Neue Krimis von Tana French, Zoë Beck und Howard Linskey
Ein Alptraum: In ihrem Haus in einer neu entstehenden Wohnsiedlung am Meer wird eine junge Familie tot aufgefunden: die beiden kleinen Kinder mit einem Kissen erstickt, der Vater erstochen, die Mutter lebensgefährlich verletzt. Statt eines sicheren Rückzugsorts – viel Platz zum Spielen und saubere Luft für die Kinder, fernab von den Gefahren der Stadt – fanden Pat und Jenny in dem kleinen Ort, eine Dreiviertelstunde von Dublin entfernt, die Hölle: Wegen der Finanzkrise wird die Siedlung nicht weiter ausgebaut, Jugendliche marodieren durch die leeren, heruntergekommenen Hausgerippe, die Doppelhaushälfte ist feucht und brüchig, die Nachbarn feindselig, ein heimlicher Beobachter hat sich im unfertigen Haus gegenüber einquartiert. Und etwas ist ins Haus der Familie eingedrungen, etwas, das nicht gefasst werden kann.
Tana French zeigt in »Schattenstill«, ihrem vierten Kriminal- roman, wie die Finanzkrise der Mittelschicht den sichergeglaubten Boden unter den Füßen entzieht, wie Job, Haus und Werte wegbrechen. Mit viel Einfühlungsvermögen schildert French, wie die wachsende Verunsicherung Abgründe hinter den Fassaden aufreißt. Dabei lässt sie sich viel Zeit, und das ist gut so, denn erst nach und nach werden die Dimensionen des Verbrechens fassbar – subtil, spannend und intelligent.
Haifischbecken Familie
Vor sieben Jahren verschwand Pippa Murrays Freund nach einem Streit, seitdem hat sie kein Wort mehr von ihm gehört. Doch nun wird in einem abgelegenen Gutshaus eine Frau erschlagen – und Pippa ist überzeugt: Der Täter ist ihr verschollener Freund. Kaum hat sie dies der Polizei mitgeteilt, ist auch sie nicht mehr auffindbar.
Zoë Becks vierter Kriminalroman »Das zerbrochene Fenster« – wie seine Vorgänger in Edinburgh angesiedelt – spielt auf zwei Zeitebe- nen: Durch Pippa Murrays Tagebuchaufzeichnungen erfährt der Leser, was vor sieben Jahren passiert ist, während es in der Gegenwart vor allem um die Aufklärung der Gewalttat und des Verschwindens von Pippa geht. Zoë Beck verwebt diese Stränge elegant zu einem klugen Krimi um Schuldgefühle und ebenso komplexe wie emotional abgründige Familienverhältnisse. Auf diese wirft die Autoren einen messerscharfen Blick: ungeschönt sezierend und mit knochen- trockenem Humor.
Cooles Juwelchen
David Blake arbeitet als Berater für den größten Gangsterboss von Newcastle, sein offizieller Titel lautet Vertriebs- und Marketingchef. Als solcher sorgt er für die Sicherheit seines Chefs und lotet neue Coups aus. Alles in allem macht er sich kaum die Hände schmutzig. Das geht so lange gut, bis eine Übergabe von Schutzgeld, für die Blake verantwortlich war, gründlich schief läuft. Nun hat er wenige Stunden, die Schuldigen zu finden und das Geld wieder aufzutreiben. Sollte er das nicht schaffen, sieht es gar nicht gut für ihn aus.
Howard Linskeys Kriminalroman »Crime Machine«, konsequent aus der Ich-Perspektive geschrieben, ist eine kleine coole Perle. Blake ist clever, aber nicht allzu abgebrüht, seine Suche nach dem vermissten Geld führt ihn tief in die komplexen und unerwartet weitreichenden Strukturen der organisierten Kriminalität. Das ist sehr gut geplottet und geschickt konstruiert, schnell erzählt, dazu gespickt mit schwarzironischer Komik. Und außerdem es ist auch noch richtig gut geschrieben und übersetzt.
