Archiv für den Monat: Dezember 2009

Spurensuche innen und außen

Catherine O’Flynns bezauberndes Debüt zwischen Kriminalroman und Gesellschaftsporträt

Kate ist elf, als sie die Detektei Falcon-Ermittlungen gründet. Das ist im Jahr 1984. Ihr einziger Mitarbeiter ist Mickey Monkey, ein Stoffaffe, den sie zu ihrem Detektivpartner ausbildet. Besonders gut geeignet ist Mickey für Observierungen.

Er war klein genug, um trotz seines exotischen Outfits nicht aufzufallen. (…) Er trug einen Nadelstreifen-Gangsteranzug mit Gamaschen. Die Gamaschen verdarben zwar den Sam-Spade-Effekt etwas, aber Kate mochte sie trotzdem.

Wichtigste Grundlage für ihre Arbeit ist das Buch »Wie werde ich Detektiv«, dass ihr ihr Vater kurz vor seinem plötzlichen Tod schenkte. Mit ihm verband Kate die Leidenschaft für Krimis und Detektivspiele. Die Mutter hat die Kleinfamilie schon vor Jahren verlassen. Nun wächst Kate bei ihrer Großmutter auf, die sich nur wenig für das Kind interessiert. So hat Kate – unauffällig und höflich, in der Schule fleißig und zurückhaltend – den Freiraum, den sie braucht, um ihren Ermittlungen nachzugehen. Das tut sie mit großer Ernsthaftigkeit.

Kate notierte in ihrem Büchlein: »Gurken/Cornichons – nicht dasselbe: Unterschied recherchieren.« Sie hatte keine Lust, auf einer USA-Mission wegen eines so blöden Fehlers aufzufliegen.

Ihr wichtigster Tätigkeitsbereich ist das neueröffnete Einkaufszentrum Green Oaks. Andere Kinder dürfen nur mit ihren Eltern herkommen, doch Kate nimmt sich die Freiheit, es allein zu erkunden. Hier streift sie durch die Geschäfte, informiert sich über notwendige Ausrüstungsgegenstände (Walkie-Talkies, Stempelkissen für Fingerabdrücke und Ähnliches) und observiert Menschen, die ihr verdächtig erscheinen. Denn Kate ist sich sicher: Eines Tages wird hier ein Verbrechen geschehen – ein großes. Dafür will sie gerüstet sein.

Donnerstag, 26. April
Heute gesehen, wie sich großer Mann mit weißer Hautfarbe in Tropenpflanzenrondell in der Mitte des Hauptatriums versteckte. Schien mit einem Blatt zu reden. Kein kriminelles Motiv erkennbar, also gingen Mickey und ich schnell weiter.

Freitag, 27. April
Während Bankenobservierung plötzlich gesehen, wie einzelner Mann an mir vorbei und durch die Tür von Barclays ging. Hielt es eindeutig für einen Überfall. Folgte ihm mit meiner Kamera, aber er brüllte nur den Bankangestellten wegen irgendwelcher Bankgebühren an. Er benutzte eine Menge vulgärer Wörter, war aber unbewaffnet und plante offenbar keinen Bankraub. Trotzdem eine gute Übung – er hat uns kalt erwischt.

Doch eines Tages verschwindet Kate spurlos.

Lebenslügen hinter glänzender Oberfläche

Im Jahr 2003 entdeckt Kurt, Wachmann in der Shoppingmall Green Oaks, eines Nachts ein kleines Mädchen mit einem Stoffaffen und einem Notizbuch auf einem seiner Überwachungsmonitore. Doch er scheint der Einzige zu sein, der das Mädchen sehen kann. Gemeinsam mit Lisa, Managerin vom Dienst im CD-Laden der Mall, macht er sich auf die Suche nach dem Mädchen, denn Lisa hat einen verstaubten Stoffaffen mit weißen Gamaschen in einem der Versorgungsgänge entdeckt.

