Archiv für den Monat: November 2010

Das Morden im Walde

Ein postmoderner Heimatwestern

Kurz vor Einbruch des Winters erreicht ein Fremder ein abgelegenes Tal irgendwo hoch oben in den Bergen. Seiner Bitte um Quartier kommen die wortkargen Talbewohner nur widerwillig nach. Es ist eine sehr isolierte Gemeinschaft, beherrscht vom Großbauern Brenner und seinen sechs Söhnen. Mit dem ersten Schnee ist das Tal von der Außenwelt abgeschnitten und wird es bis zur Schmelze im Frühjahr bleiben. In dieser Abgeschiedenheit sterben kurz hintereinander zwei der Brenner-Söhne. Zunächst scheint es sich um Unfälle zu handeln, wie sie in dieser rauen Umgebung unvermeidlich sind. Doch nach und nach wird deutlich: Es steckt viel, sehr viel mehr dahinter.

Der Bauer schaute Greider ins Gesicht und sagte: »Die wer’n zu uns kommen.« Und das war – mehr die Bekundung einer Furcht – eine Anklage und eine Herausforderung des Fremden.
Greider erwiderte diesen Blick offen. Dann schüttelte er leicht und halb lächelnd den Kopf und erhob sich vom Tisch.
»Ich komm‘ zu denen«, sagte er.

Thomas Willmanns Debütroman ist eine sehr finstere, sehr archaische und sehr spannende Rachegeschichte, angesiedelt im späten 19. Jahrhundert und stark beeinflusst von Ludwig Ganghofer, Sergio Leone, Cormac McCarthy und Quentin Tarantino. Gekonnt mixt der Autor Elemente der Heimatliteratur und des Italowesterns, um eine klaustrophobische Atmosphäre, geprägt von Gewalt und harschen patriarchalen Strukturen, zu schaffen – und das vor der Kulisse einer weitgehend unberührten und vollkommen ungerührten Natur.

In Stil und Ausstattung, in ungeheuer dichten und stimmigen Bildern fängt Willmann das 19. Jahrhundert souverän ein, und dank der gelungen eingesetzten Filmzitate erhält das abgekaute Genre des Heimatromans einen bitter-ironischen Dreh. Unerwartet brüchige Figuren unterwandern drohende Klischees, unterstreichen das bestechende Konzept eines Heimatwesterns und bewahren das Buch davor, in die belanglose Kitschkiste zu rutschen. Stattdessen wird offenbar, was sich dahinter verbirgt: ganz grandioser Trash.

Kirsten Reimers

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Thomas Willmann: Ein finsteres Tal
Roman
Liebeskind 2010
geb., 315 Seiten, 19,80 Euro
ISBN 978-3-935890-71-7
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Zum Interview mit Thomas Willmann


Im Grenzbereich von Paranormalem und Neurotischem

Auch die vierte Gothic Novel von Phil Rickman überzeugt

In einer alten Hopfendarre im Frome-Tal soll es spuken, vermutlich der Vorbesitzer, der darin erschlagen wurde und nun nicht zur Ruhe kommt. Pfarrerin Merrily Watkins ist allerdings skeptisch: Vielleicht handelt es sich nur um eine PR-Aktion der jetzigen Bewohner. Auch der zweite Fall, mit dem die »Beraterin für spirituelle Grenzfragen« – oder altmodisch: Exorzistin – der Diözese Hereford im walisisch-englischen Grenzgebiet konfrontiert ist, scheint zweifelhaft: Die Eltern eines vierzehnjährigen Mädchens befürchten, dass ihre Tochter besessen ist; Merrily tippt eher auf die Pubertät. Doch da sie ihren Beruf ernst nimmt, nimmt sie sich beider Fälle an – mit höchst fatalen Folgen.

Fern von Schockeffekten

»Der Turm der Seelen« (im Original »The Cure of Souls«, 2001) ist der vierte Band um die sympathische, ketterauchende Exorzistin Merrily Watkins. In Großbritannien erscheint die Reihe seit Ende der neunziger Jahre, dort kommt sie bereits auf zehn Bücher. Diese werden seit Mitte 2009 vom Rowohlt Verlag dankenswerterweise schön chronologisch übersetzt und herausgegeben. Autor Philip Rickman wird in seiner Heimat England längst als »Steven King des UK« gehandelt, zumal er unter dem Pseudonym William King sehr erfolgreich Horrorromane schreibt.

