Zwischen Profitgier und Melancholie

Der titelgebende Krake, ein Tattoo auf Curly Watkins rasierter Glatze, ist ein Überbleibsel aus dessen Punkzeiten. Heute – also in den Nullerjahren, in denen Jim Nisbets »Der Krake auf meinem Kopf« spielt – schlägt sich der Musiker damit durch, dass er in hippen Cafés in San Francisco Gitarre spielt: beliebte Songs von damals, als die Stadt noch das Zentrum eines bunten Gemischs aus Gegenkulturen war. Inzwischen haben Profit- gier und Gentrifizierung für allgemeine Strom- linienförmigkeit, Selbstoptimierung und soziale Kälte gesorgt. Musiker, Künstler, Bohemiens, Idealisten, Aktivisten jeder Couleur – all diejenigen, die früher für gesellschaftliche Gegen- entwürfe standen, führen isolierte, prekäre Randexistenzen. Wie Curly zum Beispiel. Die quirlige Aufbruchsstimmung von früher ist längst zum schicken Accessoire und Marketingtrick verkommen. Curly lebt – eher schlecht – davon, dass er dies bedient.

Weil er für Ivy, einen talentierten Drummer und Junkie, die Kaution zusammenkratzen will, lässt er sich von der gemeinsamen Freundin Lavinia – ebenfalls auf Droge – auf einen schnellen, kleinen Job ein (»Achthundert oder neunhundert Dollar für eine Stunde Arbeit. Und es ist vollkommen legal.« »So gut wie«, fügte sie hinzu.), der der Anfang einer ebenso rasanten wie bizarr-witzigen Achterbahnfahrt durch verschiedene Milieus, Bewusstseinszustände, Geistesverfassungen und Verbrechen wird.

Jenseits von Genrekonventionen

Lavinia und Curly – der Drogen ebenfalls nicht abgeneigt ist – stolpern über eine Leiche und geraten schließlich in die Fänge eines Serienmörders. Das ist markant, passiert aber erst recht spät und nimmt nur einen relativ geringen, aber eindrucksvollen Teil des Buches ein. Mit dem neuen Akteur wechselt die Perspektive: Für die nächten 70, 80 Seiten steht der Killer, sein Werdegang, sein Lebensüberdruss und seine eigenwillige Gedankenwelt im Mittelpunkt. Lavinia und Curly sind nur noch Statisten – bis sich das Blatt wieder wendet.

Wundervoll intelligente, witzige Dialoge, engagierte Diskussionen über Marx oder Johann Sebastian Bach, Drogenexzesse, ein genau richtig hochgeschraubter Plot, ein beißend-klarer, sarkasmusgesättigter Blick auf das San Francisco der Dotcom-Millionäre und Digitalbienchen: Jim Nisbet kümmert sich nicht um Genrekonventionen, sondern mixt sehr gekonnt und sprachgewaltig einen grandiosen Noir. Ein Buch wie ein Rausch: schnell, hochkomisch, bunt, schräg, erschreckend brutal, voller Zartheit und Liebe sowie ein wenig melancholisch. Ein Abgesang auf San Francisco und alte Träume, ein unschönes Erwachsenwerden und ein »Dennoch!«.

Kirsten Reimers

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Jim Nisbet: Der Krake auf meinem Kopf
(The Octopus On My Head, 2007)
Aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller
Pulp Master 2014
Tb., 320 Seiten, 14,80 Euro
ISBN 978-3-927734-48-7
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Dieser Beitrag ist zuerst erschienen auf satt.org