»Das zerbrochene Fenster« ist der vierte Kriminalroman von Zoë Beck. Wie die drei vorherigen Romane spielt auch dieser in Schottland. Vor sieben Jahren verschwand Pippa Murrays Freund nach einem heftigen Streit. Seitdem hat sie nie wieder etwas von ihm gehört. Als auf einem Landsitz in der Nähe Edinburgh eine Frau erschlagen wird, ist sich Pippa jedoch sicher: Der Täter ist Sean, ihr untergetauchter Freund. Aber kaum hat sie dies der Polizei mitgeteilt, ist auch Pippa unauffindbar – während Schottland im Schneechaos versinkt.
Zwei Zeitebenen, elegant verknüpft
Das Geschehen wird auf zwei Zeitebenen aufgerollt: Aus Pippas Tagebuchaufzeichnungen erfährt der Leser, was vor sieben Jahren geschehen ist. In der Gegenwart dreht sich die Handlung um die Aufklärung des Gewaltverbrechens und um Pippas Verschwinden. Zoë Beck verwebt diese beiden Stränge elegant und unangestrengt. Das Mordopfer ist die Stiefmutter des reichen und von zahlreichen Psychosen geplagten Verlegers Cedric Darney. Er sowie sein Assistent und einziger Vertrauter, der Journalist Ben Edwards, traten bereits in den drei früheren Kriminalromanen auf, ohne dass sie unbedingt die Hauptrollen einnähmen oder gar eine Krimireihe entstände. Vielmehr sind Cedric und Ben das verbindende Element der jeweils für sich stehenden Bücher.
Einschnürende Familienbande
In »Das zerbrochene Fenster« rückt Cedric allerdings stärker in den Fokus, da das Motiv für die Gewalttat in dessen komplexer Familiengeschichte verborgen liegen könnte. Überhaupt spielt das komplizierte und sehr sensible Geflecht von Familien- beziehungen eine zentrale Rolle in diesem Kriminalroman. Beck schaut sehr genau hin und lotet mit sicherer Hand, knochen- trockener Komik und messerscharfem Verstand die Untiefen des unwägbaren Haifischbeckens Familie aus. Dies tut sie ohne falsche Rücksichtnahmen oder Verklärungen: Familie kann ein Ort der Geborgenheit sein, doch viel wahrscheinlicher sind offene Kränkungen und unterschwellige, tiefe Verletzungen.
Dichte Atmosphäre, lebendige Figuren
Beck bleibt dabei sehr nah an ihren Figuren, schildert sie aus sich heraus, ohne Zuschreibungen oder Wertungen. Daraus erwachsen eine sehr dichte Atmosphäre und sehr lebendige Charaktere. Auf diese Weise wird »Das zerbrochene Fenster« zu einem beklemmenden Kriminalroman um Schuld, Neid und Sehnsüchte.
Interview mit Zoë Beck und Thomas Wörtche zur neuseeländischen Krimilandschaft
Am 1. September 2012 wurde zum dritten Mal der Ngaio-Marsh-Award, der neuseeländische Preis für Kriminalromane, verliehen. In der Jury war unter anderem die deutsche Krimiautorin Zoë Beck. Kirsten Reimers sprach mit der zweisprachig aufgewachsenen Autorin und mit dem bekannten Krimikritiker Thomas Wörtche über neuseeländische Krimis.
Zoë Beck, wie ist es dazu gekommen, dass Sie Teil der diesjährigen Jury waren?
Zoë Beck: Ich habe aus heiterem Himmel eine E-Mail bekommen von Craig Sisterson, dem Vorsitzenden der Jury. Er hatte sich zuvor an die Frankfurter Buchmesse gewendet, und dort hatte man ihm mich empfohlen. Offenbar wurde jemand gesucht, der fließend Englisch spricht, sich mit Krimis auskennt und auch Kritiken schreibt.
Welche Titel standen dieses Jahr zur Debatte?
Beck: Sieben Titel waren in der Auswahl. Das war einmal Paddy Richardson, die mit »Traces of Red«, einer Geschichte um eine Journalistin, die die Unschuld eines verurteilten Mörders bewei- sen will, eher auf psychologische Spannung setzt. Dann Ben Sanders mit »By Any Means«, einem police procedural um Moral und Korruption, Jack Eden mit dem Buch »Furt Bent From Aldaheit«, das sich mit dem Justizsystem kritisch auseinandersetzt. Außerdem Vanda Symon mit einer toughen Ermittlerin in »Bound«, »Collecting Cooper« von Paul Cleave, wo mal wieder der schlimmste aller schlimmen Serienkiller zuschlägt, von Ian Wedde eine Art Gourmetkrimi mit dem Titel »The Catastrophe«, und schließlich »The Calling« von Neil Cross, einem John-Luther-Roman, dem Prequel zu den Verfilmungen mit Idris Elba. Nach langen, langen Diskussionen und ganz knapp hat am Ende Neil Cross gewonnen.
