Die Abwesenheit von Leidenschaft

Eine kaleidoskopartige Reflektion

Ein namenloser Kriminalermittler erhält kurz vor seiner Pensionierung einen alten Fall aufgedrückt. Auf diese Weise soll er aus dem Weg sein und ohne großes Aufheben in den Ruhestand entschwin- den, vermutet er. Denn eigentlich ist der Fall schon längst geklärt, wegen eines Verfahrensfehlers kam der Verdächtige zwar wieder frei, doch inzwischen ist er schon seit Jahren tot. Der unauffällige und zurückhaltende Polizist – »Ich habe mich nie gedrückt, aber auch nie verausgabt«, sagt er von sich selbst – ermittelt so erstmals ohne die gewohnte Struktur, ohne Zwang und ohne Druck, und verliert darüber nach und nach den Halt. Er über- schreitet Grenzen, beginnt zu ahnen, was Leben bedeutet, und rutscht – nach kurzem Aufblühen – weg.

Dieser Roman ist definitiv kein Krimi. Zwar gibt es den Mord von vor dreißig Jahren, den Ermittler, der ihn wieder aufrollt, und die Andeutung, dass es sich damals tatsächlich vollkommen anders verhielt, als die Kriminalpolizei vermutete. Aber das ist nicht wichtig. Das ist nur der Aufhänger für diese kaleidoskopartige Reflektion über das Verhältnis von Leben und Mord, über Lebendigkeit und die Abwesenheit von Leidenschaft. Die Geschichte ist konsequent nur aus Sicht des ältlichen Polizisten erzählt. Er springt von Thema zu Thema, achtet auf keine Chronologie, spricht mal den Leser, mal seinen Vorgesetzten oder auch jemand völlig Indifferenten an und wechselt das Tempus von Abschnitt zu Abschnitt. Eigentlich soll er einen Bericht für seine Dienststelle schreiben, doch das Ergebnis gleicht weit eher Tagebuchaufzeichnungen ohne zeitliche Verankerung.

Eingehens entschuldigt sich der Erzähler für dieses Vorgehen, sagt, er schriebe einfach alles herunter, wie es ihm einfiele, ohne dies später noch einmal korrigieren – aber das ist natürlich nicht der Fall. Der Roman ist äußert bewusst geformt. Es ist die Geschichte einer Grenzüberschreitung und der Auflösung des Ichs. Am Ende ist nicht mehr klar, wo Wahn und Wirklichkeit zu trennen sind, ob sie je zu trennen waren. Boogs namenloser Polizist versucht, sich in den Mörder einzufühlen – so lautet der Originaltitel auch viel treffender »Ik begrijp de moordenaar«, »Ich verstehe den Mörder« –, der Mörder, der für ihn der einzig vollkommene Mensch ist, und verliert sich darüber selbst.

Boogs Roman ist durchaus faszinierend und merkwürdig, sprachlich gut geformt, aber ihm fehlt der Mut zur letzten Konsequenz. Das macht ihn dann im Rückblick leider ein wenig banal.

Kirsten Reimers

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Mark Boog: Mein letzter Mord
(Ik begrijp de moordenaar, 2009)
Aus dem Niederländischen von Matthias Müller
Dumont 2012
geb., 158 Seiten, 18,99 Euro
ISBN 978-3-8321-9596-0
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Diese Rezension ist zuerst erschienen im CrimeMag