Archiv für den Monat: November 2012

Besessen vom Tod

Aktuelle Krimis von Carl Nixon, Carl Hiaasen und Jim Thompson

In der Nähe von New Brighton, einer Vorstadt von Christ- church, Neuseeland, wird mit der Flut die Leiche eines Mädchens an Land gespült, vergewaltigt und erwürgt. Mit diesem Tag verändert sich für eine Gruppe von Jungen alles. Sie kannten das Mädchen flüchtig, es war zwei, drei Jahre älter als die Teenager, ging auf die gleiche Schule, arbeitete im Lebensmittelgeschäft der Eltern. Aus der anfänglichen Trauer wird eine Besessenheit: Das ganze Leben der Jugendlichen ordnet sich von nun an der Suche nach dem Mörder unter.

Unter den Kriminalromanen aus Neuseeland, dem diesjährigen Gastland der Buchmesse, sticht »Rocking Horse Road« von Carl Nixon deutlich heraus. Konsequent aus der Perspektive der Gruppe Jugendlicher geschrieben, stets beim »wir« bleibend, nie zur Einzelsicht wechselnd, ist der Roman ist nicht nur eine Schilderung des Erwachsenwerdens und ein Porträt der neuseeländischen Gesellschaft der achtziger Jahre, er zeigt auch, wie dünn die Schicht der Zivilisation ist: Gewalt steckt in jedem, es braucht nicht viel, um sie hervorbrechen zu lassen. Ein Roman, der tiefe Spuren hinterlässt und lange nachwirkt.

Schräge Glamourwelt

Beeindruckend auf ganz andere Weise ist der aktuelle Roman von Carl Hiaasen: In »Sternchenhimmel« verpasst Hiaasen der Popmusikindustrie munter gut gezielte Seitenhiebe. Bei ihm ist Los Angeles’ Glamourwelt – die auch sehr unglamourös daherkommen kann – bevölkert von wunderbar seltsamen Figuren: zum Beispiel einem Popsternchen, das nicht singen, aber dafür exzessive Rauschmittel einwerfen kann, einem besessenen Paparazzo, der die Falsche entführt, einem megaharten Bodyguard mit eingebauten Rasentrimmer, zur Gesichtsstarre gebotoxte PR-Zwillinge, einem Exgouverneur mit improvisierten Dreadlocks auf Rachefeldzug und diverse mehr. Sie alle agieren mit- und gegeneinander, um an Geld, Drogen, Ruhm und Ähnliches zu kommen. In seiner schrägen Überdrehtheit ein sehr kluger Kriminalroman, der seine wirklichen treffenden Spitzen in lässiger Beiläufigkeit verteilt.

In den Abgrund

Charlie Bigger ist klein, höflich, unauffällig und ein Profikiller. Unter dem Namen Carl Bigelow quartiert sich er im College-Städtchen Peardale ein, um im Auftrag eines Gangsterbosses einen Kronzeugen zu erledigen. Bigger wird als der »tödlichste Killer der Kriminalgeschichte« beschrieben: Obwohl er seit Jahrzehnten im Geschäft ist, haben die Ermittlungsbehörden weder Foto noch Fingerabdruck von ihm. Doch wie das so ist mit den letzten Aufträgen: Sie enden fatal. Von einer tödlichen Krankheit von innen her langsam zerfressen, zwischen zwei Frauen hin- und hergerissen und beide manipulierend, verliert Bigger mehr und mehr die Kontrolle über seinen Auftrag, über seine Handlungen und seinen Verstand.

»In die finstere Nacht« hat Jim Thompson bereits 1953 geschrieben, doch erst in diesem Jahr erschien es in deutscher Übersetzung. Rau, dunkel und ungeschönt zeichnet Thompson eine Welt, in der jeder jeden manipuliert, belügt und hintergeht. Zunächst angelegt wie ein typischer Roman des Noir, wird die Erzählung zunehmend fiebriger und abgründiger, um schließlich alle Dimensionen zu sprengen. Wow.

Kirsten Reimers

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Carl Nixon: Rocking Horse Road
(Rocking Horse Road, 2007)
Aus dem Englischen von Stefan Weidle
Weidle Verlag 2012
geb., 238 Seiten, 19,90 Euro
ISBN 978-3-938803-50-9

Carl Hiaasen: Sternchenhimmel
(Star Island, 2010)
Aus dem Englischen von Marie-Luise Bezzenberger
Manhattan 2012
Tb., 398 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-442-54693-0
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Jim Thompson: In die finstere Nacht
(Savage Night, 1953)
Aus dem Englischen von Simone Salitter
und Gunter Blank
Wilhelm Heyne Verlag 2012
Tb., 272 Seiten, 9,99 Euro
ISBN 978-3-453-67611-4
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Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in der Frankfurter Neuen Presse.