War das auch Ihr Favorit?
Beck: Ich hatte ihn zwar auf meiner »Shortlist«, aber ich hätte es lieber gesehen, dass jemand den Preis bekommt, der näher an Neuseeland dran ist. Das Buch spielt ja in London, der Autor ist ein Brite, der seit zehn Jahren in Neuseeland lebt. Ich hätte mir als Preisträger jemanden gewünscht, der mehr für Neuseeland steht und repräsentativer ist.
Welcher Roman hat Ihnen besser gefallen?
Beck: Ich persönlich mochte beispielsweise das Buch von Jack Eden. Der Autor wurde bisher leider nicht ins Deutsche übersetzt.
Was hat Ihnen daran gefallen?
Beck: »Furt Bent From Aldaheit« lehnt sich an einen authentischen Kriminalfall an, der in Neuseeland eine gewisse Relevanz hatte. Es werden die Zustände in neuseeländischen und auch in australischen Gefängnissen beschrieben. Das fand ich wirklich sehr spannend. Da hatte ich das Gefühl: Jetzt nehme ich etwas von dem Land mit. Das Buch war auch deutlich anders aufgebaut als viele andere Krimis und setzte sich sprachlich ab. Keine üblichen klischeehaften Redewendungen, sehr eigener Stil, distanzierte Erzählerstimme. Ich fand das innovativer im Vergleich zu den anderen Büchern, die mir teilweise erstaunlich austauschbar vorkamen. Es gab da keine Neuseeland-Themen. Krimis sollen jetzt auch nicht unbedingt »regiotümeln«, aber Neuseeland ist ja ein Land, über das es etwas zu erzählen gibt, das sehr eigene Probleme hat. Doch dann in den Romanen immer wieder von Serienkillern, Beziehungsproblemen oder Familienproblemen ohne eine deutliche Verankerung in Neuseeland zu lesen – da habe ich doch ein bisschen was vermisst.
Gibt es denn Kriminalromane, die auf neuseeländische Verhältnisse eingehen, Thomas Wörtche?
Thomas Wörtche: Vermutlich gibt es solche, nur kennen wir die nicht. Oder sie erscheinen nicht bei uns oder wir finden sie nicht oder sie sind oder waren nicht sehr beeindruckend. Oder die Neuseeländer schreiben tatsächlich nur sehr wenige. Es gibt einen Klassiker der neuseeländischen Kriminalliteratur, Alan Duff, der in der Tat nur einen »Kriminalroman« – Kriminalroman in diesem Fall in Anführungszeichen – geschrieben hat, nämlich »Once were warriors«, »Warriors« in der deutschen Übersetzung. Der ist relativ viel verkauft, auch verfilmt worden. Bei uns lief der Film als »Die letzte Kriegerin«. Da geht es in der Tat um ein sehr neuseeländisches Thema, nämlich um die Probleme der Maori, um Clan-Strukturen und Gewalt. Was ich sonst kenne an neuseeländischer Kriminalliteratur, zumindest an aktueller Literatur, da muss ich sagen, habe ich das Gefühl, dass man ganz erstaunt ist, dass die Autoren Neuseeländer sind, wenn man sie liest, weil man sie gar nicht mit Neuseeland verrechnet. Also, Paul Cleave zum Beispiel ist sicher der am erfolgreichsten verkaufte neuseeländische Krimiautor, aber dessen Bücher können überall spielen, das ist nicht sehr neuseeländisch. Da geht’s um serial killer, das ist handwerklich routiniertes Mittelmaß an Serialkiller-Literatur. Spielt halt in Christchurch, könnte aber auch in Paderborn spielen oder in Southampton, egal wo, das ist eigentlich unerheblich. Für Serial-killer-Fans hat’s sicher ein paar besonders nette Moddrigkeiten als Überraschungseffekt, aber das ist es dann auch schon.
Gibt es denn neuseeländische Kriminalromane, die Sie beeindruckt haben?
