntergekommenen Unterkunft geworfen wird. Die Dienstaufsicht ist ihm auf den Fersen, und eigentlich ist er vom Polizeidienst suspendiert. Als die Meldung hereinkommt, dass ein russischer Milliardär vermisst wird, sieht Belsey seine Chance gekommen: Er nimmt die Identität des Vermissten an, schläft in dessen Haus und versucht, die Konten des russischen Oligarchen zu plündern, um sich ins Ausland abzusetzen. Allerdings muss er feststellen, dass er nicht der Einzige ist, der sich mit dem verschwundenen Milliardär beschäftigt. Und die Gegenseite ist weitaus skrupelloser als er.

Harris schreibt schön schnoddrig, schnell und frech mit einer guten Portion schwarzer Selbstironie. In knappen, verdichteten Bildern lässt er aussagekräftige Szenen entstehen. Seine Hauptfigur ist zwar strikt auf den eigenen Vorteil bedacht, aber nicht korrupt – im Gegensatz zu diversen anderen Polizisten in seiner Umgebung. Und Belsey – bei weitem kein charmantes Schlitzohr – nimmt nur Geld von Leuten, denen es nicht wehtut, weil sie genug davon haben. Darin wirkt er fast naiv im Vergleich zu seinen Gegenspielern, die keinerlei Rücksicht kennen. Im eiskalten Haifischbecken des internationalen Finanzplatzes London ist Belsey nur ein kleiner, aber ziemlich dreister Fisch. Ein erstaunliches und spannendes Debüt und ein wenig schmeichelhaftes Porträt der Finanzbranche und ihrer Triebfedern.

Schaurige Zukunftsvision

Arne Dahls neuer Thriller »Gier« ist gewissermaßen der Gegenentwurf zu Harris’ Debüt. Zwar gibt es auch hier korrupte Polizisten und Verbrechen im großen, internationalen Stil – aber nicht innerhalb der ermittelnden Gruppe. Bei ihr handelt es sich um eine blitzsaubere und äußerst engagierte Einheit bei Europol, die probeweise und im Geheimen operativ tätig wird (bislang ist Europol in erster Linie koordinierend tätig). Dabei erhält sie Unterstützung von allen euro- päischen Ländern. Entsprechend international ist sie bestückt, zudem geschlechtermäßig bewusst paritätisch besetzt. Arne Dahl hat in dieser Gruppe außerdem mehrere Mitglieder seines A-Teams, seiner bisherigen Ermittlereinheit, untergebracht.

Ganz anders als bei Harris geht es hier politisch sehr korrekt und – wie in vielen skandinavischen Krimis – etwas hölzern-pädagogisch zu. Neu und anders aber ist das Verbrechen: ein hochkomplexer Fall, der den gesamten Erdball umspannt, ohne dass die Hintermänner wirklich greifbar sind. Eine schaurige Zukunftsversion der global aktiven organisierten Kriminalität, die umso bedrohlicher wird, da legales und illegales Handeln auf nur schwer zu entwirrende Weise ineinandergreifen.

Gruseliger Mythos

Komplex ist auch das Geschehen in Fred Vargas’ neuen Roman »Die Nacht des Zorns«, vor allem aber ist es mehrbödig. Erneut greift Vargas ein Sagenthema auf, das sie in die Gegenwart einbindet: das Wütende Heer, hierzulande auch bekannt als die Wilde Jagd, in Frankreich auch Mesnie Hellequin genannt. Sie führt Kommissar Adamsberg in die Normandie, zum Pfad von Bonneval, wo schon 1091 ein normannischer Priester die L’Armée furieuse (so auch der Originaltitel des Buches) sah und das erste schriftliche Zeugnis davon ablegte. Der Sage nach reißt die Wilde Jagd Menschen mit sich, die Schuld auf sich geladen haben. Lina, eine junge Frau aus dem Örtchen Ordebec, erkennt in einer Vision, wie die Mesnie Hellequin vier Dorfbewohner verschleppt. Drei von ihnen kann Lina mit Namen benennen. Als der Erste von ihnen stirbt, ist die Aufregung in Ordebec groß, denn laut Überlieferung kann man sich von seiner Schuld befreien und dem Wilden Heer entkommen, indem man einen der anderen »Ergriffenen« tötet. Wer ist nun verantwortlich für den ersten Mord, dem weitere folgen sollen: der Seigneur Hellequin oder gibt es ganz handfeste Motive und einen vollkommen unmythischen Täter?

