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Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein

Witzel, Walter und Meinecke rekonstruieren ihre BRD

Jubeljahr 2009: 60 Jahre Bundesrepublik, 20 Jahre Mauerfall. Staatstragende Festlichkeiten und gravitätische Gedenk- veranstaltungen allerorten. Eine etwas andere Erinnerung bietet das Buch von Frank Witzel (Schriftsteller, Musiker, Illustrator), Klaus Walter (Radiomoderator, DJ, Journalist) und Thomas Meinecke (Schriftsteller, Musiker, Radio-DJ). Nach ihrem Gesprächsband »Plattenspieler« aus dem Jahr 2005, in dem Pop die Weltdeutungsmatrix gab, ist es nun die Frage »Was bedeutet für uns BRD?«, die als Gegenstand der Unterhaltung der drei Männer Jahrgang ’55 dient.

FW: Ich möchte doch nur darüber reden. Obwohl du das alles durchschaut hast und ich nicht gerührt war, waren das trotzdem Punkte, die für die BRD von Bedeutung waren.
TM: Aber nicht für meine BRD. Wir machen doch kein Buch für irgendwelche Spießer da draußen, die sagen: Das war toll, als der endlich mal mit Turnschuhen da reinging [Joschka Fischers Vereidigung als erster grüner Minister einer hessischen Landesregierung 1985]. Das ist einfach nicht meine BRD.
FW: Thomas, Thomas, wir wollen doch über unsere BRD reden.
KW: Steile These wäre, dass dieser Turnschuhmoment schon das Ende der BRD war.
FW: Aber dann wär’s ja ein doller Moment.
KW: Ein Zeichen, hier mischt sich jetzt die Gesellschaft neu, und hier gibt es jetzt neue Allianzen.
TM: Das finde ich nicht. Das war einfach die Klimax des Zweitausendundeinshaften.
KW: Du meinst den Laden jetzt.
TM: Ausverkauf von Dingen, die einem eigentlich etwas bedeuten

Adenauer neben dem Rosenbusch, Nazis unter den Lehrern, Günter Grass und der beleidigte Gestus, Franz Josef Strauß, Beate Klarsfeld, Kiesinger, Adorno, die Grünen, der Katholizismus, natürlich die RAF, ’68, die Frage, wann Nacktheit von Befreiung zum Zwang mutierte, selbstverständlich Musik – die drei versuchen festzumachen, welche Bilder und Ereignisse, welche Erfahrungen und Gefühle sie mit der BRD verbinden. Im Vordergrund steht der politische Blick, Generationengeplapper wie der Austausch über Spielzeug oder Fernsehserien soll – so Klaus Walter im Vorwort – vermieden werden. Er räumt aber selbst ein, dass das nicht immer gelingt. Das macht aber nichts, denn es ist nicht strukturbestimmend, sondern tupft nur manchmal auf.

Dieses schlimme Wir

Es ist ein Blick aus der zweiten Reihe, wie die Autoren selbst sagen: geboren Mitte der fünfziger Jahre, zu jung für ’68, zu alt für Punk – immer darauf wartend, dass nun endlich ihre Ära kommt. Aus der beobachtenden Distanz entsteht so ein facettenreicheres Bild der BRD als bei den Jubelevents – was aber angesichts der Autoren auch kaum überrascht. Es ist ein privater und zugleich kollektiver Blick auf die politische Bewusstwerdung, die Konstruktion von Identität durch die Erinnerung.

Immer mitgedacht dabei: die Gesprächsituation als Produktionssituation. Die Versuchsanordnung ist dieselbe wie in »Plattenspieler«, erklärt Walter im Vorwort: »Die Gespräche werden aufgezeichnet, abgeschrieben, gedruckt. Keine redaktionelle Bearbeitung. Weglassen ist erlaubt, Verschönern nicht.« Neben Überlegungen zur Titelwahl und dem Ziel des Buches finden sich wiederholt Bemerkungen, dass das eben Gesagte ja wohl für die Buchrückseite gesprochen worden sei. Dadurch wird eine weitere Ebene, eine zusätzliche Reflexionsspur eingezogen; die ironische Distanz zum Gesprächsgegenstand wird vergrößert und das gesamte Projekt veruneigentlicht.

