Archiv für den Monat: August 2009

»So etwas macht den gutmütigsten Mörder nervös«

Simon Brenner ermittelt wieder notgedrungen, während sein Erzähler schwatzt

Vor sechs Jahren verließ Expolizist und Exprivatdetektiv Simon Brenner heimlich mit seiner neuen Freundin seine Heimatstadt Graz, auf dem Motorrad entfloh er aus Puntigam, nachdem sich seine Erzählstimme für ihn geopfert hatte. Nun ist der Brenner wieder da: in Wien, ohne Freundin, ohne Motorrad, dafür nimmt er Antidepressiva und arbeitet als Chauffeur für den Bauunternehmer Kressdorf. Da der Baulöwe (»Wenn du heute dein erstes Einfamilienhaus auf die Wiese gestellt hast und es bricht nicht schon am ersten Tag zusammen, sofort Baulöwe.«) sein Büro in München hat und seine Frau ihre Klinik in Wien, wird die gemeinsame Tochter Helena zwischen beiden Städten hin- und hergefahren.

Dem Brenner gefällt dieser Job, er mag die Helena, er mag das Autofahren. Doch eines Tages kann er sich bei einem Tankstopp nicht entscheiden, welche Schokolade er dem Kind mitbringen möchte. Das setzt eine Kettenreaktion in Gang, die sieben Menschen das Leben kostet. Außerdem spielen Abtreibungsgegner, eine Südtirolerin, Schrebergärten, eine Sickergrube, Mücken und der liebe Gott neben vielem anderen eine wichtige Rolle. Und natürlich Jimi Hendrix und das Unterbewusstsein.

Schau, von mir aus: Denk, was du willst! Ich weiß nur, dass der Brenner jetzt, wie er sich im Licht der Abendsonne in der Senkgrube auf die Suche nach der Leiche gemacht hat, von einer fast übernatürlich leuchtenden Insektenaura umgeben war, halb Imker im Sonnenuntergang, halb Jimi Hendrix im Konzertscheinwerferlicht.

»Aber wenn du als Chauffeur ohne Auto im Regen stehst, ist das natürlich subjektiv der Moment, wo du begreifst, dass du eine Krise hast«

»Der Brenner und der liebe Gott« ist der siebte Krimi um den grüblerischen, depressiven, maulfaulen und etwas widerwilligen Ermittler Simon Brenner – und er ist vielleicht der bislang beste: Haas erzählt bunter, geruchsintensiver, plastischer und auf seine Art auch konzentrierter. Seine wunderbaren Seiten- und Abwege sind thematisch enger mit dem Roman verbunden, mäandern um zentrale Punkte und Fragen herum. So entstehen Leitthemen (Mücken, Leben, Tod), die immer wieder anders umkreist werden, den Roman zusammenhalten und ihm eine intensive, variantenreiche Dichte verleihen: Alles ist mit allem verwoben, jeder Schritt zeitigt Konsequenzen. Dadurch gewinnt auch die Handlung, die stringenter aufgebaut ist als früher. Nun las man aber die bisherigen Krimis von Wolf Haas nicht zwingend wegen des Plots. Weit wichtiger, spannender, verblüffender und witziger waren und sind die Erzählweise und die Sprache. »Der Brenner und der liebe Gott« überzeugt durchaus in allen Punkten. Reibungslos fügt er sich ein in die Reihe der bisherigen Simon-Brenner-Krimis.

Und da beginnt das Problem.

Auch der neue Roman ist in dieser grandiosen kunstvoll-künstlichen Umgangssprache geschrieben, die intelligent und konnotationsreich Themen anreißt, durch Verschweigen benennt, durch Kategorienverschiebung aufschlussreiche Zusammenhänge herstellt. Auf diese Weise ist der Roman aufgeladen mit Anspielungen auf Ereignisse der letzten Jahre (Kampbusch-Entführung), immerwährenden Lebensweisheiten (»Hinter jedem Massenmörder steht eine Massenseufzerin.«) und Kommentaren zur Gegenwart.

Normalerweise sagt man ja, dass sich ein frisch Wiederbelebter eine Zeitlang ausruhen darf, und der muss noch nicht sofort wieder ins Mobbingbüro zurück, aus dem er sich gerade mit Anlauf gestürzt hat, sondern erst nach der Mittagspause. Aber das ist wieder der Vorteil als Mörder. Da musst du dich mit den kleineren Moralvorschriften nicht mehr so herumquälen.