Ein Hauch von Nichts

Eli und Charlie sind die berühmt-berüchtigten Sisters-Brüder: Killer im Dienst des sogenannten Kommodore. In seinem Auftrag reiten sie nach Kalifornien, um einen Goldsucher mit dem Namen Hermann Kermit Warm umzubringen, der den Kommodore angeblich bestohlen hat. Unterwegs treffen die beiden Brüder eine Menge seltsamer Menschen und erleben eine Menge seltsamer Dinge.

Erzählt wird die Geschichte von Eli Sisters, dem grüblerischen und meist gutmütigeren der beiden Auftragsmörder. Selbst die groteskesten Dinge berichtet er mit einer naiven, etwas verplapperten Ernsthaftigkeit, was diesem Neowestern einen ironisch-distanzierten Unterton gibt, wie natürlich überhaupt mit dem Genre Western ironisch umgegangen wird.

Die Reise der beiden Brüder führt mitten hinein ins Herz einer von Gewalt, Alkohol und Gier besoffenen Welt. Es wird eine Menge Geld und Gold gewonnen und verloren, es wird ziemlich viel gesoffen und reichlich gemordet, manches ist eklig. Aber das alles ist keine große Sache, alles passiert eher en passant – abgesehen von dem Moment am Leuchtenden Fluss, der rauschhaftes Glück bedeutet und gleichzeitig den Tod bringt. Und doch bleibt nichts am Ende haften, weder bei den Brüdern noch beim Leser. Vielleicht gerade wegen der verschwatzten Beiläufigkeit von allem und jedem zerrinnt auch der Roman als Ganzes letztendlich im verplapperten Nichts.

Kirsten Reimers

Patrick deWitt: Die Sisters Brothers
(The Sisters Brothers, 2011)
Aus dem Amerikanischen von Marcus Ingendaay
München: Manhattan 2012
Hc, 348 Seiten, 17,99 Euro
ISBN 978-3-442-54700-5
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

 Diese Besprechung ist zuerst erschienen im CrimeMag.


Beklemmend, hochkomisch und extrem cool

Neue Kriminalromane von Iain Levison, Stuart MacBride und Don Winslow

Es erinnert an Franz Kafkas »Prozess«: Eines Tages wird der Taxifahrer Jeff Sutton verhaftet – und er weiß nicht warum. Den Grund sagt man ihm lange nicht, dafür aber erfährt er Demütigungen von Seiten der Polizei und der Justizbehörden. Nicht einmal sein Anwalt hört ihm zu. Dabei ist alles, was gegen Sutton spricht, ein Daumenabdruck an einem Fensterrahmen. Dieser allein reicht aus, ihn der Entführung und Ermordung eines kleinen Mädchens anzuklagen.

»Hoffnung ist Gift« von Iain Levison ist ein beunruhigender Roman von klaustrophobisch-bedrängender Wirkung. In klaren, einfachen Sätzen schildert der Autor aus der Perspektive Jeff Suttons, wie das Vertrauen in das Justizsystem zusammenbricht: Ihm, dem unschuldig Vorverurteilten, kommt kein überzeugter Anwalt mit Idealen zu Hilfe. Kein aufrechter Polizist ist an der Wahrheit interessiert. Was Gerichtsserien dem Zuschauer weismachen wollen, der Glaube an Recht und Gerechtigkeit, wird hier unterlaufen: Einmal in den Mühlen gefangen, gibt es kaum einen Weg hinaus, denn es ist egal, ob Sutton der Täter ist oder nicht: Er könnte es sein. Und das allein reicht Polizei wie Justiz schon. Ein beklemmender Roman, der einen nicht so schnell wieder loslässt.

Bitterböse, düster und hochkomisch

Erneut schickt Stuart MacBride in »Knochensplitter« seinen Detective Sergeant Logan McRae von der Grampian Police auf Verbrecherjagd: Alison McGregor und ihre kleine Tochter Jenny sind entführt worden. Beide sind als Duo im Halbfinale einer Castingshow – entsprechend groß ist die öffentliche Wirkung dieses Verbrechens. Von verrückten Stalkern über falsche Freunde bis zur Theorie, das sei nur ein PR-Trick findet sich alles im medialen Wahnsinn, der immer höher kocht – zumal auch die Entführer sich ausschließlich an die Zeitungen wenden.

Stuart MacBrides siebter Kriminalroman um den glücklosen DS McRae ist nicht ganz so überdreht wie mancher seiner Vorgänger, dafür aber bitterböse, sehr düster und hochkomisch. Er nimmt den in sich ja sowieso schon grotesken Medienzirkus der Castingshows ins Visier und denkt ihn ebenso logisch wie zynisch weiter. Das Ergebnis ist vermutlich realer, als man wahrhaben möchte. Aber immerhin: Dieses Mal scheint sogar McRae endlich einmal Anerkennung zu erfahren – allerdings ist der Preis dafür sehr hoch. Eine ganz grandiose Krimireihe, die mit jedem Band besser und dunkler wird.