KW: Sollen wir das Buch nicht Sozusagen nennen?
TM: Sag ich das immer noch so oft?
KW: Nee, ich auch. Mir ist aufgefallen, dass ich permanent sozusagen sage.
TM: Ich habe das teilweise mal aufgelöst durch quasi.
KW: Sozusagen steht doch für eine abhanden gekommene Eigentlichkeit, dass man also nicht mehr über Deutschland reden kann, dass, wer Deutschland sagt in unserer Adoleszenz, eindeutig ein Apologet des Nazi-Deutschlands ist, und wer BRD sagt, ein Apologet der deutschen Teilung. Beides sind klare politische Positionierungen, und es gibt nicht mehr eine Naivität des Deutschland-Sagens.
TM: Prima Sache, eigentlich.
KW: Prima Sache, die aber von niemandem politisch adaptiert wurde. Oder gab es irgendwen, der diese Nicht-Identität für sich proklamiert hat? Handke oder whoever?
FW: Der war ja Österreicher. Der hatte ein ganz anderes Problem.

»Die Bundesrepublik Deutschland« ist ein sehr eigener Blick zurück, eine tripelbiografische Rekonstruktion. Manchmal etwas verlabert, manchmal etwas lustlos, mitunter auch ein wenig gezwungen – aber meist witzig, aufschlussreich, waghalsig, mehrbödig. Eine gute Ergänzung zum üblichen unkritisch-verzuckerten Erinnerungskitsch.

Kirsten Reimers

Frank Witzel, Klaus Walter, Thomas Meinecke: Die Bundesrepublik Deutschland
Edition Nautilus 2009
kart., 192 Seiten, 16 Euro
ISBN 978-3-89401-600-5

Diese Rezension ist auch erschienen auf satt.org

Eine kürzere Version ist bereits erschienen bei Literaturkritik.de


Vom Sockel geschubst

Für einen entsakralisierten Umgang mit Literatur

Shakespeare, Balzac, Musil: Weltliteratur, hohes Bildungsgut: geschätzt, verehrt – und nicht gelesen. Die meisten Menschen machen einen Bogen um die Bücher, die zum Bildungskanon zählen, zentnerschwer scheint die Last, die auf einen niederzugehen droht, sobald man sie aufschlägt. Von Langeweile ganz zu schweigen.

Umso notwendiger und erfrischender die Herangehensweise des französischen Literaturprofessors und Psychoanalytikers Pierre Bayard, der für einen lebendigen und kreativen Umgang mit Literatur plädiert. Zwei Bücher von ihm sind bislang auf Deutsch erschienen: »Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat« (im Original: »Comment parler des livres que l’on n’a pas lus?«) und »Freispruch für den Hund der Baskervilles. Hier irrte Sherlock Holmes« (»L’affaire du chien des Baskervilles«).

»Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat«

Dies ist kein Ratgeber für Poser, die mit nichtvorhandener Bildung glänzen wollen. Bayard gibt keine Ratschläge zum Quer- oder Nichtlesen, die einem das Lesen ersparen. Im Gegenteil: Dieser äußerst charmante Essay möchte zum Lesen animieren. Er ist eine Ermutigung, den lähmenden Respekt vor Literatur, gerade vor der sogenannten Hochliteratur abzustreifen, um einen persönlichen Zugang zu Büchern zu finden und über sie zu sprechen.

Vor allem sollte man sich von der Vorstellung befreien, Bücher verfügten über festgelegte Inhalte. Mitnichten: Sie wandeln sich mit jeder Lektüre und mit jedem Gespräch über sie, denn Bücher sind weniger fixe Texte als vielmehr Gesprächsituationen. Alte rezeptionsästhetische Maxime: Ein Buch existiert nur im Diskurs. Und was heißt überhaupt »lesen«? Jeder Leser erkennt etwas anderes im Text, und im Gespräch darüber erinnert man sich nur an Bruchstücke, aus denen man einen eigenen Zusammenhang konstruiert. Lesen und Sprechen über das Gelesene sind schöpferische Akte:

So sind die Bücher, über die wir sprechen, nicht nur reale Gegenstände, die durch eine imaginäre vollständige Lektüre in ihrer objektiven Materialität wieder aufgefunden werden können, sondern immer auch Phantombücher, die am Kreuzungspunkt der unvollendeten Möglichkeiten jedes Buches und unseres Unbewussten in Erscheinung treten und unsere Träume und Gespräche mit Sicherheit noch mehr anregen als die realen Gegenstände, aus denen sie rein theoretisch hervorgegangen sind.

