Archiv für den Monat: November 2008

Ein totes Pferd erneut im Rennen

Nun kann auch Henry James Superintendent Jury nicht mehr retten

Als ich das Rezensionsexemplar des aktuellen Martha-Grimes-Krimis bestellte, hatte ich schon eine Idee, wie ich die Besprechung beginnen wollte: „Einen Inspektor-Jury-Krimi zu lesen ist, wie ein Familienfest zu besuchen. Man weiß, was einen erwartet, man kennt die anderen Gäste sehr genau, ist vertraut mit ihrer Geschichte, hat ihre Geschichten oft gehört.“ Danach wollte ich eingehen auf mein Verhältnis zu den Büchern von Grimes, dass ich die ersten Krimis, damals vor bald zwanzig Jahren, mit Freude verschlungen hatte: „Inspektor Jury schläft außer Haus“, „… spielt Domino“, „… sucht den Kensington-Smaragd“. Das war wie Agatha Christie, nur viel, viel besser. Witziger, lebendiger, moderner.

In meiner Wunschrezension wollte ich ausführen, wie mich aber dann die ersten Zweifel beschlichen: die Morde so unnötig blutig, nur mäßig motiviert, die Logik stiefmütterlich behandelt – alles nur um möglichst viele Leichen möglichst schaurig in der englischen Landschaft zu drapieren. Ich wollte erzählen, wie ich mich langsam von Grimes abwandte, jahrelang kein Buch von ihr in die Hand nahm und es erst vor ein paar Jahren wieder mit ihr versuchte. Und siehe da: Es war gar nicht so schlecht. Die Morde etwas besser begründet, die Verbrechen nicht mehr so theatralisch.

Am Ende der Besprechung wollte ich wieder auf den Vergleich vom Anfang zurückkehren – ungefähr so: „Ja, Krimis von Martha Grimes zu lesen ist, wie ein Familienfest zu besuchen: Man weiß sehr genau, was passieren wird, doch man hat die anderen Gäste ins Herz geschlossen. Man ist so vertraut mit ihnen, dass man sie wiedersehen möchte und sich schon auf das nächste Treffen, das nächste Buch freut.“ Das sollte der Tenor sein.

Natürlich wollte ich auch zwischendrin auf das aktuelle Buch eingehen. Und da beginnen nun meine Probleme. Der neue Krimi ist richtig schlecht. Und nicht nur der Plot.

Viel hilft nicht unbedingt viel

Im Laufe der Jury-Krimis – der gegenwärtige ist ungefähr der 21., ich habe den Überblick verloren – ist ein recht stattliches Personal zusammengekommen, das immer weiter mitgeschleppt wird. Und da jede Figur ihren kurzen Auftritt bekommt, schwillt die Geschichte allein deswegen reichlich an. Das war anfangs nett, als die Schar der Personen noch übersichtlich war. Ihre Schrulligkeit hat sehr viel Spaß gemacht. Doch nach einundzwanzig Büchern ist selbst die schrulligste Schrulligkeit langweilig geworden und der witzigste Running Gag hat seinen Drive verloren. Die charmant-boshafte Lästerrunde im dörflichen Long Piddleton ist längst zum schalen Stammtisch verblasst, und aus Tante Agathas Gier kann auch kein Eremit oder Ziegenbock noch eine lustige Seite herauskitzeln.

Und dann die ganzen Erinnerungen an alte Fälle. Herrje, ich hab doch keine zwanzig Romane – oder mehr – im Kopf, um nach zwanzig Jahren noch zu wissen, wer denn jetzt wer ist oder war. Dazu kommen haufenweise Klischees: Natürlich müssen aufgeweckte, altkluge Kinder – die schon viel durchgemacht haben – eine wichtige Rolle spielen: gegenüber Jury vertrauensvoll, gegenüber Melrose Plant herablassend. Nicht zu vergessen die Hunde. Seit dem letzten Buch sind es drei Stück, die stets erwähnt werden müssen. Außerdem ein Kater. Dazu kommen dann noch pfiffige alte Leute, die keine Gehhilfe brauchen, weil sie vom Korsett der Klischees sehr stabil aufrecht erhalten werden. Zum Glück sind zumindest die Szenen mit Mrs. Wasserman nicht mehr so rührselig wie früher.

