Norddeutsche Serienmörder: offenbar unverwüstlicher

Alter schützt vor Serienmord nicht

Ein Stolpern bringt alles ins Rollen. Als Rita Toski, Volontärin bei einer Oldenburger Tageszeitung, am Montagmorgen zur Redaktionssitzung eilt, gibt ihre Sandale nach. Rita stürzt, der Inhalt ihrer Handtasche ergießt sich auf den Bürgersteig, der teure, heiß geliebte Lippenstift entschwindet im Lichtschacht eines alten, grauen, großen Gebäudes. Bei der nachfolgenden Bergungsaktion entdeckt die angehende Journalistin das Wort »Hilfe« – mit Mühe und offenbar über einen langen Zeitraum hinweg in den Stein des Schachtes gegraben. Damit ist Ritas Neugier geweckt. Mit Hartnäckigkeit macht sie sich daran, das Geheimnis zu lüften. Die Spur führt zurück in die Nazizeit, in die Wirren des Zweiten Weltkriegs zu einem gemeinen Verbrechen. Und damit nicht genug – alles deutet daraufhin, dass der unheimliche Täter, der »Graumacher« noch heute sein Unwesen treibt.

Unaufgeregt und sprachlich fein austariert ist das Krimidebüt von Renate Niemann. Und streckenweise sehr gruselig – undurchsichtiges, schwer greifbares Grauen, Geschehnisse, die Zufälle oder absichtsvolle Botschaften sein können. Das sorgt für wohliges Schaudern. Ein Serienmörder in Oldenburg, der seit Ende des Zweiten Weltkrieges sein Unwesen treibt. Moment, seit Mitte der vierziger Jahre? Und der Krimi spielt definitiv nach der Jahrtausendwende? Dann muss der Täter – hm – mindestens sechzig Jahre alt sein. Eher siebzig. Dafür ist er ganz schön agil. Angesichts seiner ungesunden Ernährung und der eigenartigen Lebensweise ziemlich überraschend. Aber das rächt sich ja dann auch in seinem plötzlichen Ende. Plopp.

Muss es denn immer Serienmord sein?

Kurz: Diese Konstruktion ist reichlich unglaubwürdig. Warum muss überhaupt die Verbindung zur Vergangenheit über einen Serienmörder geschaffen werden? Dadurch verpufft das Schaurige, das so schön aufgebaut ist, weil man ständig das Alter des Graumachers mitdenkt – oder noch absurdere Konstruktionen ersinnt, um mit der Zeitschiene zurechtzukommen.

Die Serienmorde sind Aufhänger, um unrühmlichen Taten der Psychiatrie in Deutschland im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts zu benennen – ein Kapitel, das schon vor dem »Dritten Reich« ziemlich dunkel war und durch den Nationalsozialismus nicht gerade Lichtseiten eroberte. Ebenso wird die Lebenssituation der Sinti und Roma in jener Zeit aufgegriffen. Das wird von Renate Niemann durchaus gut zusammengepackt und verklammert, aber leider durch die merkwürdige Serienmörderkonstruktion weitestgehend beiseite gedrängt.

Kirsten Reimers

Renate Niemann: Der Graumacher
Pendragon Verlag, 254 Seiten, 9,90 Euro
ISBN: 978-3-86532-081-0