Und manche Bücher braucht man gar nicht gelesen zu haben, um zu wissen, was in ihnen steht, und um über sie sprechen zu können: »Hamlet«, Dan Browns »DaVinci Code«, die Harry-Potter-Bücher, James Joyce‘ »Ulysses« – Eindrücke von ihnen hat nahezu jeder. Viel zentraler ist es, sie im Verhältnis zu anderen Bücher einordnen zu können.

Pierre Bayard macht Mut zu einem unbeschwerten und sehr persönlichen Umgang mit Literatur. Bücher sind keine toten Säulenheiligen, sondern – schließlich ist Bayard auch Psychoanalytiker – Instrumente der Selbsterkenntnis. Das Eigene im Buch zu finden, über das Buch zu sprechen, um über sich zu sprechen – das ist ihm wichtig.

Diese Aufforderung zum kreativen Herangehen an Literatur ist mit so leichter Hand, so elegant, intelligent und witzig geschrieben, mit Beispielen von Musils »Mann ohne Eigenschaften«, Umberto Ecos »Der Name der Rose«, mit Shakespeare, Balzac, Oscar Wilde, David Lodge oder auch Filmen wie »Und täglich grüßt das Murmeltier« untermauert, dass man gar nicht merkt, dass dies eigentlich ein literaturwissenschaftlicher Essay ist, in dem unter anderem eine Theorie des Lesens entworfen wird.

»Freispruch für den Hund der Baskervilles. Hier irrte Sherlock Holmes«

Wurde in »Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat« die Literatur vom Sockel geschubst, sind es im zweiten Buch die Autoren, die ihres halb genialischen Nimbus entledigt werden. Bayard wählt dafür einen der bekanntesten Romane von Arthur Conan Doyle: Mindestens 24 Mal wurde »Der Hund der Baskervilles« verfilmt, unvergessen die musikalische Interpretation von Cindy und Bert 1970 unter Verwendung von »Paranoid« von Black Sabbath (das »Video« mit Großaufnahmen eines Mopses, wahrhaft spooky). Anhand dieser Geschichte demonstriert Bayard das, was er »Kriminalkritik« nennt:

In der Tat ist der wesentliche Unterschied, der die Kriminalkritik nicht nur von anderen Arbeiten zur Kriminalliteratur, sondern von der Literaturkritik insgesamt trennt, ihr Interventionismus. Während die anderen Methoden sich meist damit zufrieden geben, die Texte – ungeachtet der Skandale, die sich in ihnen abspielen – passiv zu kommentieren, lässt sich die Kriminalkritik nicht von der offiziellen Version vereinnahmen und mischt sich aktiv ein. Sie bringt nicht nur die Schwächen der Texte ans Tageslicht und weckt Zweifel an den vorgeblichen Mördern, sondern zieht auch couragiert die Konsequenzen daraus und spürt den wahren Verbrecher auf.

Schritt für Schritt weist Bayard die Lücken und Fehler in Holmes Methode und Ermittlung auf. Aber nicht nur das: Er kann auch zeigen, dass sich hinter dem Fall, den Conan Doyle erzählt – und der unter dieser Betrachtungsweise kein Kriminalfall mehr ist -, eine ganz andere Geschichte versteckt, ein ungemein perfider und teuflischer Mord, der bis heute literarisch ungesühnt ist. Begangen von einem Täter, der im Buch vollkommen unschuldig erscheint – das will es uns zumindest der Autor weismachen.

Das ist möglich, weil Bücher nicht im luftleeren Raum entstehen. Autoren entwerfen (notwendigerweise) lückenhafte Welten, beeinflusst von der eigenen Realitätssicht und den persönlichen Komplexen. Bücher sind keine in sich geschlossenen Universen, sondern offene Systeme, die vieles von dem widerspiegeln, was die Autoren umtreibt – bewusst und unbewusst. Von dem Eigenleben, das Figuren und Welten außerdem entwickeln, mal ganz abgesehen. Darum lässt sich in Texten eine Menge finden, was ihr Schöpfer gar nicht beabsichtigt hat.

Autoren mögen beim Schreiben eine Absicht verfolgen – ihr Text hat oft eine andere. Bayard hat dies schon an Agatha Christies »The Murder of Roger Ackroyd« (deutsch »Alibi«; Pierre Bayard: »Qui a tué Roger Ackroyd«, 1998) und an Shakespeares »Hamlet« (Pierre Bayard: »Enquête sur Hamlet. Le Dialogue de sourds«, 2002) gezeigt. Arbeiten von Sandor Goodhardt oder Shoshana Felman weisen auf Widersprüche in »Ödipus Rex« von Sophokles hin.