Berichtet wird dies alles erneut von einer distanz- und tabulos schwatzenden und kommentierenden Erzählstimme, die dem Brenner dicht auf den Fersen ist, die weiß, was er fühlt und denkt (während der Brenner – wegen der Tabletten – womöglich noch stiller und langsamer ist als vor sechs Jahren).

Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sagen, in den Schrebergärten mehr Leichen als auf den Friedhöfen, aber die Sondermüllbelastung auf jeden Fall größer. Weil bei den normalen Friedhöfen nehmen sie den Verstorbenen doch die schlimmsten Sachen heraus, die Batterien von den Herzschrittmachern, die künstlichen Gelenke, die Zahnprothesen und Silikonsachen, damit das Grundwasser nicht zu sehr leiden muss. Und die Schrebergartenleichen werden meistens huschpfusch in aller Eile verscharrt, Batterien und alles drinnen.

»Der liebe Gott hat sich das alles nur mit einem Lächeln angeschaut, weil freier Wille«

Diese neue Erzählstimme hat gut gelernt von der alten: Sie ist im Ganzen etwas eloquenter, etwas gehobener im Ausdruck, etwas schärfer und ätzender im Kommentar, und sie sagt auch nur ein einziges Mal »ding« (obwohl es natürlich sein kann, dass in »Das ewige Leben« schon alle »ding« aufgebraucht wurden) – aber letztendlich sind das nur graduelle Abweichungen von der früheren Stimme.

So witzig und gut diese Erzählweise ist – nach dem furiosen Ende der Erzählstimme im sechsten Buch, nach Wolf Haas‘ wiederholter Beteuerung, »Das ewige Leben« sei der letzte Simon-Brenner-Roman und das sei auch gut so, und vor allem wegen des hervorragenden Romans »Das Wetter vor 15 Jahren« – für das der Linguist und ehemalige, legendäre Werbetexter Haas den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis erhalten hat – ist das Aufgreifen der alten Stilmittel in aufpolierter Form etwas enttäuschend. »Der Brenner und der liebe Gott« ist ein wirklich tolles Buch – aber letztlich ist diese Rückkehr ein Rückschritt, weil nichts Neues passiert, weil die »Hier!«-schreiende Möglichkeit, mit einem neuen Erzählstil zu experimentieren, ungenutzt blieb. Das ist wirklich schade und etwas langweilig. Es lässt den Mut vermissen, der hinter den bisherigen Büchern stand.

Aber davon mal ab: »Der Brenner und der liebe Gott« steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, der am 12. Oktober zum Auftakt der Buchmesse in Frankfurt/Main verliehen wird.

Kirsten Reimers

Zum Bestellen bei eBook.de einfach auf den Titel klicken:

Wolf Haas: Der Brenner und der liebe Gott
Hoffmann & Campe 2009
gebunden, 224 Seiten, 18,99 Euro
ISBN: 978-3-455-40189-9

Diese Rezension ist auch erschienen auf satt.org

Auch einen Klick wert: die Besprechung auf Literaturkritik.de


Wolf-Haas-Verlosung: Lösungen und Gewinner

Das erste Gewinnspiel auf Mord-und-Buch.de ist vorbei. Ein herzliches Dankeschön an alle, die mitgemacht haben.

Die Lösungen lauten:

1. Wie heißt der Hund vom Schmalzl in »Wie die Tiere« (der mit dem Handy)?
Das ist Evita. (Puppi, den viele als Lösung genannt haben, ist der Hund, der Manu Prodinger totbeißt, und der gehört nicht dem Schmalzl. Und ein Handy apportiert er auch nicht.)

2. Am Anfang von »Das ewige Leben« erwacht Brenner aus dem Koma. Wie lauten seine ersten drei Worte? Klar:
»Lustig sammer, Puntigammer.«

3. Mit welchem Satz beginnen die Simon-Brenner-Romane seit »Der Knochenmann«? Natürlich:
»Jetzt ist schon wieder was passiert«

Die Gewinner stehen fest und sind benachrichtigt. Es sind:

M. Rölcke aus Berlin
B. Grützmacher aus Bohmte
und
C. Gross aus Saarwellingen

Herzlichen Glückwunsch!

