Archiv für den Monat: März 2015

Tödliche Geheimnisse und dunkle Orte

Irgendwo in den Tiefen von Texas. Hinter einer alten Kirche entdeckt Scheriff Hackberry Holland die Leichen von neun asiatischen Frauen, manche noch halbe Kinder, vermutlich Zwangsprostituierte; in ihren Körpern aufgeplatzte Drogenpäckchen. Sie wurden hingerichtet und notdürftig mit einem Bulldozer verscharrt.

In Pete Flores, einem Afghanistan-Veteran mit tiefen inneren wie äußeren Verletzungen, findet sich ein Zeuge – allerdings einer, der auf der Flucht ist vor einem gnadenlosen, aber extrem selbstbeherrschten, bibelfesten Auftragskiller, »Preacher« genannt. Diese beiden sind nicht die einzigen Personen mit dunklen Seelenabgründen. Auch Sheriff Holland ist alles andere als eine einschichtige Figur: Korea-Veteran, trockener Alkoholiker mit korrupter Vergangenheit, inzwischen um ein anständiges Leben ringend.

Es sind Charaktere wie aus einer anderen Welt, wie der ganze Roman – obwohl ganz eindeutig im Heute angesiedelt: das Verbrechen ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen – mitunter wie aus der Zeit gefallen scheint: »Regengötter« von James Lee Burke ist ebenso Kriminalroman wie Western, wuchtig wie im CinemaScope-Verfahren aufgenommen, mit überwältigenden Naturaufnahmen, dabei das große Ganze ebenso in den Blick nehmend wie die Details, ohne sich in einem von beiden zu verlieren. Hoch verdient ist Burke für diesen Roman mit dem Deutschen Krimi Preis 2015 (Kategorie International) ausgezeichnet worden.

In den Tiefen Londons

Auf dem dritten Platz des Deutschen Krimi Preises landete der neue Krimi von Oliver Harris. Nach dem großen Erfolg von »London Killing« scheucht der Autor seinen nur wenig gesetzestreuen Detective Nick Belsey in »London Underground« erneut durch die englische Metropole – diesmal durch den Untergrund. Während einer Verfolgungsjagd entdeckt Belsey durch Zufall den Zugang zu einem Bunkersystem. Diesen ungewöhnlichen Ort wählt er wenig später als Treffpunkt für ein Date – doch Jemma, die junge Frau, die er dorthin mitnimmt, wird von einem Unbekannten ent- führt, der daraufhin Belsey erpresst. Was der Täter, der sich nach einem früheren Sowjetspion nennt, beabsichtigt, bleibt zunächst unklar.

Belsey geht es vor allem darum, seine Spuren zu verwischen, deshalb unternimmt er alles, um Jemma wiederzufinden – und entdeckt dabei eine Stadt unter der Stadt: ein riesiges Tunnel- und Bunkerlabyrinth, entstanden in den achtziger Jahren aus Angst vor einem Atomkrieg. Immer noch wird dies von den Geheimdiensten vertuscht, denn es ist damals etwas vorgefallen, das lieber nicht bekannt werden sollte. So gerät Belsey zwischen alle Fronten – und keine Seite ist besonders zimperlich.

Wie im Erstling wird Nick Belsey nicht von altruistischen Motiven angetrieben: unverfroren und dreist, aber sehr charmant verfolgt er seine eigenen Pläne, oft jenseits des Gesetzes. »London Underground« ist ein bisschen glatter und weniger rotzig als das Debüt – das wird aber durch Plot, Konstruktion und gelungenen Anleihen an den Spionageroman wieder wettgemacht.

Kluge Spannung

Ganz anders im Ton ist der neue Kriminalroman von Tana French: Vor etwas über einem Jahr wurde auf dem Gelände des exklusiven Mädcheninternats St. Kilda in der Nähe von Dublin die Leiche eines Schülers vom benachbarten Jungeninternat gefunden. Der Mord konnte bislang nicht aufgeklärt werden, man vermutete Fremde als Täter. Doch nun hängt ein Foto des Teenagers an einer Pinnwand der Mädchenschule mit der Bemerkung: »Ich weiß, wer ihn getötet hat.« Das ruft die Detectives Stephen Moran und Antoinette Conway auf den Plan – eine behutsame und intensive Ermittlung beginnt.

Im Aufbau ist »Geheimer Ort« von Tana French ein Whodunit: ein abgelegener Ort, ein übersichtlicher Kreis von Verdächtigen. Aber das ist auch schon alles, was dieser Krimi mit den klischeehaften britischen Landhauskrimis gemeinsam hat. French nähert sich ihren Figuren sehr behutsam und sehr aufmerksam an. Im Wechsel zwischen den Geschehnissen vor dem Mord und der Gegenwart deckt sie nach und nach das Innenleben ihrer Figuren auf, Schicht um Schicht trägt sie ab, bis klar ist, warum dieser Mord unvermeidlich war.