Dieses lautstarke Etikett sollte einem aber nicht den Blick auf das verstellen, was in seiner wunderbaren Merriliy-Watkins-Reihe tatsächlich passiert: Fern von Schockeffekten und allem Aufgebauschten entwirft Rickman eine doppelbödige Atmosphäre der Verunsicherung. Statt auf Blut und Horror setzt er in diesen Büchern auf leise und intelligente Mehrdeutigkeit, die dem Leser nach und nach die Gewissheit entzieht: Ist die Welt wirklich, wie sie uns erscheint? Oder sind da nicht doch Kräfte oder Mächte, die sich nicht greifen, sondern gerade einmal vorbewusst erahnen lassen?

Mehrdeutigkeit als Prinzip

Eine eindeutige Antwort gibt es nicht auf diese Fragen – und das ist eine der Stärken dieser Reihe. Es gibt keinen Glauben, der alles erklären könnte, kein Weltdeutungssystem, das die »Wahrheit« brächte. Merrily als Hauptfigur ist zwar Pfarrerin der anglikanischen Kirche, aber die Bücher sind bei weitem nicht christlich, ja nicht einmal religiös. Denn auf Augenhöhe mit dem Christentum und ihm die Stirn bietend, gibt es zahlreiche weitere Deutungssysteme: Psychoanalyse, Wicca oder Satanismus – um nur einige zu nennen – und im aktuellen Buch abergläubische Überlieferungen der Roma.

Im Grunde bieten Rickmans aufgeklärte Gothic Novels eine vielschichtige philosophische Auseinandersetzung mit den Letzten Dingen – und dank des wunderbaren Personals ist diese alles andere als verkopft: Die Figuren sind höchst lebendig gezeichnet, skurril und kurios, ohne überzogen zu wirken, geprägt von einer leisen, feinen Selbstironie. Das macht das Geschehen intelligent und doppelbödig, doch nie bedeutungsschwanger. So auch im »Turm der Seelen«: ein wunderbarer Roman im Grenzbereich von Paranormalem und Neurotischem, sehr britisch, sehr leichtfüßig, elegant geschrieben und voller Unwägbarkeiten.

Kirsten Reimers

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Phil Rickman: Der Turm der Seelen
Aus dem Englischen von Karolina Fell
Rowohlt 2010
Tb, 622 Seiten, 9,95 Euro
ISBN 978-3-499-25333-1


»Eine nächtliche Parade von hundert Dämonen«

Tokio im Januar 1948. In der besetzten Stadt beginnt der Wiederaufbau, doch das Leben ist weiterhin von Gewalt und Korruption gezeichnet. Von den US-amerikanischen Besatzern schikaniert und gedemütigt, in feste Machtstrukturen eingefügt, ist der Alltag für die Bewohner Tokios von Elend, Unterordnung und Tod bestimmt.

Am 26. Januar, einem kalten, trüben Tag, betritt ein Mann die Filiale der Teikoku-Bank im Viertel Shiinamachi. Er gibt sich als Amtsarzt aus und vergiftet unter dem Vorwand einer Schutzimpfung die sechzehn anwesenden Personen. Zwölf von ihnen sterben sofort, die restlichen vier brechen bewusstlos zusammen. Der Mann verlässt die Filiale mit einer verhältnismäßig geringen Geldsumme.

»Es gibt nur Krankheit, es gibt nur Tod«

Wie schon in »Tokio im Jahr Null« greift David Peace auch im zweiten Band seiner preisgekrönten Tokio-Trilogie ein historisches Verbrechen auf. Der Giftmord löste die größte Verbrecherjagd in der Geschichte Japans aus. Angeklagt und verurteilt wurde Hirasawa Sadamichi, ein im Nachkriegsjapan recht bekannter Maler. Doch die tatsächliche Schuld Hirasawas wurde immer wieder angezweifelt. Noch während Peace sein Buch verfasste, wurde am Obersten Gericht in Tokio über den neunzehnten Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens beraten.