Wörtche: Ich habe mir, als ich noch metro, die global-crime-Reihe in Kooperation mit dem Unionsverlag gemachte habe, die Veröffentlichungen der letzten Jahre in Neuseeland angeguckt, da habe ich wenig Beeindruckendes gefunden. Ein Buch aber – das ist von 2007, es ist jetzt hier in dem kleinen Weidle Verlag auf Deutsch erschienen, »Rocking Horse Road« Carl Nixon – das finde ich wirklich grandios. Das ist deswegen grandios, weil es mir wirklich was von Neuseeland erzählt.
Worum geht es in dem Buch?
Wörtche: Es spielt in den achtziger Jahren. Die Achtziger sind dort beschrieben als beherrscht von einer Art Friedhofsruhe, wie bei uns die fünfziger Jahre. Ich habe mich unglaublich an meine eigene Kindheit in den fünfziger und frühen sechziger Jahren erinnert gefühlt. Neuseeland ist ein bisschen abgehängt vom Internationalen, hat aber unendlich viele Probleme. Mit dem Zweiten Weltkrieg, in dem man gegen die Nazis gekämpft hat, ist man noch nicht so ganz fertig. Man lebt ein spießiges Leben, alles ist geregelt und so weiter, und plötzlich bricht Gewalt ein. Das ist symbolisiert durch einen Mord an einem Mädchen, das jeder kannte in der kleinen Gemeinde, in der der Roman spielt. Und dann passiert noch was anderes, nämlich ein südafrikanisches Rugby-Team – und man muss wissen, Rugby ist der Nationalsport von Neuseeland – kommt nach Neuseeland, und daran polarisiert sich die Gesellschaft. Wir sprechen von 1981, da herrschte das Apartheitsregime in Südafrika. Plötzlich knüppeln erzürnte Familienväter, die denken, man wolle ihnen Rugby schlechtreden, auf Hippies und auf Outsider ein, Gewalt ist plötzlich mitten in der Gesellschaft. Das ist ein sehr, sehr beeindruckender Roman, und gleichzeitig hat das Ganze auch einen ästhetischen Mehrwert sozusagen, was bei den Bücher, die wir eben erwähnt haben, nun wahrlich nicht der Fall ist. Der Roman hat nämlich eine ganz ausgefuchste Erzählperspektive: Das ist ein kollektives Erzählen, eine Gruppe junger Männer schildert, was geschieht, und es ist wirklich ganz schwierig rauszufiltern, wer hier wer ist, wer was sagt, wer tatsächlich erzählt, wer möglicherweise die Wirklichkeit ein bisschen verdreht, was auch immer. Es ist kein richtiges Rashomon-Prinzip, aber es ist wirklich ästhetisch spannend. Und durch die Schilderung, auch wenn das nicht historisch ist, sagt das Buch sehr viel über Neuseeland. Das fand ich sehr beeindruckend.
Können Sie sich vorstellen, warum es derzeit kaum einen spezifisch neuseeländisch Krimi gibt?
Wörtche: Ich glaube, Neuseeland hat ein bisschen Pech gehabt in seiner kriminalliterarischen Geschichte. Es hat einfach keinen Arthur Upfield gehabt. Arthur Upfield hat zum Beispiel den Nebenkontinent, also Australien, schon früh sozusagen auf die kriminalliterarische Weltkarte geschrieben, schon ab den dreißiger Jahren. Dabei war Arthur Upfield Brite, und komischerweise haben die Neuseeländer zwar eine sehr berühmte Autorin, Ngaio Marsh, die Preisnamensgeberin des Preises, die ja zu den drei Ladys des »goldenen ages« des britischen Krimis gehört, also neben Agatha Christie und Dorothy Sayers ist sie die Dritte. Aber kein Mensch wusste, dass sie Neuseeländerin ist. Neuseeland spielte in ihren Krimis keine Rolle. Insofern gibt es eine Art von Traditionslücke. Und wir wissen, wie wichtig Traditionen sind: Egal, wie konkret die Rezeption tatsächlich ist, aber Traditionen schaffen Milieus, schaffen Humus, schaffen Unterboden und so weiter und so fort. Das gab es in Neuseeland wohl nicht so.
Gibt es weitere mögliche Gründe?