Die Suche nach dem Mädchen bringt Lisa und Kurt aber nicht nur einander näher, sondern lässt auch ihre Lebenslügen offenkundig werden. Und nicht nur ihre. Denn das Shoppingcenter Green Oaks wird in Catherine O’Flynns Debütroman (im Original: »What Was Lost«) zum Knotenpunkt zahlreicher Lebensläufe und Gesellschaftsentwicklungen. Hier treffen sie aufeinander, die Armen, die in den Mülltonnen nach Essbaren wühlen, die Klebstoffschnüffler, die auf dem Dach des Centers nicht mit ihrem Leben zurechtkommen, die konsumierfreudigen Angehörigen der unteren Mittelschicht, die wie gierige Zombies durch die Gänge wanken, die Besessenen, die in Green Oaks einen Lebenssinn finden, die Angestellten, die von diesem riesigen Gebäudekomplex regelrecht verschlungen werden. In kurzen Exkursen kommen sie zu Wort.

Im Zentrum aber stets: Green Oaks. Dieser Koloss von einem Einkaufszentrum mit seiner Ober- und Unterwelt. Während die Ladenpassagen glitzern und leuchten, freundliche Entspannungsoasen die Kunden einladen, sich niederzulassen, sind die Angestellten dazu verdammt, hinter den Kulissen durch graue, fensterlose Versorgungsgänge zu hasten, sich in winzige Teeküchen zu quetschen oder ihre Toiletten mit Kartons zu teilen. Zahllose Überwachungskameras beobachten sie dabei. Die Mall scheint lebendig zu sein, zu atmen, zu lauern.

Es war etwa 23 Uhr, als Kurt plötzlich mitten auf seinem Rundgang stehen blieb und den Atem anhielt. Er spannte die Gesichtsmuskeln an und horchte. Er versuchte, durch das leise Surren der Neonröhren und das noch leisere Schwirren der Lüftungsventilatoren hindurchzuhorchen, aber da war nichts. Er war ganz in Gedanken gewesen und konnte nicht sagen, wie lange er schon gespürt hatte, dass da jemand war.

Kriminalgeschichte, Gesellschaftsporträt, Gespenstererzählung, Entwicklungsroman

Green Oaks fängt die Menschen ein und lässt sie nicht los. Die kleinen Läden in der Hauptstraße verlieren ihre Kunden, die Innenstadt verödet und wird gefährlich für wehrlose oder ältere Passanten. Kurts Mutter muss das schmerzhaft erfahren. Die gesellschaftliche Schere wird größer, das soziale Klima kälter. Wer überleben will, passt sich an in Green Oaks, schuftet stundenlang, um sich eine Wohnung leisten zu können, in der er sich kaum aufhält.

Bei allem Sozialbezug: Nie hebt Catherine O’Flynn anklagend oder gar besserwisserisch den Zeigefinger: Sie beobachtet scharf und klug und lässt das Erkannte leichtfüßig und unaufgeregt in ihre Geschichte einfließen. Witzig und elegant erzählt sie anrührend – ohne je sentimental zu werden – die Geschichte von Kate, die mit ihrem Leben und über ihr Verschwinden hinaus viele Menschen berührt und verändert. So gelingt es O’Flynn, Kriminalgeschichte, Gesellschaftsporträt und Gespenstererzählung zu einem einfühlsamen und intelligenten Entwicklungsroman zusammenzuführen.

Kirsten Reimers

Zum Bestellen bei eBook.de einfach auf den Titel klicken:

Catherine O’Flynn: Was mit Kate geschah
Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann
Atrium 2009
geb., 270 Seiten, Euro 19,90
ISBN: 978-3-85535-580-8

Diese Rezension ist auch erschienen auf satt.org


Überrollt von Sentiment

Differenziert gestartet, reduziert gestrandet

Laura Lippman lehnt ihr Buch (im Original: »What the Dead Know«) an einen wahren Fall an: Im März 1975 verschwanden in der Nähe einer Shoppingmall in Baltimore zwei Mädchen, Schwestern genauer gesagt. Es wurde nie ein Spur von ihnen gefunden. Lippmans Geschichte nimmt diese Ausgangssituation auf, weiter gehen die Ähnlichkeiten aber nicht.