Bücher sagen nicht die Wahrheit, sie verströmen keine Weltweisheit. Als Leser ist man darum gut beraten, mit wachem Verstand und kritischem Blick zu betrachten, was der Autor einem als bare Münze zu verkaufen trachtet. Lieber selbst denken, als es einem Fremden zu überlassen.

Wider die Verehrungsstarre

Mit seinen Schriften plädiert Bayard für eine Entsakralisierung von Literatur. Bücher sind nicht von sich aus wertvoll oder wahr, sondern gewinnen ihre Bedeutung erst in der Auseinandersetzung mit ihnen – und das jedes Mal neu. Man sollte ihnen darum nicht mit lähmenden Respekt oder einer Verehrungsstarre begegnen. Denn das ist der Tod der Literatur.

Kirsten Reimers

Pierre Bayard: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Aus dem Französischen von Lis Künzli
Verlag Antje Kunstmann 2007
geb., 220 Seiten, 16,90 Euro
ISBN: 978-3-88897-486-1
auch erhältlich als eBook (hier klicken)
auch erhältlich als Hörbuch-Download (hier klicken)

Pierre Bayard: Freispruch für den Hund der Baskervilles.
Hier irrte Sherlock Holmes
Aus dem Französischen von Lis Künzli
Verlag Antje Kunstmann 2008
Leicht gekürzte Fassung
geb., 205 Seiten, 16,90 Euro
ISBN: 978-3-88897-529-5

Diese Rezension ist auch erschienen auf satt.org


Wie morde ich richtig?

Ein notwendiges Nachschlagewerk für alle Krimiautoren und -leser

Ein Mann hat sich an einem Baum erhängt. Der Pathologe Karl Friedrich Börne zieht dem Toten Schuhe und Socken aus und legt einen Finger an die Fußsohle. Seit fünf Stunden sei der Mann tot, verkündet der Pathologe selbstsicher. Beim nächsten Toten genügt es, dass Börne dessen Hals berührt, damit er weiß, dass der Tod von anderthalb Stunden eingetreten ist.

So geschehen im Münsteraner »Tatort« »Höllenfahrt« (Erstausstrahlung am 22. März 2009). Beeindruckend, dieser Börne. Denn was er dort treibt, grenzt an Wahrsagerei. Mit der Realität hat das wenig zu tun. »Denn«, so erklären die Autoren Christine Lehmann und Manfred Büttner, »trotz intensiver Forschung kann man den Todeszeitpunkt derzeit rückblickend nur auf eine Spanne von fünf Stunden eingrenzen.«

Krimis wimmeln von vergleichbaren Fehlern und groben Verfälschungen. Mitunter ist die Entfernung zwischen Realität und Fiktion so groß, dass es schon fast kriminell ist. Um diese Lücke zu verkleinern, gibt es nun das wunderbare Handbuch von Lehmann und Büttner. Den beiden geht es nicht darum, Krimiautoren zu bevormunden oder die Phantasie einzuschränken. Krimis sind Fiktion, und das sollen sie auch bleiben. »Logisch«, meint Manfred Büttner. »Das wissen wir auch und das kommt im Buch hoffentlich auch hinreichend rüber: dass es nicht darum geht, die Wirklichkeit eins zu eins abzubilden. Aber wenn dann Sachen da sind, die überhaupt nicht passen, stört’s einen doch gelegentlich.« Und es gibt definitiv Untergrenzen dessen, was erträglich ist:

Fanny Fuchs hat eine Mordswut auf ihren Mann. Im Streit schubst sie ihn gegen die Eichenschrankwand. Aus dem obersten Fach fällt eine Bronzeplastik auf seinen Schädel. Er ist tot!, stellt Fanny fest. So ganz unrecht ist es ihr nicht. Aber wer wird ihr glauben, dass sie ihn nicht ermordet hat? Die Mordkommission ermittelt. Kommissar Kalle Holbein jagt sie. Fanny taucht unter, doch er trifft sie zufällig in der Sauna, verhaftet sie und triumphiert: »Für den Mord an Ihrem Mann kommen Sie für den Rest Ihres Lebens ins Gefängnis.« Wie soll sie ihm beweisen, dass sie nicht zugeschlagen hat? Sie ergreift sein Handtuch und erdrosselt ihn.