Wörtche: Neuseeland ist ein sehr kleines Land. Wir erwarten auch zu viel. Die sind in ganz anderen Sachen groß, die haben andere großartige Literatur und Filme und so. Das ist immer ein bisschen wie mit dem Eishockey: Man kann auch Borneo nicht vorwerfen, dass deren Eishockey nicht besonders toll ist. Vielleicht ist in Neuseeland die Erzählform noch nicht da. Neuseeland ist vielleicht ein Land, das seine Themen nicht kriminalliterarisch abarbeitet, sondern dafür andere Ausdrucksformen gefunden hat. Aber ich bin auch ein bisschen vorsichtig, weil ich die Filter nicht durchblicke: Was kommt zu uns? Was gibt es wirklich? Was zeigt jetzt auch die Auswahl von neuseeländischen Autoren, die zur Buchmesse geschickt wird? Denn da sind viele andere Interessen im Spiel: Medienmacht zum Beispiel. Man möchte erfolgreiche Autoren präsentieren. Insofern könnte ich mir denken, dass es vielleicht eine Off-Off-Szene gibt, die man hier einfach nicht kennt.
Beck: Es ist schon sehr deutlich, dass sich die Krimis, die für den Ngaio-Marsh-Award nominiert waren, an den Romanen orientieren, die international Erfolg haben. Also, im englischsprachigen Raum. Und natürlich ist der englischsprachige Raum für die Neuseeländer der interessanteste, weil das der größte Markt ist und dafür nicht mal übersetzt werden muss. Man versucht da wohl auch den Fuß in die Tür zu bekommen, damit die Bücher nicht nur neuseelandweit verlegt werden – was ja vergleichsweise kleine Auflagen bedeutet –, sondern auch in Großbritannien, in den USA, Kanada und so weiter in den Regalen stehen. Da schaut man wohl als Verleger und als Autor: Was wollen die haben, was können wir bedienen? Und deshalb gibt es vermutlich im Moment einiges an sehr brutalen Serienkillern in Neuseeland. Wobei – geht man von der Literatur aus, müsste Neuseeland ziemlich entvölkert sein mittlerweile, bei so vielen Serienkillern, die da unterwegs sind.
Wörtche: Ich denke, was Zoë Beck gerade sagte, ist richtig. Aber wenn man zum Beispiel andere Länder oder andere Kontinente anguckt: Die schaffen das ja durchaus, mit ihrer Spezifik Weltliteratur zu machen, also die Welt für sich zu interessieren. Der Krimiautor Deon Meyer schafft Aufmerksamkeit für Südafrika durch Südafrika-spezifische Themen. Aber es mag auch so sein, dass eine vergleichbare intellektuelle Wucht oder Größe im Moment in Neuseeland einfach fehlt.
Oder gibt es einfach keine Probleme in Neuseeland, die sich in Kriminalromanen aufarbeiten ließen?
Wörtche: Ich denke nicht, dass die Neuseeländer keine Probleme haben und nur glücklich sind. Die Deutsche Bank zum Beispiel investiert wie verrückt in »Landgrabbing« in Neuseeland gerade. Die Chinesen auch. Das heißt, es wird dort Ackerland im großen Stil aufgekauft. Da müssten schon Entwicklungen sein, die relevant für Kriminalromane oder Politthriller wären. Und auch die Bandenkriminalität oder besser die Verwechslung von Bandenkriminalität mit alten Maori-Strukturen – ich könnte mir vorstellen, dass das in der Gesellschaft eine Rolle spielt. Na ja, und die üblichen global crimes hat man in Neuseeland auch, obwohl: im geringeren Maßstab. Ich hab mal ein bisschen in der Polizeistatistik rumgeschnüffelt und bin auf richtig putzige Zahlen gestoßen: In Wellington betrug die entdeckte Gesamtsumme der Geldwäsche nach einem Jahr eine Million US-Dollar. Das ist natürlich so was von nichts. Das ist eher provinziell, so dass ich denke: Schwarzgeld ist nicht das Problem in Neuseeland. Aber ich könnte mir wirklich vorstellen, dass an Umweltkriminalität und Ähnlichem einiges läuft. Was ich nicht glaube ist, dass Neuseeland die Insel der Seligen ist, und die Leute nur herumsitzen und darauf warten, dass kleine Hobbits vorbeikommen.