Bei Laura Lippman sind es die Schwestern Sunny und Heather Bethany, 15 und 12 Jahre alt, die am Ostersamstag des Jahres 1975 während eines Ausflugs in eine Shoppingmall verschwinden. Sie lösen sich regelrecht in Luft auf. Dreißig Jahre lang gibt es keinerlei Spuren oder Hinweise, was mit ihnen geschehen sein könnte. Doch dann taucht eine Frau auf, die behauptet, Heather, die jüngere Schwester, zu sein. Allerdings bleiben die ermittelnden Polizisten misstrauisch: Die Frau weiß zwar Dinge, die nur einem Familienmitglied oder einer sehr engen Vertrauten bekannt sein können, aber andererseits lügt sie ganz offensichtlich und hält Informationen zurück. Sie scheint ein sehr eigenes Spiel zu spielen.

Geduldiges Aufrollen der Vergangenheit

Die Autorin lässt sich viel Zeit in der Entwicklung ihrer Geschichte, und das ist vermutlich das Beste an diesem Buch. Das Geschehen in der Gegenwart nimmt nur wenige Tage ein, den Rest des über 400 Seiten dicken Buches füllen Rückblenden. So wird der Tag, an dem die Mädchen verschwanden, aus Sicht eines jeden Familienmitglieds geschildert: Je mit Blick auf Sunny, Heather, ihre Mutter Miriam und ihren Vater Dan wird aufgerollt, wer was getan hat.

Weitere Rückblenden berichten aus den vergangenen dreißig Jahren, im Fokus wieder jeweils eine Person. Die Eltern haben sich wenige Jahre nach dem Verschwinden ihrer Töchter getrennt. Dan, der Vater existiert nur noch für die Erinnerungen an seine Kinder. Er ist in Baltimore geblieben, im gleichen Haus, stets umgeben von den Trümmern eines zerstörten Familienlebens in der Hoffnung, eines Tages kämen Sunny und Heather zurück. Erstarrt in der Vergangenheit, ist er nur noch eine funktionierende Hülle. Miriam hingegen ist zu der Überzeugung gelangt, dass ihre Töchter tot sein müssen, sonst hätten die Eltern längst etwas von ihnen gehört. Sie hat sich ein neues Leben aufgebaut, das sie schließlich bis nach Mexiko führt – stets die Vergangenheit verschweigend, um Nachfragen und Erinnerungen zu vermeiden.

Andere Rückblicke erhellen Teile der Vergangenheit jener Frau, die behauptet, Heather Bethany zu sein. Es sind Ausschnitte einer schrecklichen Jugend: Sie ist aufgewachsen unter falschem Namen in einer Familie, die nicht ihre leibliche ist, sexuell missbraucht, geschlagen, missachtet. Als sie älter ist, wird sie aus ihrem offenen Gefängnis hinausgestoßen und führt von da an ein Leben mit ebenso oft wechselnden Identitäten wie Jobs, weil sie sich nirgendwo einpassen kann und sehr aggressiv wie auch manipulierend auftritt.

Der Umgang mit Traumata und das Vermeiden von Konflikten

Auf diese Weise steht in Laura Lippmans Buch weniger die Krimihandlung im Vordergrund, sondern weit mehr geht es um den unterschiedlichen Umgang mit Traumata, um das, was Verlust, Schmerz, aber auch fortwährende Demütigung aus einem Menschen machen, wie diese Erfahrungen das Leben beeinflussen. Lippman zeichnet ihre Figuren mit viel Einfühlungsvermögen: Die Langzeitporträts lassen sich verändernde Charaktere lebendig werden. Aber auch Figuren, die nur in der Gegenwart agieren, erhalten eine deutliche Kontur. Von den Ermittlern, die prüfen, ob die Fremde tatsächlich Heather Bethany ist, erfährt man zum Beispiel gerade genug an Eigenheiten, um einen lebendigen Eindruck zu gewinnen, ohne das unnötig lange Ausflüge in deren Privatleben notwendig sind. Auch der Grund für das Verschwinden der Mädchen ist nachvollziehbar – warum es allerdings dreißig Jahre lang keinerlei Spuren gab, ist schon etwas schwieriger zu schlucken.

