»Eine nächtliche Parade von hundert Dämonen«

Tokio im Januar 1948. In der besetzten Stadt beginnt der Wiederaufbau, doch das Leben ist weiterhin von Gewalt und Korruption gezeichnet. Von den US-amerikanischen Besatzern schikaniert und gedemütigt, in feste Machtstrukturen eingefügt, ist der Alltag für die Bewohner Tokios von Elend, Unterordnung und Tod bestimmt.

Am 26. Januar, einem kalten, trüben Tag, betritt ein Mann die Filiale der Teikoku-Bank im Viertel Shiinamachi. Er gibt sich als Amtsarzt aus und vergiftet unter dem Vorwand einer Schutzimpfung die sechzehn anwesenden Personen. Zwölf von ihnen sterben sofort, die restlichen vier brechen bewusstlos zusammen. Der Mann verlässt die Filiale mit einer verhältnismäßig geringen Geldsumme.

»Es gibt nur Krankheit, es gibt nur Tod«

Wie schon in »Tokio im Jahr Null« greift David Peace auch im zweiten Band seiner preisgekrönten Tokio-Trilogie ein historisches Verbrechen auf. Der Giftmord löste die größte Verbrecherjagd in der Geschichte Japans aus. Angeklagt und verurteilt wurde Hirasawa Sadamichi, ein im Nachkriegsjapan recht bekannter Maler. Doch die tatsächliche Schuld Hirasawas wurde immer wieder angezweifelt. Noch während Peace sein Buch verfasste, wurde am Obersten Gericht in Tokio über den neunzehnten Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens beraten.

Auch David Peace geht davon aus, dass der Angeklagte die Giftmorde nicht verübt hat, sondern als willkommenes Opfer erwählt wurde, um eine intensivere Suche nach der Wahrheit zu verhinder. Anhand von zwölf Personen, die aus unterschiedlichen Blinkwinkeln und mit unterschiedlichem Informationsstand die Ereignisse und die Nachforschungen schildern, zieht Peace Verbindungen zu Japans Programm zur Entwicklung biologischer Waffen und zu Kriegsverbrechen des Staates gegenüber China und an Kriegsgefangenen. Zwischen den einzelnen Berichten reflektiert Peace über die Rolle des Schriftstellers, der ebenso Manipulierter wie Manipulierender ist.

Die Form, die der Autor gewählt hat, ist angelehnt an eine volkstümliche japanische Erzähltradition: Bei Einbruch der Nacht kommen Menschen zusammen, die sich im Schein von Kerzen unheimliche Geschichten erzählen. Nach jeder Erzählung wird eine Kerze gelöscht, bis schließlich tiefe Nachtschwärze herrscht:

»In diesem Augenblick, so glaubt man, tauchen in der Dunkelheit tatsächlich Ghule und Ungeheuer auf, die durch das schauerliche Geschichtenerzählen herbeigerufen wurden.«

»… wie ein blutig Eisen alle Männer«

Doch bei David Peace kommt kein wohliges Gruseln auf. Karg und hart schreibt Peace aus dem Gedankenstrom oder den Aufzeichnungen seiner Figuren heraus in einfacher, kraftvoller Sprache, die durch Wiederholungen und Wendungen stark rhythmisiert ist. Wie schon in »Tokio im Jahr Null«, diesmal aber noch bedrängter, läuft oft eine zweite, grafisch abgesetzte Ebene mit, mitunter sogar eine dritte.

Wie der Mond und die Sterne so rot aufgehen, sagt sie alle Männer haben Geheimnisse, alle Männer sind schuldig WIE DAMALS wie die Glut ihrer Öfen, wie ein blutig Eisen alle Männer, immer ABER VOR ALLEM MÖCHTE ICH, DASS DU MICH LIEBST So rot, so rot immer ICH MÖCHTE, DASS DU MICH LIEBST

Die Härte der Sprache und ihr Pulsieren wirken hypnotisierend und bedrohlich. Das evoziert eine alptraumhafte Atmosphäre: die der zerstörten Stadt mit ihren traumatisierten Bewohnern; Menschen, die sich im Krieg für Kaiser und Vaterland geopfert haben und nun belogen und betrogen werden; Menschen, die von Militär und Regierung manipuliert wurden, Gräueltaten zu begehen; Menschen, die sich dem aber auch nicht widersetzt haben, die sich stattdessen ergeben unterordneten. So sind Verbrechen und Ermittlung, Täter und Opfer keine Kategorien, die greifen könnten.

IN DER BESETZTEN STADT, doch diese Stadt ist ein Sarg. Diese Stadt ist ein Notizbuch. Diese Stadt ist ein Fegefeuer. Diese Stadt ist eine Pest. Diese Stadt ist ein Fluch. Diese Stadt ist eine Geschichte. Diese Stadt ist ein Markt. Diese Stadt ist eine Wildnis. Diese Stadt ist eine Wunde. Diese Stadt ist ein Gefängnis. Diese Stadt ist ein Spiegel. Diese Stadt ist ein Fluss. Und diese Stadt ist eine Frau …
»In Trauer«, flüstert sie. »Es bleibt nichts anderes. Nur Trauer. Nichts anderes bleibt. Nur Trauer …«

Dieser zweite Band der Tokio-Trilogie ist noch dunkler und verstörender als der erste; eine schmerzlich-eindringliche Leseerfahrung, die nachhaltig beeindruckt und gefangen nimmt.

Kirsten Reimers

David Peace: Tokio, besetzte Stadt
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Liebeskind 2010
geb., 350 Seiten, Euro 22,00
ISBN 978-3-935890-74-8

Diese Rezension ist zuerst im
Buchmessen-Special von hr-online erschienen.