Erneut gelingt es Fred Vargas, eine etwas verschobene, leicht surreale Welt zu kreieren, die von absonderlichen, immer etwas überzeichneten Figuren bevölkert wird, durchzogen von feiner Ironie und beschwingter Leichtigkeit. Das verleiht ihren Büchern etwas wundervoll schwebend Unwirkliches, ohne dass sie an Glaubwürdigkeit verlieren.

Kirsten Reimers

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Oliver Harris: London Killing
Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
geb., 480 Seiten, 19,95 Euro
ISBN 978-3-89667-438-8
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Arne Dahl: Gier
Aus dem Schwedischen von Antje Rieck-Blankenburg
Piper 2012
brosch., 506 Seiten, 16,99 Euro
ISBN 978-3-492-05305-1
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Fred Vargas: Die Nacht des Zorns
Aus dem Französischen von Waltraud Schwarze
Aufbau 2012
geb., 453 Seiten, 22,99 Euro
ISBN 978-3-351-03380-4
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Diese Besprechung ist zuerst erschienen in der Frankfurter Neuen Presse.


Jenseits der Propaganda

Ein historischer Roman mit einer Mission – kann das gut gehen?

In der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 brennt der Reichstag in Berlin. Als Schuldiger wird noch vor Ort der Holländer Marinus van der Lubbe verhaftet, der von der NSDAP sofort als Kommunist gebrandmarkt wird. Schon am 28. Februar 1933 tritt die Reichstagsbrandverordnung – »zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte« – in Kraft, durch die die Grundrechte der Weimarer Verfassung weitgehend außer Kraft gesetzt werden. Einer der zentralen Schritte zur Abschaffung des Rechtsstaats.

In Robert Bracks Roman schickt in dieser Situation die Komintern die Kommunistin Klara Schindler mit falschen Papieren nach Berlin. Sie soll die Hintergründe des Brandes klären und möglichst viel über den Brandstifter herausfinden. Der Journalistin wird bald klar, dass es auch der KP nicht um die tatsächliche Wahrheit geht, sondern darum, den mutmaßlichen Attentäter als Werkzeug der Nazis dazustellen. Dem widersetzt sich Schindler, da sie auf Ungereimtheiten und Widersprüche stößt.

Bis heute ungeklärte Widersprüche

Wie Brack im Nachwort schreibt, geht es ihm in diesem Roman vor allem um die Person Marinus van der Lubbes und dessen Beweggründe. Dafür hat Brack sorgfältig recherchiert und die inzwischen bekannten Fakten – mehr Indizien als Beweise – zusammengetragen. Bis heute sind Tathergang und Motive weitgehend unbekannt. Ja, nicht einmal die Täterschaft steht mit Sicherheit fest: Nach den gängigen Theorien war der Holländer entweder ein wirrer, nahezu debiler Einzeltäter oder ein Werkzeug der KP beziehungsweise NSDAP – je nach Standort des Theoretikers –, der nur mit tatkräftiger und sorgfältig vorbereiteter Unterstützung einer der Organisationen den Reichstag in Brand setzen konnte.

Brack versucht, hinter die Propaganda von welcher Seite auch immer zu blicken. Dafür lässt er seine Journalistin kurz nach dem Anschlag durch Berlin streifen und mit den unterschiedlichsten Leuten sprechen. Jeder ihrer Gesprächspartner zeichnet ein anderes Bild van der Lubbes, mal wirkt der Holländer ungestüm, mal durchdacht, mal dumm, mal wie ein Aufrührer, mal wie ein Stratege – Fragen bleiben offen, Widersprüche ungelöst. Das ist gut gemacht, denn ohne eindeutige Beweise, nur allein auf Indizien gestützt, gibt es kein konsistentes Bild des mutmaßlichen Attentäters. Brack vermeidet auf diese Weise, etwas in den Holländer hineinzuinterpretieren und ihn in eine bestimmte Richtung zu drängen.