Rund anderthalb Jahre, nachdem Hurrikan Katrina New Orleans zerstört hat, erhält die Privatdetektivin Claire de Witt den Auftrag, den bekannten Staatsanwalt Vic Willing zu suchen. Kurz vor dem Hurrikan hatte er noch mit seinem Neffen telefoniert, seitdem fehlt jede Spur. Mit Claire deWitt hat Willings Neffe nicht irgendeine Privatdetektivin engagiert, sondern – wie sie gern belegt – die beste der Welt. Und auch die vermutlich schrägste. Sara Gran hat mit deWitt eine der ungewöhnlichsten Ermittlerinnen der Kriminalliteratur geschaffen: gewaltbereit, schroff, beinhart, sarkastisch und gleichzeitig zerbrechlich und schutzlos, ohne einen Hauch zart oder weich zu sein.
Drogen, Logik und Visionen
DeWitt vertraut ihrer Intuition und ihrer messerscharfen Logik ebenso wie ihren Träumen und Visionen. Da sie sehr offen für halluzinogene Drogen und Alkohol ist, sind diese auch nicht selten. Außerdem befragt die Detektivin das »I Ging«. Ihr wichtigstes Werkzeug jedoch ist das Handbuch »Détection« des mysteriösen französischen Detektivs Jacques Silette aus dem Jahr 1959: ein seltsam vages, in sich widersprüchliches Kompendium, dessen Anhänger sich gegenseitig erkennen, da sie alle auf der Suche nach der hässlichen Wahrheit sind.
»Niemand wird dem Detektiv für seine Arbeit danken«, schrieb Silette. »Man wird ihn verachten, in Frage stellen, verabscheuen, bespucken. (…) Sein Lohn ist nichts als die hässliche, unerträgliche Wahrheit. Genügt ihm das nicht, hat er den falschen Beruf gewählt und sollte seine Berufung überdenken.«
Held und Monster
Um die hässliche Wahrheit geht es auch im Fall des ver- schwundenen Staatsanwalts. Der war einer der wenigen, die sich in New Orleans gegen Korruption und organisiertes Verbrechen stark machten, bekannt als aufrechter Vertreter seines Berufsstandes. Einer der Guten also? Doch so einfach ist es nicht. Keine der Figuren bei Gran ist entweder gut oder böse – oder irgendwie ein bisschen was von beidem. Die Wahrheit ist, dass jeder bewundernswert und abstoßend ist, Held und Monster, gleichzeitig und ohne Abstriche.
Jenseits jeglicher Klischees
»Die Stadt der Toten« ist als Auftakt einer Serie gedacht – und die verspricht viel. Denn Gran legt einen atemberaubenden Roman vor: von großer Komik, beißendem Sarkasmus, knacktrockener Ironie, unerträglicher Wahrheit und schmerz- hafter Zerbrechlichkeit.
»Also gut«, sagte ich, »wann haben Sie Ihren Onkel das letzte Mal getroffen?«
»Getroffen?«, sagte Leon. »Getroffen?« Ich sah vor meinem geistigen Auge, wie er seinen Onkel mit einer Axt traf und in zwei Teile hieb.
Jenseits jedes New-Orleans-Klischees zeigt Gran die tiefen Wunden, die der Hurrikan, der versagende Katastrophenschutz und das fatale Missmanagement der Stadt und den Menschen geschlagen hat und die längst noch nicht verheilt sind: die immer noch verwüsteten Straßenzüge, den Immobilienwucher, die Bandenkriminalität. In diesem Chaos eine Person zu finden, die schon seit so langer Zeit verschwunden ist, scheint ein hoffnungsloses Unterfangen – und doch entdeckt Claire deWitt weit mehr, als sie je erwartet hätte. Aber das bedeutet nicht, dass am Ende alles gut ist.
Der Auftraggeber kennt die Lösung des Rätsels bereits. Aber er sträubt sich dagegen. Er beauftragt den Detektiv nicht, um das Rätsel zu lösen. Er beauftragt ihn, um sich bestätigen zu lassen, dass es keine Lösung gibt.
Ein ganz grandioser, eigenwilliger und intelligenter Krimi.
Sara Gran: Die Stadt der Toten
(Claire deWitt and the City of the Dead, 2011)
Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné
Droemer 2012
Brosch., 361 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-426-22609-4 auch erhältlich als eBook (hier klicken)
Diese Besprechung ist zuerst erschienen auf hr-online.