Wie in Frenchs bisherigen Büchern rückt eine frühere Nebenfigur nun in den Mittelpunkt, und ebenso wie bislang geht es um die Frage von Individualität und Integration, Eigensinn und Unterordnung: Ist es besser und ehrlicher, einen eigenen Weg zu suchen, oder bringt die Einordnung in eine Gemeinschaft nicht mehr Sicherheit und Geborgenheit? Freundschaft und Liebe, Familie und Kollegen, Hoffnungen und Erwartungen, oft nur schwer miteinander zu vereinbaren. Ein ganz wunderbarer Kriminalroman von großer Intensität und klugem Feingefühl.

Kirsten Reimers

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James Lee Burke: Regengötter
(Rain Gods, 2009)
Aus dem Englischen von Daniel Müller
Heyne Hardcore 2014
kart., 671 Seiten, 16,99 Euro
ISBN 978-3-453-67681-7
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Oliver Harris: London Underground
(Deep Shelter, 2014)
Aus dem Englischen von Gunnar Kwisinski
Blessing 2014
Hc., 445 Seiten, 19,99
ISBN 978-3-89667-449-4
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Tana French: Geheimer Ort
(The Secret Place, 2014)
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Scherz 2014
kart., 700 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-651-00051-3
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Dieser Beitrag erschien zuerst in der
Frankfurter Neuen Presse


Schwindende Gewissheiten

Vor einem namenlosen Krimischriftsteller steht eines Tages ein unangenehmer und dreister Kerl. Er schnorrt Kaffee und Zigaretten und behauptet, Karlsson zu sein, eine Figur aus einem Manuskript des Autors, das dieser nie fertiggestellt hat. Weil dieser Zustand im Nirgendwo, im »Fegefeuer«, wie er es nennt, unerträglich sei, verlangt Karlsson vom Autor, das Manuskript so zu über- arbeiten, dass es verlegt werden kann. Und dabei soll er doch bitte auch gleich seine Figur um- schreiben, denn so, wie der Autor ihn geschildert hat, ist er nicht mehr, so war er vielleicht nie. Außerdem möchte er jetzt Billy genannt werden.

Der Krimiautor hält den Mann für einen Schauspieler, der irgendwie an das alte Manuskript gelangt ist und nun eine schräge Performance aufführt. Er lässt sich auf das ein, was er für ein Spiel hält – und damit beginnt etwas ganz anderes. Billy/Karlsson hat sich nicht nur als fiktive Figur emanzipiert, er will selbst mit am Text arbeiten und entwirft eigene Kapitel mit nur sehr langsam wachsenden Gespür für Stil und Sprache (was vom Übersetzer Robert Brack ganz wunderbar schlecht übertragen wurde – Kompliment, und nicht nur dafür!).

Auf diese Weise beginnen die Grenzen zwischen den verschiedenen Erzählebenen zu verschwimmen, Gewissheiten brechen weg, der Text wird gesprengt wie das Krankenhaus, in dem Billy/Karlsson als Aushilfskraft arbeitet. (Oder ist das Attentat nur eine Fiktion in der Fiktion? Und was geschieht/geschah mit Rosie, der kleinen Tochter des Autors?) Immer unklarer wird, wer den Text eigentlich gestaltet: der Autor oder die Figur? Überhaupt: welchen Text? Den alten fiktiven oder denjenigen, den man als Leserin, als Leserin der Hand hält?

Cool und subtil

Ein Krimi ist dieses Buch im Grunde nicht, auch wenn Morde geplant und (vielleicht) begangen werden. Declan Burke spielt zwar mit Elementen des Kriminalromans, aber weit mehr geht es um das Schreiben an sich, um den Prozess und um die Frage, wer der Souverän des Textes ist: der Autor oder seine Figuren? Burke knüpft damit an verschiedene literarische Gedankenspiele und Fragestellungen an, zitiert, verwebt und puzzelt Versatzstücke hinein. Das könnte nun zu einer trockener Theorieübung in Philosophie und Literaturwissenschaft werden, doch es bleibt ebenso cool wie spannend, lebendig und unerwartet witzig, unter anderem weil der Autor mit Lesererwartungen und intellektuellem Rumgepose spielt und beides unterläuft.

Mit der Sprengung des Krankenhauses, der symbolischen Zerstörung des irischen Gesundheitssystems – der Roman spielt vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise –, wäre dann der absolute Nullpunkt erreicht: derjenige der Literatur, der Tod des Autors, auch der Punkt, an dem jede Energie einfriert, und ebenfalls der Punkt, an dem kein Schmerz mehr fühlbar ist.

»Absolute Zero Cool« ist der erste Roman, der von Declan Burke auf Deutsch vorliegt – es folgen hoffentlich bald weitere. In Irland gilt er längst als einer der innovativsten Krimiautoren seiner Zeit. Sehr sehenswert ist auch seine Internetseite Crime Always Pays.

Kirsten Reimers

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Declan Burke: Absolute Zero Cool
(Absolute Zero Cool, 2011)
Aus dem Englischen von Robert Brack
Edition Nautilus 2014
kart., 316 Seiten, 18 Euro
ISBN 978-3-89401-793-4

 

Diese Besprechung ist zuerst erschienen auf
FaustKultur