Überhaupt bricht auf den letzten Metern alles in sich zusammen. Denn am Ende schwappt mit der Beantwortung aller Fragen eine große Harmoniewelle über alles und jeden hinweg und lässt strahlend hell und glänzend eine heile Welt zurück. Alles, was stören könnte, wird in einem Schwung weggewaschen, so dass Figuren, deren Ecken und Kanten zuvor mit Sorgfalt herausgemeißelt worden waren, am Ende glattgeschliffen glücklich Happyend spielen können. Nichts, was nicht durch ein einfaches Gespräch und schlichte Liebe zu bereinigen wäre – dabei hat sich die Autorin zuvor so viel Mühe gegeben, zu zeigen, was permanente Gewalterfahrungen oder das stete Verbergen von Teilen des eigenen Lebens mit der Fähigkeit zu vertrauen anstellen können. So spült die Harmoniewelle den sorgsam gebastelten Unterbau einfach weg und hinterlässt nichts als Kitsch.

Kirsten Reimers

Laura Lippman: Was die Toten wissen
Aus dem Amerikanischen von Mo Zuber
Goldmann 2009
kart., 410 Seiten, 8,95 Euro
ISBN: 978-3-442-46898-0

Eine Besprechung des Buches ist auch erschienen im
Titel-Magazin: Samstag ist Krimitag

Die oben stehende Rezension ist auch erschienen bei satt.org


»Was mir wahnsinnig gegen den Strich geht …«

Der Realität eine Chance – auch in Kriminalromanen

Aus vielerlei Gründen ist es gar nicht so einfach, einen Menschen umzubringen. In Krimis ist dies zwar das tägliche Geschäft. Aber Krimis sind ja auch Fiktion, ihre Figuren und deren Motivationen weitgehend frei erfunden. Doch auch in den Punkten, in denen Krimis versuchen, sich der Wirklichkeit anzunähern, herrscht oft große Fabulierlust: Menschen werden in Sekunden- schnelle erwürgt, Staats- anwälte oder gar Polizeichefs stellen Haft- befehle aus, Gerichts- mediziner können allein durch Handauflegen den Zeitpunkt des Todes auf zwei Stunden eingrenzen.

Das Handbuch von Krimiautorin Christine Lehmann und Fahnder Manfred Büttner räumt auf mit diesen und vielen weiteren Schnitzern und groben Verfälschungen. Ebenso kompetent und fundiert wie witzig und frech klären die beiden auf: Welche Wunden schlagen welche Mordwerkzeuge, wie wird tatsächlich ermittelt, was passiert bei der Obduktion. Diese und viele weitere Fragen beantwortet das künftige Kompendium von Krimiautorinnen und -autoren. Ein besonderes Bonbon – wenn man so will – ist die Übersicht über tödliche Gifte und ihre Wirkungen. (Wenn Sie hier klicken, kommen Sie zur Besprechung des Buches.)

 

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, dieses Sachbuch zu schreiben?

Lehmann: Wir beide gucken gerne Krimis im Fernsehen, lesen gerne Krimis, und vor allem bei Fernsehkrimis fallen Fehler auf – also, wenn man zum Beispiel eine schöne Leiche sieht und dann erfährt, dass die drei Wochen im Wasser gelegen haben soll. Das kann einfach nicht sein. Die sieht dann nicht gut aus. Es gibt immer wieder Kleinigkeiten in Krimis, die nicht so laufen, wie sie eigentlich in der Wirklichkeit laufen würden. Irgendwann war mir das zu viel. Da habe ich gedacht, wir müssen da mal was schreiben. Deshalb hab ich Manfred Büttner gefragt, der mich seit Jahren berät. Und der war sofort Feuer und Flamme.

Büttner: Auch aus Ermittlersicht läuft da einiges schief. Obwohl – logisch, das wissen wir auch und das kommt im Buch hoffentlich hinreichend rüber: dass es ist nicht darum geht, dass die Wirklichkeit eins zu eins abgebildet wird. Aber wenn dann Sachen da sind, die so überhaupt gar nicht passen, dann stört’s einen gelegentlich doch. Deswegen bin ich auch gern mit eingestiegen.

Können Sie heute noch Krimis lesen oder sehen, ohne dabei nervös und kribbelig zu werden, weil Sie denken, das geht doch so nicht?