Damit sind dann schon einmal achtzig Prozent der Seiten gefüllt. Bleiben noch zwanzig für das Verbrechen. Natürlich Mord. Mindestens einer. Im letzten Buch – »Inspektor Jury kommt auf den Hund« – war das eigentlich ganz charmant gelöst: Stringtheorie, Quantenphysik, sprechende Hunde, Schrödingers Katze. Das war zumindest recht ungewöhnlich und hübsch abstrus. Natürlich überkonstruiert, aber bei Krimis, die in der Tradition von Agatha Christie stehen, ist das selbstverständlich Programm. Auch der aktuelle Krimi ist überkonstruiert, aber auf eine schwerfällige und langweilige Art. Nett sind nur die Verweise auf Henry James und die Verschachtelung der Auflösung. Nach zwanzig Inspektor-Jury-Büchern spielt Frau Grimes mit den Elementen des Krimis, das sei ihr gegönnt. Schöner wäre es, sie würde es etwas besser beherrschen.

Und manchmal ist weniger mehr – zumindest an den richtigen Stellen

Was dem Buch aber letztendlich den Todesstoß gibt, ist die Übertragung ins Deutsche (vom geschmacklosen Titel – so er sich denn auf den Inhalt bezieht – mal ganz zu schweigen). Die Bücher von Grimes landen immer zügig auf der Bestsellerliste des Spiegels. Sie verkaufen sich also nicht schlecht. Der Verlag dürfte ein wenig Geld damit verdienen. Dann muss doch auch etwas übrig sein, um es in das Lektorat der Texte zu stecken. Die Übersetzerin ist gut, keine Frage, aber nicht so gut, dass sie ohne Redaktion auskäme. Der Text ist überfrachtet mit orthografischen Fehlern, grammatikalischen Patzern, stilistischen Eiertänzen und Stilblüten in einer Pracht, dass man ganze Bankettsäle damit schmücken könnte.

Was nett begann, hat sich totgelaufen. Ich lasse es erneut mit Grimes sein – und ob ich es später noch einmal mit ihr probiere, das ist fraglich. Schließlich wird die gute Frau aus Pittsburgh auch nicht jünger. Ob sie mit ihren 71 Jahren noch einmal die Richtung wechselt, steht in den Sternen. Und eine Rezension zu „Inspektor Jury lässt die Puppen tanzen“ werde ich auch nicht schreiben.

Kirsten Reimers

Martha Grimes: Inspektor Jury lässt die Puppen tanzen
Deutsch von Cornelia C. Walter
Goldmann 2008, 384 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-442-31125-5


Alpenidylle mit blutiger Axt

Wer nur hasste den unauffälligen Franz Kreuziger? Und warum?

Anfang der siebziger Jahre: In einem abgelegenen österreichischen Bergdorf wird die Leiche von Franz Kreuziger gefunden. Der Sohn des ehemaligen Bürgermeisters wurde mit einer Axt niedergestreckt – im Wald. Und der Wald, so der ermittelnde Kriminalbeamte, der Wald macht alles verworrener.

Der archaische Charakter der Tat schien auf großen Hass hinzudeuten, der immer schon bestanden hatte und plötzlich, weil die Möglichkeit sich auftat, seinen Weg nach draußen fand, in die Wirklichkeit. Wenn dieser Mord nicht im Wald geschehen wäre! Überall, nur nicht im Wald! Der Wald war ein rätselhaftes Element, in dem alles geschehen konnte. Viele trieben sich dort herum und keiner hatte dort ein Geschäft. Der Wald war Niemandsland. Dort war alles unklar.

Das Opfer war ein scheuer, zurückgezogen lebender Mann. Dennoch scheinen gleich mehrere Personen als Täter in Frage zu kommen: zum Beispiel die alte Mühlbacherin. Sie hatte einst ein Kind, geboren am selben Tag wie Franz. Doch weil es behindert war, wurde es – damals, als Österreich heim ins Reich geholt worden war – auf Anordnung des damaligen Bürgermeisters Kreuziger »weggeschafft«. Der Mord an dessen Sohn als eine späte Rache? Aber auch der Maler Mannlechner, nicht unbekannt in der Welt außerhalb des Dorfes, benimmt sich sonderbar, ebenso der Pfarrer, der lieber dem Alkohol zuspricht und an Gott leidet, als sich um seine Gemeindeschäfchen zu kümmern. Und dann ist da noch der dominante Vater des Opfers, seine Ehefrau sowie der verhaltensauffällige Halbstarke des Dorfes. Allesamt verschrobene, sehr, sehr eigene Charaktere.

Blickdicht ist der Wald, ebenso die Dorfbewohner

Für den namenlosen Ermittler, den Ich-Erzähler, ist alles ein undurchsichtiges Gewirr, das ihm niemand öffnet, denn er ist ein Zugezogener. Unerheblich, dass er schon seit Jahren, Jahrzehnten im Dorf lebt. Aber auch der Ermittler ist eine opake Gestalt. Einst einer »der besten Absolventen der Polizeischule, die es je gegeben hat«, wurde er schon in seinem ersten Fall zum stellvertretenden Dorfpolizisten degradiert. Weil er mächtigen Menschen auf die Füße getreten ist. Damals sollte er das Verschwinden seines Vorgängers aufklären, der eines Tages einfach nicht mehr da war. Ermordet, lautet die offizielle Version, geflüchtet (und später unter absonderlichen Umständen – Haarballen! – gestorben), das unliebsame Ermittlungsergebnis des namenlosen Wachmanns. Inzwischen hat er sich nahezu aufgegeben, lebt mit Einsamkeit, Kräuterschnaps und dem Foto einer ihm unerreichbaren Frau. Von der Aufklärung des Mordes erhofft er sich Rehabilitation, vielleicht gar eine Karrierechance.