Fakten und Fiktionen

Klara Schindler begegnet bei ihren Recherchen historischen wie fiktiven Figuren, sie diskutiert mit Kommunisten ebenso wie mit Anarchisten und Syndikalisten und stößt sogar auf Vertreter einer vorgeblich antikapitalistischen Strömung innerhalb der NSDAP. Dabei werden nicht nur verschiedene Widerstandsstrategien gegeneinander abgewogen, es zeigt sich auch die Zersplitterung der Linken Anfang der dreißiger Jahre und ihre Konzeptlosigkeit angesichts von Hitlers Machtübernahme.

Hinsichtlich der Konstruktion ist der Roman durchaus ein wenig verkopft, doch Brack gelingt es, seine Figuren zu lebendigen Vertretern von Überzeugungen zu formen. So bleiben Diskussionen und Handlungen realistisch und lebendig, trockene Belehrungen werden vermieden. Die Gefahr – wie es gewesen sein muss, sich als Nazigegner im Berlin Anfang 1933 zu bewegen – bleibt stets spürbar. So legt Brack einen – spannenden – historischen Roman vor, der auf Fakten basiert und nicht nur von einer guten Absicht getragen, sondern zudem auch noch gut gemacht ist.

 

Kirsten Reimers

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Robert Brack: Unter dem Schatten des Todes
Edition Nautilus 2012
Tb., 221 Seiten, 13,90 Euro
ISBN 978-3-89401-752-1
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Website des Autors

Diese Rezension ist zuerst erschienen im CrimeMag


Das Lied des Blutes

Übersteigerte Grausamkeiten, stimmiges Konzept

1995, als die Kombination von Serienmörder und Profiler noch nicht ganz so ausgelaugt und plattgewalzt war wie heute, erschien Val McDermids Roman »The Mermaids Singing« (dt. »Das Lied der Sirenen«, 1997). Darin hat der klinische Psychologie Tony Hill, spezialisiert auf die Arbeit mit Sozio- beziehungsweise Psychopathen, seinen ersten Auftritt. McDermid erhielt für ihren Roman den Gold Dagger der britischen Crime Writers’ Association. Es war der Auftakt zu einer bis heute in lockeren Abständen erscheinenden Romanserie. Im Mittelpunkt steht dabei stets der Psychologe Hill, der die Polizei der fiktiven mittelgroßen Stadt Bradfield beim Aufspüren von Serienmördern unterstützt.

Sieben Jahre später startete auf Grundlage von McDermids Romanen die TV-Serie »Wire in the Blood« (dt. »Hautnah. Die Methode Hill«). In der allerersten Folge hat übrigens mit Val McDermid einen Miniauftritt als Journalistin, obskurerweise in der deutschen Fassung von einem Mann synchronisiert. Nur den ersten beiden Folgen liegen McDermids Romane zugrunde, danach löst sich die TV-Serie weitgehend von ihrer literarischen Vorlage. Lediglich die zweite Folge der vierten Staffel (»Torment«; dt. »Tödliche Worte«) orientiert sich lose an McDermids Roman »The Torment of Others« (dt. »Tödliche Worte«). 2008 wurde die TV-Serie eingestellt.

Worin liegt der Sinn?

Zentral in Büchern wie Verfilmung ist das Vorgehen des klinischen Psychologen: Es geht Dr. Tony Hill weniger darum herauszufinden, wie der Serienmörder zum Serienmorden gekommen ist. Das Wühlen in der Kindheit und entsprechende küchenpsychologische Verkürzungen bleiben so zum Glück weitgehend außen vor. Weit wichtiger ist immer die Frage, wie der Täter tickt. Hill versucht sich intensivst in den Täter hineinzudenken, um zu erkennen, was der Mörder mit seinen Taten erreichen will: Was geben ihm Mord und/oder Folter? Worin liegt der Sinn der Tat? Hill nähert sich dem mit einer interessierten Aufgeschlossenheit, ohne Entsetzen oder Mitgefühl, weit stärker ist die Faszination für die Taten. Natürlich wird dabei immer noch stark vereinfacht. Aber etwas Bemerkenswertes geschieht: Der Täter bleibt auf diese Weise Mensch. Er – in sehr seltenen Fällen ist es eine Täterin – wird weder zum reflexhaft zurückschlagenden Opfer noch zum wahnsinnigen Monster. Hinter den Taten steht eine eigene Logik, ein Bedürfnis, keine tierhafte Bestie. Na ja, zumindest ist dies bei der TV-Serie anfangs der Fall. Im Laufe der sechs Staffeln lässt das deutlich nach.