Lehmann: Ja, mir geht das so. Wenn zum Beispiel zum hundertsten Mal der Chef der Polizei einen Durchsuchungsbeschluss ausstellt. Wobei es nicht nur so ist, dass das in Krimis verkehrt läuft, das läuft oft auch in Nachrichtensendungen verkehrt. Also, wenn der Staatsanwalt einen Haftbefehl ausstellt, das geht halt einfach nicht. Uns lag am Herzen zu sagen, dass unser Rechtsstaat immer noch ein Rechtsstaat ist und nach bestimmten Regeln funktioniert. Das ist auch wichtig.

Büttner: Manche Sachen sind einfach von der Begrifflichkeit her falsch. Im Moment hat sich in der Nachrichtensprache zum Beispiel das Wort »Razzia« statt »Durchsuchung« durchgesetzt. Aber unter einer Razzia versteht man was Besonderes nach dem Polizeirecht. Razzien in dieser Form gibt es in Deutschland einfach nicht. Und das aus gutem Grund. Wenn solche Begriffe unterschiedlich oder einfach auch falsch verwendet werden, stolpert man halt drüber. Aber es ist auch so, dass mich in Krimis manches nicht stört, weil die halt weit ab von der Realität sind, da gehört das dann einfach dazu.

Lehmann: Was mir wahnsinnig gegen den Strich geht, ist die Art und Weise, wie die Polizei in Krimis mit Zeugen und Tatverdächtigen umgeht. Viele Krimis funktionieren ja so, dass die Ermittler irgendwann anfangen, einen, der eigentlich als Zeuge geladen ist und ganz harmlos dasitzt, ohne Vorwarnung zu überführen. Sie schreien ihn an, sie setzen ihn unter Druck, sie bedrohen ihn, sie tricksen ihn sogar aus. Und er hat keine Chance, und denkt auch gar nicht daran, dass er einen Anwalt dazu holen kann. Das stört mich sehr, denn so entsteht der Eindruck bei einem Normalbürger wie mir, dass, wenn ich als Zeugin womöglich mal in Verdacht gerate, mir so etwas auch passieren kann. Dass ich kaum Rechte habe. Ich bin mal an der DDR-Grenze sechs Stunden lang verhört worden. Ich weiß, wie das ist und wie sich das anfühlt. Ich möchte nicht glauben, dass so etwas bei unserer Polizei auch möglich ist und dass ich wirklich Angst haben muss.

Es fragt sich ja auch, wie weit Fiktion nicht wieder auf die Realität abfärbt.

Büttner: Das ist gar nicht so weit hergeholt. Es gibt den Erfahrungswert, dass man in Situationen, die man nicht oft erlebt, auf Vorbilder zurückgreift. Da muss man sich halt irgendwie verhalten. Ich erinnere mich an eine Schutzpolizistin, die im Streifendienst tätig war und dann mal jemanden festnehmen musste. Etwas, das aus dem normalen Streifenalltag herausgefallen ist. Der Festgenommene hat beharrt: »Ich habe doch das Recht auf einen Anruf.« Und die Polizistin – vielleicht hat sie da bei der Ausbildung auch nicht richtig aufgepasst -, die hat auch gedacht, na, so müsste es wohl sein. Es ist völlig klar, woher sie das hat: aus den typischen amerikanischen oder angelsächsischen Krimis. Krimis können durchaus eine Lehrfunktion Richtung Polizei haben.

Lehmann: Auch Polizisten lesen Krimis.

Büttner: Aber es ist schon so, dass, wenn es sich um entsprechend dramatische Sachen handelt – Kapitaldelikte in irgendeiner Form -, dann sind überwiegend erfahrene Fachleute dabei, weil das sehr, sehr institutionalisiert abläuft. Da kommt es nicht vor, dass jemand vernommen wird und der Anwalt sitzt nicht dabei. Das gibt es einfach nicht. Das ist nur im Fernsehkrimi so, dass einer alleine einen Zeugen befragt.