Aber die Ermittlungen gestalten sich obskur. Wie überhaupt alles obskur ist. Engel, der Assistent des Wachmanns, entwickelt sich im Laufe des Buches vom depperten Hilfspolizisten, »der mit seinen fast vierzig Jahren fast noch ein Kind« ist, zum prügelnden »bad cop« und schließlich zum aalglatten Karrieristen mit geschliffner neoliberaler Diktion. Der Teenager Hans Peter Kollani – der als der wildeste Junge im ganzen Dorf gilt und schon vor dem Gericht stand, weil er in der Stadt ein Auto geknackt hat – reflektiert, nachdem er unter Verdacht geraten ist und seine beiden jüngeren Brüder in einer vollkommen aus dem Ruder gelaufenen Polizeiaktion getötet worden sind, über seine Motivation und stellt sie in einen gesellschaftlichen Kontext. Situationen verlängern sich ins Albtraumhaft-Surreale. Zeit und Raum verlieren sich. Das erinnert an den magischen Realismus. Gleichzeitig herrscht ein sehr schwarzer, morbider, untergründiger Humor.

Bodenständig zwischen Traum und Realität

Das ergibt eine wunderbar absonderliche, naturalistisch-surreale Atmosphäre, undurchsichtig und rätselhaft, in der die Bigotterie und die Enge innerhalb des Dorfes ohne anklagenden Zeigefinger spürbar werden. Und auch die Krimihandlung kommt nicht zu kurz, man muss nur einsehen, dass es notwendige Neben- und Abwege gibt, und den Figuren folgen, wenn sie ihre Eigenarten aus- und überreizen und sich selbst in Frage stellen. Ein sehr gelungenes Debüt.

Kirsten Reimers

 

Peter Oberdorfer: Kreuzigers Tod
dtv 2008, 272 Seiten, 8,95 Euro
ISBN 978-3-423-21065-2

Diese Besprechung ist auch erschienen auf satt.org


Waschen, Schneiden, Morde klären

Mordermittlungen zwischen Glätteisen und Kokosextrakt

Tomas Prinz ist ein Starfrisör. Sein exklusiver Salon liegt im Münchner Glockenbachviertel, seine Kunden rekrutieren sich aus der bayerischen Schickimickiszene, manche kommen sogar extra aus dem Ausland, nur um sich von ihm die Haare machen zu lassen. Als Frisör ist er Vertrauter und Außenstehender zugleich. Bei ihm laufen Klatsch und Tratsch zusammen. Perfekte Ausgangsbedingungen für einen Ermittler – denn das macht Prinz nebenbei auch noch. Eher unabsichtlich. Er rutscht da halt so rein.

Frisch frisiert in den Tod

Der erste Fall, in den er verwickelt wird („Der Frisör“, ist der Mord an einer Beauty-Redakteurin. Alexandra Kaspari leitet das Ressort Kosmetik und Schönheit bei der Frauenzeitschrift „Vamp“. Kurz bevor sie in ihrem Büro erschlagen wird, war sie bei Prinz im Salon.

Die brünetten Haare, sonst kräftig, waren Strippen ohne Spannung und Leben, wie tot.

Prinz bringt ihre Haare in Form und färbt sie weißblond – aber auch das kann nichts mehr retten: Wenige  Stunden später wird sie getötet. Der Frisör nimmt die Ermittlungen auf – eher zufällig, eher zögernd, aber erfolgreicher als die zuständige Kommissarin, denn er – geübt im freundlich-aufmerksamen Geplauder – nimmt sich Zeit, hört zu, hakt nach. Und nie verliert er seinen Blick für Frisuren, Farben, Haarbeschaffenheit. Zum Kopf seines Gegenübers wandert sein erster Blick, darum kreist sein erster Gedanke. Dieser Zugang zum Menschen über die Haare ist wunderbar und sehr überzeugend.

