Ein notwendiges Nachschlagewerk für alle Krimiautoren und -leser
Ein Mann hat sich an einem Baum erhängt. Der Pathologe Karl Friedrich Börne zieht dem Toten Schuhe und Socken aus und legt einen Finger an die Fußsohle. Seit fünf Stunden sei der Mann tot, verkündet der Pathologe selbstsicher. Beim nächsten Toten genügt es, dass Börne dessen Hals berührt, damit er weiß, dass der Tod von anderthalb Stunden eingetreten ist.
So geschehen im Münsteraner »Tatort« »Höllenfahrt« (Erstausstrahlung am 22. März 2009). Beeindruckend, dieser Börne. Denn was er dort treibt, grenzt an Wahrsagerei. Mit der Realität hat das wenig zu tun. »Denn«, so erklären die Autoren Christine Lehmann und Manfred Büttner, »trotz intensiver Forschung kann man den Todeszeitpunkt derzeit rückblickend nur auf eine Spanne von fünf Stunden eingrenzen.«
Krimis wimmeln von vergleichbaren Fehlern und groben Verfälschungen. Mitunter ist die Entfernung zwischen Realität und Fiktion so groß, dass es schon fast kriminell ist. Um diese Lücke zu verkleinern, gibt es nun das wunderbare Handbuch von Lehmann und Büttner. Den beiden geht es nicht darum, Krimiautoren zu bevormunden oder die Phantasie einzuschränken. Krimis sind Fiktion, und das sollen sie auch bleiben. »Logisch«, meint Manfred Büttner. »Das wissen wir auch und das kommt im Buch hoffentlich auch hinreichend rüber: dass es nicht darum geht, die Wirklichkeit eins zu eins abzubilden. Aber wenn dann Sachen da sind, die überhaupt nicht passen, stört’s einen doch gelegentlich.« Und es gibt definitiv Untergrenzen dessen, was erträglich ist:
Fanny Fuchs hat eine Mordswut auf ihren Mann. Im Streit schubst sie ihn gegen die Eichenschrankwand. Aus dem obersten Fach fällt eine Bronzeplastik auf seinen Schädel. Er ist tot!, stellt Fanny fest. So ganz unrecht ist es ihr nicht. Aber wer wird ihr glauben, dass sie ihn nicht ermordet hat? Die Mordkommission ermittelt. Kommissar Kalle Holbein jagt sie. Fanny taucht unter, doch er trifft sie zufällig in der Sauna, verhaftet sie und triumphiert: »Für den Mord an Ihrem Mann kommen Sie für den Rest Ihres Lebens ins Gefängnis.« Wie soll sie ihm beweisen, dass sie nicht zugeschlagen hat? Sie ergreift sein Handtuch und erdrosselt ihn.
Das Drama einer Frau, die ihren nicht geliebten Mann durch einen Zufall los wird, sich als Gejagte sieht und in ihrer Angst, für den Rest ihres Lebens für einen Mord büßen zu müssen, den sie nicht begangen hat, zur Mörderin wird, mag psychologisch interessant sein, doch würde es sich ums Verrecken in unserer Wirklichkeit nicht zutragen können.
Wechselwirkungen zwischen Fiktion und Realität
Christine Lehmann betont: »Uns lag am Herzen, zu sagen, dass unser Rechtsstaat immer noch ein Rechtsstaat ist und nach bestimmten Regeln funktioniert. Das ist wichtig.« Zumal sich auch in die Berichterstattung in den Nachrichten Fehler einschleichen – wenn zum Beispiel verkündet wird, dass der Staatsanwalt einen Haftbefehl ausgestellt habe, oder wenn es heißt, es habe eine Razzia gegeben, um Beweismaterial sicherzustellen. Und es gibt auch vereinzelte Fälle, in denen gar die Fiktion auf die Realität zurückwirkt und Polizisten sich in Stresssituationen an amerikanischen Krimis ein Vorbild nehmen.
Deshalb klären Lehmann und Büttner auf: Es geht nicht nur um die Grundlagen der Polizei- und Ermittlerarbeit, sondern die Autoren erläutern auch, was bei einer Autopsie passiert oder wie Profiler arbeiten – und wie sie heißen: In Deutschland bezeichnet man sie nämlich als Fallanalytiker; sie arbeiten mit Statistiken, nicht mit genialischer Intuition und unheimlichen Einfühlungsvermögen, wie manche Krimis uns weismachen wollen. Ebenso stellen die beiden Autoren verschiedene Mordwerkzeuge vor und zeigen auf, welchen Schaden diese anrichten können. (Reicht es tatsächlich, einen Föhn in die volle Badewanne zu werfen, um den ungeliebten Erbonkel ins Jenseits zu befördern?) Ein besonderes Bonbon – wenn man so will – ist die Übersicht über tödliche Gifte und ihre Wirkungsweisen.
Dieses notwendige Hintergrundwissen hilft, Krimis realistischer zu gestalten. Christine Lehmann fügt hinzu: »Abgesehen davon macht es die Krimis auch schöner. Denn manchmal steckt in der Polizeiarbeit selbst oder in einem Ermittlungsansatz schon eine Geschichte. Oder man hat in Hierarchien in der Polizei bereits ein Drama, was man für den Krimi verwenden kann. Also, ich finde, dass in der Realität oft Geschichten stecken, die wir nicht entdecken, wenn wir nur phantasieren.«
Amüsant, grundlegend, unentbehrlich
Ausschnitte des Handbuches gibt es seit geraumer Zeit im Titel-Magazin unter der Überschrift »Dr. Lehmanns Sach- und Warenkunde«. Christine Lehmann ist Politik- und Nachrichtenredakteurin beim SWR und schreibt seit vielen Jahren äußerst spannende und präzise recherchierte Kriminalromane; Manfred Büttner ist Steuerfahnder und Dozent an der Hochschule der Polizei – zwei Profis, die ihr Wissen zusammengetragen haben. Und das auf ebenso unterhaltsame wie profunde Weise: Ihr Handbuch ist nicht nur kenntnisreich, sondern auch witzig und frech geschrieben, sodass es für jede Krimiautorin und jeden Krimiautor zum unverzichtbaren Nachschlagewerk werden wird. Darüber hinaus gehört es ebenso in die Hände von Verlagslektoren, Journalisten und Rezensenten, um auch denen das nötige Grundwissen zu vermitteln. Und für interessierte Leserinnen und Leser ist es selbstverständlich ein Gewinn, denn hier wird einem endlich einmal erzählt, was man schon immer über Mord und Totschlag wissen wollte.
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Christine Lehmann & Manfred Büttner: Von Arsen bis Zielfahndung.
Das aktuelle Handbuch für Krimiautorinnen und Neugierige
Ariadne im Argument Verlag 2009
kart., 250 Seiten, 16,90 Euro
ISBN 978-3-88619-720-0
Diese Rezension ist auch erschienen auf satt.org