Lehmann: Was mich sehr beschäftigt, ist der Profiler, weil der heute in unsere Krimis Einzug hält. Deswegen ist mein Kapitel über den Profiler, der eigentlich ein Fallanalytiker ist, relativ lang geraten, weil mir klar geworden ist, dass alle Profiler, die in deutschen Krimis vorkommen, vollkommen falsch dargestellt sind. In zwei, drei Jahren mag das gar keine Rolle mehr spielen, aber jetzt ist das völlig daneben. Die werden als Psychologen mit genialer Intuition dargestellt, aber es sind in Wirklichkeit Polizisten, die mit Statistiken arbeiten. Und auch das wiederum in einer sehr streng formalisierten Art und Weise. Das ist meines Erachtens in Krimis bisher noch gar nicht dargestellt worden. Wird auch in amerikanischen Krimis nicht dargestellt. Der Profiler ist derzeit diese neu aufkommende Figur, die wieder den genialen Detektiv zurückbringt, einer, der sich auf seine Spürnase verlässt, der sich in den Täter hineinversetzt, dessen Gefühle nachvollzieht und dann praktisch dessen Verbrechen begeht. Also der alte Father Brown. Das ist in der Realität überhaupt nicht so. Und trotzdem ist die Arbeit der Fallanalytiker sehr, sehr spannend.

Solche Dinge richtig zu stellen, ist auch ein Anliegen Ihres Handbuches. Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Lehmann: Nun, ich hatte Zeit – Zeit ist auch immer eine wichtige Voraussetzung – und dachte, jetzt ist der Punkt gekommen, um das in Angriff zu nehmen. Darum habe ich mich mit Manfred Büttner beraten, wie wir das machen könnten. Man recherchiert ja immer, wenn man einen Krimi schreibt, und ich hab mich schon in so viele Gebiete eingelesen und mir selbst Wissen angeeignet, dass ich das nun anderen leichter machen wollte. Damit Autorinnen nicht bei null anfangen, sondern die Basics schon zusammengetragen sind. Wenn sie dann etwas Besonderes suchen, sollen sie selbst recherchieren. Die Recherche an sich wollen wir ja niemandem abnehmen. Es fehlt auch bestimmt einiges. Aber es ist schon eine Menge zusammengekommen.

Büttner: Wir haben uns thematisch einfach aufgeteilt. Ich habe eher die polizeiinternen Geschichten gemacht, also das, was man unter Fachleuten das Strafprozessuale nennt: die staatsanwaltschaftliche Tätigkeit, die gerichtliche Tätigkeit, was machen Ermittler, wie sieht es dann vor Ort aus, wie geht man miteinander um und so. Wenn so etwas zumindest ansatzweise im Krimi auftaucht, dann ist das schon näher an der Realität.

Lehmann: Abgesehen davon macht es die Krimis auch schöner. Denn manchmal steckt in der Polizeiarbeit selbst oder in einem Ermittlungsansatz schon eine Geschichte. Wenn man das weglässt, hat man die Geschichte gar nicht. Oder man hat in den Hierarchien der Polizei bereits ein Drama, das man für einen Krimi verwenden kann. Also ich finde, dass in der Realität oft Geschichten stecken, die wir nicht entdecken, wenn wir nur phantasieren.

Herr Büttner, Sie kommen eher von der Wirtschaftsseite, oder? Was machen Sie genau?

Büttner: Ich bin von Haus aus Steuerfahnder und habe seit einigen Jahren sowohl an der Hochschule für Finanzen als auch an der Hochschule der Polizei Lehraufträge, sodass ich auch im Fortbildungsbereich tätig bin. Auf diese Weise habe ich recht vielfältige Berührung mit der Polizeiausbildung. Aber mein eigentlicher Schwerpunkt sind Wirtschaftsstrafsachen.

Sie beide kennen sich schon lange …

Lehmann: Wir kennen uns seit zwanzig Jahren, ja.

Aber das Handbuch ist Ihre erste Zusammenarbeit – also zumindest in dieser Form.

Lehmann: Wie schon gesagt: Manfred berät mich seit Jahren, seine Informationen sind immer wieder in meine Krimis eingeflossen, nur dass ich sie halt sonst selbst in die Maschine getippt habe. Aber das Handbuch ist tatsächlich das erste Buch, das wir gemeinsam geschrieben haben

Frau Lehmann, Sie schreiben nicht nur Krimis, sondern sind auch journalistisch tätig.

Lehmann: Ja, ich bin beim SWR Nachrichtenredakteurin und Politikredakteurin.

Hat das Einfluss auf Ihre Krimis?