Das Drama einer Frau, die ihren nicht geliebten Mann durch einen Zufall los wird, sich als Gejagte sieht und in ihrer Angst, für den Rest ihres Lebens für einen Mord büßen zu müssen, den sie nicht begangen hat, zur Mörderin wird, mag psychologisch interessant sein, doch würde es sich ums Verrecken in unserer Wirklichkeit nicht zutragen können.

Wechselwirkungen zwischen Fiktion und Realität

Christine Lehmann betont: »Uns lag am Herzen, zu sagen, dass unser Rechtsstaat immer noch ein Rechtsstaat ist und nach bestimmten Regeln funktioniert. Das ist wichtig.« Zumal sich auch in die Berichterstattung in den Nachrichten Fehler einschleichen – wenn zum Beispiel verkündet wird, dass der Staatsanwalt einen Haftbefehl ausgestellt habe, oder wenn es heißt, es habe eine Razzia gegeben, um Beweismaterial sicherzustellen. Und es gibt auch vereinzelte Fälle, in denen gar die Fiktion auf die Realität zurückwirkt und Polizisten sich in Stresssituationen an amerikanischen Krimis ein Vorbild nehmen.

Deshalb klären Lehmann und Büttner auf: Es geht nicht nur um die Grundlagen der Polizei- und Ermittlerarbeit, sondern die Autoren erläutern auch, was bei einer Autopsie passiert oder wie Profiler arbeiten – und wie sie heißen: In Deutschland bezeichnet man sie nämlich als Fallanalytiker; sie arbeiten mit Statistiken, nicht mit genialischer Intuition und unheimlichen Einfühlungsvermögen, wie manche Krimis uns weismachen wollen. Ebenso stellen die beiden Autoren verschiedene Mordwerkzeuge vor und zeigen auf, welchen Schaden diese anrichten können. (Reicht es tatsächlich, einen Föhn in die volle Badewanne zu werfen, um den ungeliebten Erbonkel ins Jenseits zu befördern?) Ein besonderes Bonbon – wenn man so will – ist die Übersicht über tödliche Gifte und ihre Wirkungsweisen.

Dieses notwendige Hintergrundwissen hilft, Krimis realistischer zu gestalten. Christine Lehmann fügt hinzu: »Abgesehen davon macht es die Krimis auch schöner. Denn manchmal steckt in der Polizeiarbeit selbst oder in einem Ermittlungsansatz schon eine Geschichte. Oder man hat in Hierarchien in der Polizei bereits ein Drama, was man für den Krimi verwenden kann. Also, ich finde, dass in der Realität oft Geschichten stecken, die wir nicht entdecken, wenn wir nur phantasieren.«

Amüsant, grundlegend, unentbehrlich

Ausschnitte des Handbuches gibt es seit geraumer Zeit im Titel-Magazin unter der Überschrift »Dr. Lehmanns Sach- und Warenkunde«. Christine Lehmann ist Politik- und Nachrichtenredakteurin beim SWR und schreibt seit vielen Jahren äußerst spannende und präzise recherchierte Kriminalromane; Manfred Büttner ist Steuerfahnder und Dozent an der Hochschule der Polizei – zwei Profis, die ihr Wissen zusammengetragen haben. Und das auf ebenso unterhaltsame wie profunde Weise: Ihr Handbuch ist nicht nur kenntnisreich, sondern auch witzig und frech geschrieben, sodass es für jede Krimiautorin und jeden Krimiautor zum unverzichtbaren Nachschlagewerk werden wird. Darüber hinaus gehört es ebenso in die Hände von Verlagslektoren, Journalisten und Rezensenten, um auch denen das nötige Grundwissen zu vermitteln. Und für interessierte Leserinnen und Leser ist es selbstverständlich ein Gewinn, denn hier wird einem endlich einmal erzählt, was man schon immer über Mord und Totschlag wissen wollte.

Kirsten Reimers

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Christine Lehmann & Manfred Büttner: Von Arsen bis Zielfahndung.
Das aktuelle Handbuch für Krimiautorinnen und Neugierige
Ariadne im Argument Verlag 2009
kart., 250 Seiten, 16,90 Euro
ISBN 978-3-88619-720-0

Diese Rezension ist auch erschienen auf satt.org