 

 

Wolf Haas: Der Brenner und der liebe Gott
Hoffmann & Campe 2009
gebunden, 224 Seiten, 18,99 Euro
ISBN: 978-3-455-40189-9


Gewinnspiel: Der Brenner und der liebe Gott

Erstmals gibt es etwas zu gewinnen auf Mord-und-Buch.de

Unter den Einsendungen mit den richtigen Antworten auf die folgenden Fragen verlost Mord-und-Buch.de dreimal je eine Ausgabe des neuen Buches von Wolf Haas: »Der Brenner und der liebe Gott«.

Wissen Sie’s noch?

1. Wie heißt der Hund vom Schmalzl in »Wie die Tiere« (der mit dem Handy)?
2. Am Anfang von »Das ewige Leben« erwacht Brenner aus dem Koma. Wie lauten seine ersten drei Worte?
3. Mit welchem Satz beginnen die Simon-Brenner-Romane seit »Der Knochenmann«?

Die Antworten per E-Mail bitte an: reimers@mord-und-buch.de

Einsendeschluss ist der 27. August 2009. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Viel Glück und viel Spaß!

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.************Aus der Verlagsvorschau*****************

Ob du es glaubst oder nicht. Der Brenner ist wieder da. Ein Comeback, wie es noch keines gab.
Der Brenner, Expolizist und Exdetektiv, hat endlich einen guten Job gefunden. Noch nie im Leben hat er sich so wohlgefühlt. Aber es wäre nicht der Brenner, wenn es lange dauern würde, bis wieder was passiert. So sorgt eine Tafel Schokolade für eine Kettenreaktion, an deren Ende sieben Begräbnisse stehen.

 

 

 

 

 

Erscheinungstermin: voraussichtlich 27. August 2009

Wolf Haas: Der Brenner und der liebe Gott
Hoffmann & Campe 2009
geb., 224 Seiten, Euro 18,99
ISBN: 978-3-455-40189-9


Die wahren Regeln

Ein verstörender Blick in die amerikanische Gesellschaft

Weil ihm der junge Schwarze Henry Ray Boxer Geld schuldet, sucht Paris Trout dessen Familie auf und schießt mehrfach auf sie. Henry Rays Mutter wird schwer verletzt, die vierzehnjährige Rose, die bei der Familie lebt, stirbt. Für Paris Trout keine große Sache. Er ist Geschäftsmann, die Schulden waren rechtsmäßig, wie er immer wieder beteuert. Er hat nur seine Interessen verteidigt. Dass die beiden Frauen in seine Schusslinie gerieten, dafür kann er nichts: »Wenn sie niedergeschossen wurden, dann waren sie selbst schuld. Genau wie man ja auch nicht den Ingenieur verurteilen würde, wenn sie vor einen Zug gesprungen wären.«

In dem Südstaatenörtchen Cotton Point, in dem Paris Trout seinen Gemischtwarenladen führt, ist das im Grunde auch kein großer Skandal. Zwar weiß man auch hier: »Die Gesetzesvorschriften bezüglich Mordes unterscheiden in diesem Staat nicht zwischen den Rassen.« Wie Staatsanwalt Townes beharrt: »Vor dem Gesetz sind alle Arten gleich.« Doch Paris Trout hält ihm entgegen, wie es tatsächlich ist: »Das sind nicht die wahren Regeln, und das wissen Sie genau.«

Zwischen Hexenjagd und Koreakrieg

Der Roman spielt Anfang der fünfziger Jahre in den USA. Senator McCarthy veranstaltet innerhalb der Gesellschaft seine Hexenjagd nach »Kommunisten«, nach außen führen die USA einen erbarmungslosen Krieg gegen Korea. Ebenso brutal und von Verachtung geprägt sind die Verhältnisse im Kleinen. In Cotton Point, das stolz seine Gründung vor hundertfünfzig Jahren durch einen Sklavenhändler feiert, gehören Rassenhass und Gewalt gegen Schwächere zum Alltag. Ein Menschenleben zählt hier nicht viel. Weiße misshandeln Schwarze, Männer ihre Frauen, Eltern ihre Kinder. Aber natürlich nicht offen, sondern hübsch verborgen hinter der properen Fassade der Wohlanständigkeit. Man sollte sich halt nicht erwischen lassen, wenn man Schwarze in ihrem eigenen Haus zusammenschießt.