Extrem cool, spannend und kraftvoll

Mit »Zeit des Zorns« gelang Don Winslow im letzten Jahr ein großer (und sehr verdienter) Erfolg. Derzeit wird der Roman von Oliver Stone verfilmt. Mit »Kings of Cool« legt Winslow nun die Vorgeschichte vor – aber das Buch ist weit mehr als einfach ein Prequel. Schnell, knapp und hart wechseln erzählte Passagen im Präsens mit Listen, lexikonartigen Einträgen, detailgenauen Schilderungen, etymologischen Herleitungen oder lyrischen Einsprengseln, quizartige Fragen finden sich genauso wie drehbuchartige Szenen, geschrieben in einer Sprache, die ebenso poetisch, cool wie präzise ist.

Diese Splitter fügen sich zusammen zu einem Bild der USA jenseits der offiziellen Geschichtsschreibung. Winslow zeigt die Verquickungen von Drogen, organisiertem Verbrechen, Staatsmacht und Militär und zeichnet die Veränderungen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft anhand des Drogengeschäfts nach. Er seziert eine Generation, die »love and peace« wollte und auf die Seite der Drogenunternehmer wechselte. Und er zeigt die Generation, die dies Erbe antritt. Ein faszinierendes, spannendes und extrem cooles Buch.

Kirsten Reimers

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Iain Levison: Hoffnung ist Gift
(The Cab Driver, 2011)
Aus dem Englischen von Walter Goidinger
Deuticke 2012
geb., 255 Seiten, 17,90 Euro
ISBN 978-3-552-06194-1
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Stuart MacBride: Knochensplitter
(Shatter the Bones, 2011)
Aus dem Englischen von Andreas Jäger
Manhattan 2012
Hc., 510 Seiten, 19,99 Euro
ISBN 978-3-442-54699-2
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Don Winslow: Kings of Cool
(Kings of Cool, 2012)
Aus dem Englischen von Conny Lösch
Suhrkamp 2012
Hc., 349 Seiten, 19,95 Euro
ISBN 978-3-518-46400-7
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 Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in der Frankfurter Neuen Presse.


Auf den Spuren der Vergangenheit

Langjährige Verletzungen

Vor 17 Jahren verschwand Stephanies kleine Schwester Gemma. Eine Leiche wurde nie gefunden. Die Familie zerbrach darüber. Heute arbeite Stephanie als Psychiaterin in einer Privatklinik. Als eine Patientin nach einem Selbstmordversuch eingeliefert wird, entdeckt Stephanie auffällige Parallelen: Auch die kleine Schwester von Beth verschwand eines Tages spurlos. Zum ersten Mal findet Stephanie einen Hinweis auf einen möglichen Täter. Daraufhin macht sie sich auf die Suche nach Antworten.

Verdrängte Schuldgefühle

In Paddy Richardsons Thriller »Komm, spiel mit mir« geht es weniger um ein Verbrechen als vielmehr um dessen Auswirkungen auf Gemmas Familie: Das Geschehen wird überwiegend mit Blick auf Stephanie und deren Empfinden geschildert. So engagiert diese sich zwar sehr für ihre Patienten, doch die eigenen Verletzungen hat sie verdrängt: Immer noch leidet sie an starken Schuldgefühlen wegen des Verschwindens ihrer kleinen Schwester, ihr Verhältnis zu ihrer Familie, besonders zu ihrer Mutter, ist sehr angespannt, und sie kann sich auf keine Liebesbeziehung einlassen. Ebenso ist Stephanies Suche nach demjenigen, der ihre Schwester einst entführte, in erster Linie eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Schmerz und eine Selbsttherapie: Stephanie bricht aus gewohnten Strukturen aus, macht neue Erfahrungen, lernt zu leben und söhnt sich schließlich sogar mit der Mutter aus.

Einfühlsam, doch vorhersehbar und langatmig

Paddy Richardson erzählt Stephanies Geschichte mit viel Einfühlungsvermögen, routiniert und handwerklich gekonnt, aber doch sehr vorhersehbar und etwas langatmig. Dass das Buch in Neuseeland spielt, fällt kaum auf: Orte und Landschaften sind austauschbar und haben keinerlei Relevanz für das Geschehen. Das Gleiche gilt sogar für das Verbrechen: Was tatsächlich vor 17 Jahren geschah, was aus Gemma wurde, bleibt unklar. Ein Thriller, wie auf dem Cover behauptet, ist das Buch deshalb eher nicht. Vielmehr ist »Komm, spiel mit mir« ein Roman über eine Selbstfindung, der als solcher aber wenig Unerwartetes, Bewegendes oder gar Weiterführendes bietet.

Kirsten Reimers

Paddy Richardson: Komm, spiel mit mir
(Hunting blind, 2010)
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Droemer 2012
geb., 431 Seiten, 19,99 Euro
ISBN 978-3-426-19918-3
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Diese Besprechung ist zuerst erschienen im Buchmessen-Special der ARD