Auch David Peace geht davon aus, dass der Angeklagte die Giftmorde nicht verübt hat, sondern als willkommenes Opfer erwählt wurde, um eine intensivere Suche nach der Wahrheit zu verhinder. Anhand von zwölf Personen, die aus unterschiedlichen Blinkwinkeln und mit unterschiedlichem Informationsstand die Ereignisse und die Nachforschungen schildern, zieht Peace Verbindungen zu Japans Programm zur Entwicklung biologischer Waffen und zu Kriegsverbrechen des Staates gegenüber China und an Kriegsgefangenen. Zwischen den einzelnen Berichten reflektiert Peace über die Rolle des Schriftstellers, der ebenso Manipulierter wie Manipulierender ist.

Die Form, die der Autor gewählt hat, ist angelehnt an eine volkstümliche japanische Erzähltradition: Bei Einbruch der Nacht kommen Menschen zusammen, die sich im Schein von Kerzen unheimliche Geschichten erzählen. Nach jeder Erzählung wird eine Kerze gelöscht, bis schließlich tiefe Nachtschwärze herrscht:

»In diesem Augenblick, so glaubt man, tauchen in der Dunkelheit tatsächlich Ghule und Ungeheuer auf, die durch das schauerliche Geschichtenerzählen herbeigerufen wurden.«

»… wie ein blutig Eisen alle Männer«

Doch bei David Peace kommt kein wohliges Gruseln auf. Karg und hart schreibt Peace aus dem Gedankenstrom oder den Aufzeichnungen seiner Figuren heraus in einfacher, kraftvoller Sprache, die durch Wiederholungen und Wendungen stark rhythmisiert ist. Wie schon in »Tokio im Jahr Null«, diesmal aber noch bedrängter, läuft oft eine zweite, grafisch abgesetzte Ebene mit, mitunter sogar eine dritte.

Wie der Mond und die Sterne so rot aufgehen, sagt sie alle Männer haben Geheimnisse, alle Männer sind schuldig WIE DAMALS wie die Glut ihrer Öfen, wie ein blutig Eisen alle Männer, immer ABER VOR ALLEM MÖCHTE ICH, DASS DU MICH LIEBST So rot, so rot immer ICH MÖCHTE, DASS DU MICH LIEBST

Die Härte der Sprache und ihr Pulsieren wirken hypnotisierend und bedrohlich. Das evoziert eine alptraumhafte Atmosphäre: die der zerstörten Stadt mit ihren traumatisierten Bewohnern; Menschen, die sich im Krieg für Kaiser und Vaterland geopfert haben und nun belogen und betrogen werden; Menschen, die von Militär und Regierung manipuliert wurden, Gräueltaten zu begehen; Menschen, die sich dem aber auch nicht widersetzt haben, die sich stattdessen ergeben unterordneten. So sind Verbrechen und Ermittlung, Täter und Opfer keine Kategorien, die greifen könnten.

IN DER BESETZTEN STADT, doch diese Stadt ist ein Sarg. Diese Stadt ist ein Notizbuch. Diese Stadt ist ein Fegefeuer. Diese Stadt ist eine Pest. Diese Stadt ist ein Fluch. Diese Stadt ist eine Geschichte. Diese Stadt ist ein Markt. Diese Stadt ist eine Wildnis. Diese Stadt ist eine Wunde. Diese Stadt ist ein Gefängnis. Diese Stadt ist ein Spiegel. Diese Stadt ist ein Fluss. Und diese Stadt ist eine Frau …
»In Trauer«, flüstert sie. »Es bleibt nichts anderes. Nur Trauer. Nichts anderes bleibt. Nur Trauer …«

Dieser zweite Band der Tokio-Trilogie ist noch dunkler und verstörender als der erste; eine schmerzlich-eindringliche Leseerfahrung, die nachhaltig beeindruckt und gefangen nimmt.

Kirsten Reimers

David Peace: Tokio, besetzte Stadt
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Liebeskind 2010
geb., 350 Seiten, Euro 22,00
ISBN 978-3-935890-74-8

Diese Rezension ist zuerst im
Buchmessen-Special von hr-online erschienen.