Lehmann: Gar nicht! Natürlich gibt es da die spektakulären Fälle, dass ein totes Kind in einem Blumentopf gefunden wird oder dass ein Mann seine Frau und seine Kinder erschießt, oder eine Mutter bringt ihre Kinder um. Diese Sachen kommen mir natürlich auf den Schreibtisch, und man meldet das dann als Nachricht. Aber ich habe noch keinen Krimi geschrieben, in dem so etwas eine Rolle gespielt hätte, und zwar deswegen, weil der Krimi etwas anderes ist. Normalerweise ist ein Verbrechen relativ schnell aufgeklärt mit den Mitteln, die man heute hat. Die echte Kriminalität ist ja meist rechtbanal. Der Krimi aber erzählt ein menschliches Drama. Und er macht es kompliziert, auch die Aufklärung. Da weiß man halt nicht sofort, wer’s war – zumindest in meinen Krimis, aber es gibt natürlich auch andere Formen. Aber deswegen spielen die realen Fälle in meinen Krimis kaum eine Rolle.

Gut, die realen Fälle nicht, aber doch der soziale Hintergrund von Fällen oder Themen, oder?

Lehmann: Ja, aber das wüsste ich auch, wenn ich ganz normal fernsehen würde. Dazu muss man nicht Nachrichtenredakteurin sein, denke ich. Vielleicht muss man Journalistin sein, um zu recherchieren. Da spielt es sicherlich eine Rolle, aber die Nachrichten selbst haben keine große Bedeutung für meine Krimis.

Herr Büttner, Sie haben ein Fachbuch geschrieben über – äh, Vermögensabschöpfung, nicht wahr? Aber bislang nichts Belletristisches?

Büttner: Nein, nein. In der Belletristik habe ich bisher nichts veröffentlicht. Aber halt das Fachbuch zum Thema Vermögensabschöpfungen von illegal erworbenen Vermögenswerten. Da geht es letztlich darum, dass man Straftätern das, was sie aus einer strafbaren Handlung bezogen haben, wieder wegnimmt. In den Vorlesungsmanuskripten bemühe ich mich vielleicht, der Belletristik etwas näher zu kommen, suche nach anschaulichen Beispielen, um mich verständlicher auszudrücken. Als wir das Handbuch geschrieben haben, da war es aber schon so, dass ich mich immer am Riemen reißen musste, um nicht zu fachbuchig zu werden. Christine Lehmann hat mich dann immer wieder auf den Weg gebracht, hat gemahnt, das muss verständlicher werden oder darf nicht so juristisch klingen.

Lehmann: Es kam uns in diesem Buch auch darauf an, dass wir niemandem nahelegen, wie man Verbrechen begeht. Das geht mir übrigens bei jedem Krimi so, in dem ich eine Mordmethode schildere, die für jeden nachvollziehbar ist. Ich mach das dann immer so, dass irgendein Element nicht stimmt, sodass man es nicht so leicht imitieren kann. Das ist natürlich ebenfalls in diesem Handbuch so. Wir stellen ja auch verschiedene Gifte vor. Aber es ist schon so, dass man mit Gift nicht so leicht morden kann, und auf die Mengenangaben, die wir gemacht haben, würde ich mich nicht verlassen. Da habe ich eher zu tief gegriffen.

Werden Sie nicht schief angeguckt, wenn Sie zum Beispiel einen Arzt fragen, ob ein Medikament in größerer Dosis tödlich wirken kann?

Lehmann: Ich hab mehrere Ärzte gefragt und festgestellt, dass die sich nicht mit dem Morden beschäftigen möchten. Wenn die einen nicht kennen, werden sie schon mal misstrauisch, was man denn vorhat. Das lasse ich jetzt auch. Es gibt ja genügend andere Möglichkeiten, sich zu informieren. Ich habe auch mal einen ADAC-Menschen gefragt, wie man denn Bremsen beschädigt. Das war dem ganz unangenehm. Der war kurz davor, die Polizei zu rufen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Kirsten Reimers

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Christine Lehmann & Manfred Büttner: Von Arsen bis Zielfahndung
Das aktuelle Handbuch für Krimiautorinnen und Neugierige
Ariadne im Argument Verlag 2009
kart., 250 Seiten, 16,90 Euro
ISBN 978-3-88619-720-0

Eine leicht gekürzte Fassung dieses Interviews ist bereits im Titel-Magazin erschienen.