Doch Paris Trout ist anders als die Bürger der weißen Mittel- und Oberschicht. Wie sein Anwalt Harry Seagraves (verheiratet, hat aber eine Affäre mit Trouts Frau) feststellt: »Selbst wenn wir alle auf derselben Straße fahren – Paris Trout hat keine Bremse.« Für den Geschäftsmann haben Konventionen keine Bedeutung. Er exerziert offen, was die ehrbaren Bewohner von Cotton Point nur im Geheimen tun und denken. Trout verkörpert einen unbedingten Individualismus mit ausgeprägter Zweckrationalität. Er sorgt für sich selbst, die Hilfe des Staates hat er nie in Anspruch genommen – darum gibt er dem Staat im Gegenzug ebenfalls nichts: Trout zahlt keine Steuern und negiert die Autorität von Behörden. Er richtet sich nur nach seinem eigenen Gesetz. Trout ist Waffennarr und Einzelgänger – in früheren Zeiten wäre er ein Held gewesen. Er steht für die Werte der wehrhaften US-Nation, und er lebt sie in aller Konsequenz aus. So macht er die Kehrseite der Medaille sichtbar: Negation und Zerstörung der Gemeinschaft.

Schattenseiten der Werte

»Paris Trout hatte etwas an sich, das die Dinge weiter trieb, als sie eigentlich sollten«, stellt sein Rechtsanwalt fest. Der Einzelgänger ist wie ein schwarzes Loch, das alles Licht um sich herum verschlingt, ein tollwütiges Tier, das beißt und infiziert, wer ihm nah kommt. Allein seine Frau wagt es, sich gegen ihn zu stellen. Ihr gelingt es, Abstand zu Trout zu wahren durch die einzige Drohung, die er ernst nimmt: der Ankündigung ihn zu vergiften, wenn er nicht aus dem gemeinsamen Haus auszieht. Gegen Feinde von außen weiß Trout sich zu wehren – Angst macht ihm, was ihn von innen zerstören kann. Als Hanna Trout die Scheidung einreicht, wird der Konflikt auf eine neue Stufe gehoben. Denn sie beauftragt den jungen Rechtsanwalt Carl Bonner. Der Sohn des örtlichen Pastors war in seiner Jugend der jüngste Eagle Scout in der Geschichte des Staates, stellte in der Schule ein Vorbild für seine Mitschüler dar. Bonner lebt nach klaren Prinzipien, er strebt nach unbedingter Gerechtigkeit. Ein etwas naiver junger Mann, der beseelt und leidenschaftlich für das Gute kämpft (jemand, der so grundgut ist, darf keinen Sex haben, darum ist seine Frau frustriert und wendet sich dem Alkohol zu). Bonner ist die Antithese zu Trout. Eine Auseinandersetzung zwischen ihnen kann nur in die Katastrophe führen.

»Paris Trout« (so auch der Originaltitel) von Pete Dexter ist ein gewaltiges, verstörendes Sittengemälde der US-Gesellschaft der frühen fünfziger Jahre. Dunkel, ätzend, beängstigend und bezwingend. Geschrieben aus unterschiedlichen Perspektiven in einer präzisen Lakonie, seziert der Autor jede Figur gnadenlos, ohne zu psychologisieren.

Pete Dexter ist freier Schriftsteller und gilt als einer der bedeutendsten Gesellschaftschronisten sowie profiliertesten Drehbuchautoren der USA. Die Originalausgabe von »Paris Trout« erschien bereits 1988 und wurde mit dem National Book Award ausgezeichnet. 1991 wurde das Buch unter dem Titel »Paris Trout« mit Dennis Hopper, Barbara Hershey und Ed Harris verfilmt. In Deutschland lief der Film als »Tollwütig«. Unter diesem Titel war das Buch auch bereits 1989 auf Deutsch erschienen, es blieb jedoch lange Zeit vergriffen. Dank des wunderbaren Verlags Liebeskind liegt es nun in neuer und hervorragender Übersetzung von Jürgen Bürger ungekürzt vor.

Kirsten Reimers

Pete Dexter: Paris Trout
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
Liebeskind 2008
geb., 416 Seiten, 22 Euro
ISBN: 978-3-935890-54-0

Diese Rezension ist auch erschienen auf satt.org