Neue Kriminalromane von Adrian McKinty, Émilie de Turckheim und Peter Temple
Killian ist ein Mann fürs Grobe, ohne wirklich grob werden zu müssen. Für seine Auftraggeber spürt er Menschen auf, die sich lieber versteckt halten, weil sie jemandem etwas schulden, meist viel zu große Geldsummen. Ohne Gewalt tatsächlich anwenden zu müssen, schafft Killian es stets, sein Gegenüber zu überzeugen, dass es doch besser wäre zu zahlen. Aber nach all den Jahren reicht es ihm. Killian will sich zur Ruhe setzen, etwas völlig anderes machen, sein Architekturstudium beenden. Da wird ihm ein letzter Job angeboten: Für eine halbe Million Pfund soll er die Exfrau eines millionenschweren Unternehmers finden. Damit hätte Killian ausgesorgt. Aber wie es so ist bei letzten Jobs: Alles verläuft vollkommen anders als geplant.
Adrian McKinty spielt in seinem schnellen und schwarz-humorigen Gangsterroman »Ein letzter Job« mit literarischen wie filmischen Zitaten und flechtet geschickt Überlegungen zu Architektur und Philosophie ein. Zwar wird es mitunter ein wenig pathetisch, und ein paar Längen gibt es auch – doch alles in allem gelingt McKinty ein unterhaltsamer, spannender Krimi im Stil des brit noir.
Charmante Boshaftigkeit
Ebenfalls bezaubernd schwarz ist der Roman »Im schönen Monat Mai« von Émilie de Turckheim: Auf einem Landsitz kommen fünf Personen zusammen, die auf den ersten Blick nichts gemein haben, abgesehen davon, dass sie zur Testamentseröffnung des vor kurzem verstorbenen Monsieur Louis geladen sind. Und wie es sich gehört für Geschichten, die auf abgelegenen Anwesen spielen, wird die Besucherschar nach und nach dezimiert. Erzählt wird die Begebenheit von Aimé, dem unbedarften Hausknecht, der in seiner naiven Sprech- und Sichtweise die Doppelmoral der besseren Gesellschaft entlarvt, ihre Gier und Lächerlichkeit, ihre Überheblichkeit und ihren Egoismus.
Hochcharmant mit tiefschwarzem Humor, feiner Ironie und scharfzüngiger Gnadenlosigkeit legt Émilie de Turckheim die Abgründe hinter der gutbürgerlichen Fassade frei. Und erst ganz am Ende werden die Zusammenhänge und der perfide Plan hinter den Ereignissen sichtbar – hoch bezaubernd und wundervoll böse!
Tödliche Informationen
Von ganz anderer Dunkelheit ist Peter Temples Thriller »Tage des Bösen«. Zwar ist er im Original bereits 2002 erschienen und erst jetzt übersetzt worden, doch diese zehn Jahre merkt man dem Buch in keiner Weise an. Kühl, lakonisch und mit bitterem Witz zeichnet Temple eine Welt, in der Informationen das wertvollste Gut sind. Die Firma W & K in Hamburg hat sich darauf spezialisiert, Informationen zusammenzutragen, egal aus welcher Quelle, egal für welchen Auftraggeber, egal für welchen Zweck. Gleichgültig auch die Frage nach der Legalität. Ungestellt ebenso die Frage, welche Konsequenzen sich aus den gelieferten Informationen ergeben – bis ein brisantes Video auftaucht, für das dubiose Organisationen zu töten bereit sind.
Vielleicht nicht ganz so herausragend wie Temples Thriller »Wahrheit«, ist »Tage des Bösen« ein grandioser Politthriller, der durch seine komplexe Dichte und meisterhafte Struktur begeistert. Kein fahrlässiger Satz, keine überflüssige Szene. Einer der besten Thriller dieses Jahres!
Adrian McKinty: Ein letzter Job
(Falling Glass, 2011)
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Suhrkamp 2012
ISBN 978-3-518-46372-7 auch erhältlich als eBook (hier klicken)
Émilie de Turckheim: Im schönen Monat Mai
(Le Joli Mois de mai, 2010)
Aus dem Französischen von Brigitte Große
Wagenbach 2012
ISBN 978-3-8031-2688-7 auch erhältlich als eBook (hier klicken)