Das Herz des Disparaten
Früher war Dave ein Agent im Dienst einer geheimniskrämerischen US-Regierungsorganisation, Teil eines Sonderkommandos, eine Killermaschine, die undercover in sehr speziellen Fällen eingesetzt wurde: Diktatoren entfernen, kooperative Militärjuntas mit Waffen versorgen, Attentate, Regierungsstürze. Sein Leben war eine Funktion für die Agency, mit wechselnden Identitäten. Vor neun Jahren war der letzte Einsatz. Inzwischen hat er sich ein eigenes Leben aufgebaut. Doch ein Telefonanruf ändert alles: Offenbar hinterlässt ein Agent, ebenfalls Teil jenes Sonderkommandos, eine Blutspur, die quer durch die USA führt. Dave soll ihn aufspüren und stoppen. Damit verschiebt sich alles: Das Leben, das er sich geschaffen hat, muss er mit einem Schlag abstreifen, die Bindungen, die er eingegangen ist, muss er kappen. Stattdessen ist die vergangene Existenz mit seinen antrainierten Fertigkeiten wie aus dem Nichts wieder da: das Leben als Tötungsapparat ohne eigene Konturen im Dienste Dritter.
Die Jagd, die nun beginnt, führt durch Städte und Staaten. Doch wer Jäger und wer Gejagter ist, verliert sich mehr und mehr. Aus dem Agententhriller wird ein Roadmovie, melancholisch und harsch, der zunehmend einer Traumlogik folgt. Es wird eine Reise in Daves Vergangenheit, in der er sich mehrfach selbst begegnet – als Killer, als Lebensretter -, in sich, aber auch in anderen. Identitäten verschwimmen, Gegnerschaften, Zusammenhänge – alles verbindet sich und verliert seine Grenzen, um neue zu gewinnen.
»Die Straße gibt uns Erlösung, bestätigt die Diskontinuitäten unseres Lebens aufs Neue«
Ein ungewöhnlicher Thriller: poetisch und rasant, fesselnd und beklemmend. Gleichzeitig auch eine Würdigung Cesare Paveses, eines seiner letzten Gedichte kling im Titel an. Sallis‘ Sprache ist lakonisch, knapp, spröde, beinah brüchig, wie die Identitäten, wie der Zusammenhang von Gegenwart und Vergangenheit, den er formt.
Um zu entdecken, was wir wissen, müssen wir nur entscheiden, was wir nicht sehen werden. Meine Erinnerungen können sehr wohl falsch sein, aber sie würden letztendlich genauso dienlich sein wie alle anderen. Jeden Tag rekonstruieren wir uns aus dem Bergungsgut unserer vorherigen Tage.
Als Agent lebte Dave mit geborgten Identitäten, nachdem er sich zurückgezogen hat, baut er ein Leben als Künstler auf: Er formt Skulpturen aus verschiedenen Materialen. Und so formt er schließlich auch sein Leben, fügt Disparate zusammen. Und das nicht in einer Macho-ich-allein-gegen-die-Welt-Haltung, sondern es finden auch Musik, bildende Kunst, Literatur und andere Menschen einen Platz darin.
James Sallis ist nicht nur Schriftsteller (und Träger des Deutschen Krimipreises 2008 für »Driver«), sondern auch Dichter, Kritiker, Lektor, Musiker und Übersetzer. Das merkt man diesem Buch an: der kunstvollen Sprache, der beklemmenden, irritierenden Atmosphäre, dem Plot, der nach innen führt: ins Herz von Amerika, ins Herz des Agenten. Und dort findet er nicht nur Verrat und Tod, sondern auch Freundschaft und Liebe, nebeneinander.
Sallis‘ Roman ist 1999 schon einmal auf Deutsch erschienen, doch damals ging er unter. Nun hat der kleine, feine Verlag Liebeskind es erneut gewagt – zum Glück. Denn »Deine Augen hat der Tod« zeigt neben dem sehr stringenten »Driver« die Bandbreite von Sallis‘ Schaffen. Und das ist, wie ein Leben, nicht in einer Schublade zu fassen.
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James Sallis: Deine Augen hat der Tod
Ein Roman über Spione
Aus dem Englischen von Bernd W. Holzrichter
Liebeskind 2008, 191 Seiten, 16,90 Euro
ISBN: 978-3-935890-56-4
Diese Rezension ist auch erschienen auf satt.org