wire specials
Photographs by Alan Peebles.

Der persönliche Hintergrund der Ermittler wird nur so weit dargestellt, wie es zur knappen, aber eindeutigen Charakterisierung der Figuren notwendig ist. Auch von den Hauptfiguren erfährt man kaum mehr. Tony Hill (gespielt von Robson Green) ist ein sozial inkompetenter Workaholic ohne engere Kontakte oder gar Freundschaften, der sich nur knapp alltagstauglich organisieren kann. Lediglich zu der von Hermione Norris sehr schön spröde gespielten DCI Carol Jordan sowie zu ihrer etwas gefühligeren Nachfolgerin DI Alex Fielding (Simone Lahbib, ab der vierten Staffel) baut er ein geringfügig intensiveres Verhältnis auf, das aber auch überwiegend beruflich geprägt ist. Überhaupt scheinen Freizeit, Privatleben oder gar soziale Wärme Fremdworte in dieser Serie zu sein. Alles ist auf den jeweiligen Fall fokussiert, was nicht zwingend notwendig ist, bleibt außen vor. Zumindest bis zur vierten Staffel ist die Serie auf diese Weise überzeugend geradlinig kalt und distanziert. Danach verwässert das etwas. Was allerdings durchgehend bleibt, ist die außerordentliche Grausamkeit der Taten.

Übersteigerte Gewalt, stimmiges Konzept

Insgesamt ist die Handlung einer jeden Folge ungefähr so realistisch wie das Jüngste Gericht. Eine derartige Serienmörderdichte ist selbst für eine fiktive Stadt wie Bradfield alles andere als tragbar. Dennoch ist die TV-Serie über weite Strecken gut gemacht: Die Folgen – jeweils in Spielfilmlänge – sind weitgehend ordentlich geplottet, kaltes Licht und verwaschene Farben lassen zu keiner Zeit einen Anflug von Kuscheligkeit aufkommen, geschönt und geschmeichelt wird hier wenig. Die Bildsprache ist mitunter sehr reduziert und auf den Punkt. So herrschen Kühle und Distanz vor. Das passt hübsch zusammen, und das Konzept ist in sich stimmig. Sogar das Ende der TV-Serie, die letzte Szene der letzten Folge, ist schön durchdacht darauf abgestimmt.

wire specials
Photographs by Alan Peebles.

Seit Oktober 2011 liegen alle sechs Staffeln erstmals inklusive eines Serien Specials (»Prayer of the Bone«, dt. »Mörderisches Trauma«) auf DVD als Gesamtausgabe vor. Als Sprachen stehen Englisch wie Deutsch zur Verfügung, Untertitel gibt es leider nicht. Auch weitere Informationen zu Schauspielern, Synchronsprechern oder was auch immer sucht man vergeblich. Dies fügt sich zwar durchaus in das Konzept der kühlen, distanzierten Fokussierung auf schockierende Serienmorde ein, ist aber vermutlich eher das Resultat einer etwas lieblosen Produktion auf deutscher Seite.

Kirsten Reimers

 

 

 

Hautnah. Die Methode Hill – Die komplette Serie
(Wire in the Blood, 2002-2008)
Box mit 24 DVDs, Edel:Motion
Sprachen: Deutsch/Englisch
FSK: 18, 101,99 Euro

Offizielle deutschsprachige Seite von Val McDermid
Englische Homepage von Val McDermid

Diese Besprechung ist zuerst erschienen im CrimeMag.