Der Starfrisör – schwul, mit eigener Haarpflegelinie, dem Züricher Geldadel entstammend; die karrierebewusste Beauty-Redakteurin – zickig und nicht zimperlich im Umgang mit Konkurrentinnen; das lädt regelrecht ein zu Mauscheleien und einem Klischeebombardement. Doch Christian Schünemann lässt sich nicht beirren und weicht diesen Fallen geschickt aus. Seine Figuren bleiben lebendig, wohlfrisiert und weit entfernt von Abziehbildern, unprätentiös und elegant von Schünemann in Szene gesetzt.

„Der Frisör“ ist Schünemans Debüt, charmant und nett – doch auch mit den Kinderkrankheiten eines Erstlings befallen: dem Zuviel und den nicht notwendigen Abschweifungen; das stört mitunter. Sein zweiter Roman, „Der Bruder“, ist sehr viel stringenter. Gibt es hier einen Seitenweg, dann hat er in irgendeiner Form mit dem Fall zu tun. Das ist prima und macht beim Lesen viel Freude.

Unerwartete Extensions

Der zweite Fall geht Tomas Prinz sehr viel näher: Vor ihm steht unerwartet ein Mann, der behauptet, sein Halbbruder zu sein, Frucht einer verschwiegenen Liaison von Vater Prinz mit einer ehemaligen Angstellten. Und kaum hat sich der Frisör mit der Idee, einen Bruder zu haben, angefreundet, ist der auch schon tot. Doch der Reihe nach.

Jakob Zimmermann, so heißt der Halbbruder, ist Künstler, Maler, doch leider erfolglos, darum verdingt er sich als Anstreicher. Tomas‘ Schwester Regula ist sofort begeistert von ihm, doch der Frisör bleibt skeptisch: Sind sie wirklich miteinander verwandt oder will der Kerl nur ans – nicht unerhebliche – Prinz’sche Erbe? Doch auch Mutter Prinz gibt nach und nach zu, dass da mal etwas war, eine Affäre ihres Mannes, die sie verdrängt hatte. Sie willigt ein, den jungen Mann kennenzulernen. Gleichzeitig gelingt es durch die Vermittlung von Aljoscha, Tomas Prinz‘ Lebenspartner, der in einer Moskauer Galerie arbeitet, sämtliche Bilder von Jakob Zimmermann an einen reichen russischen Fischhändler zu verkaufen.

Jetzt könnte alles gut werden. Doch das wird es nicht.

(…) im ersten Moment dachte ich, er treibe einen Scherz. Jakob kniete vor einem Farbeimer,  merkwürdig x-beinig, die Arme hingen kraftlos zu den Seiten. Mit dem Kopf aber steckte er, als wäre es ein altmodisches Waschbecken für eine Haarwäsche, vornübergebeugt im Eimer. Mit drei Schritten war ich bei ihm.
„Jakob, was tust du denn da?,“ rief ich.

Doch zu spät. Jakob Zimmermann ist tot. Ertränkt. In Farbe.

Vielleicht doch lieber Strähnchen?

Deutlich geschickter als im ersten Buch verwebt Schünemann Themen und Handlungen, auch Seitenstränge führen wieder zum Eigentlichen zurück. Das ist sehr schön zu lesen, sehr konzentriert, sehr gelungen, denn es wirkt auch nicht zu zielfixiert. Wie im ersten Krimi vermeidet Schünemann platte Klischees, obwohl auch diesmal die Eisdecke sehr dünn ist: der neureiche Fischhändler mit schlechtem Haarschnitt und dem rein finanziellen Interesse an Kunst; die gierige Galeristen, die ihre Künstler ausbeutet; überhaupt die Kunstszene in München oder auch Moskau. Doch Christian Schünemann und mit ihm Tomas Prinz bleiben bescheiden und freundlich. Prinz macht Aljoschas alter Babuschka im Moskauer Plattenbau genauso sorgfältig die Haare wie einer bekannten Schauspielerin in München. Und Schünemann verhält sich zuvorkommend gegenüber seinen Figuren: Sie dürfen Menschen sein, werden nicht zu Pappfiguren degradiert

Und doch, bei aller Freundlichkeit, Stringenz und Durchdachtheit: Es fehlt etwas, es bleibt ein Gefühl der Leere und Blutlosigkeit zurück. Vielleicht ist das alles zu artig, vielleicht fehlen ein paar grelle Klischees, ein paar überdrehte Fiesheiten. Denn obwohl die Romane solide Whodunits sind und eine bodenständige Spannung liefern – ein bisschen langweilig sind sie schon.

Kirsten Reimers

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Christian Schünemann: Der Frisör
Diogenes Verlag 2006, 253 Seiten, 11 Euro.
ISBN: 978-3-257-23509-8
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Christian Schünemann: Der Bruder. Ein Fall für den Frisör
Diogenes Verlag 2008, 288 Seiten, 8,90 Euro
ISBN: 978-3-257-23723-8
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Diese Besprechung ist auch erschienen auf satt.org