Weil es sich so ergibt

Ein beklemmender Blick über die innere Grenze

Neun »ordentliche Männer mit ordentlichen Berufen« vergewaltigen auf einem Volksfest eine junge Frau – weil es sich so ergibt. Danach werfen sie sie weg wie einen Sack Müll und urinieren auf sie. Die Frau überlebt schwerverletzt. Weil die Männer kostümiert waren und weil die Ärzte bei der Rettung der Frau die DNA-Spuren beseitigen (müssen), kann die Tat keinem der Familienväter zweifelsfrei zugeordnet werden. Die Vergewaltiger gehen straffrei aus, es kommt nicht einmal zum Prozess. Der Erzähler, ein sehr junger Strafrechtanwalt, ist der Verteidiger eines der Täter; er muss sich eingestehen, dass er mit diesem Mandat seine Unschuld verloren hat.

Der Erzähler, das könnte der Strafverteidiger Ferdinand von Schirach sein. Schirach ist zumindest der Autor der Geschichte, die den Auftakt zu seinem zweiten Buch »Schuld« bildet. »Schuld« ist dunkler und beklemmender, an manchen Ecken aber auch kalkuliert bedrückender und damit banaler als Schirachs aufsehenerregendes Debüt »Verbrechen« vom Sommer 2009, für das der Autor den Kleist-Preis erhielt.

15 »Stories« sind im neuen Buch versammelt. Manche erschreckend und beunruhigend, manche etwas gewollt, manche absurd-witzig. Da ist die Geschichte von zwei Kleinganoven, die einen großen Drogendeal abschließen wollen – doch der Hund verschluckt den Schlüssel zum Schließfach mit dem Geld und löst so eine Kaskade von aberwitzigen Ereignissen aus. Da ist der Mann, der von einem kleinen Mädchen beschuldigt wird, es sexuell missbraucht zu haben, und seine gesamte Existenz verliert – und das nur, weil er mit der Lehrerin des Mädchens verheiratet und die Kleine eifersüchtig war. In einem Koffer werden die Fotos von 18 gewaltsam getöteten Menschen gefunden, doch der Besitzer des Koffers ist nur der Kurier und weiß offenbar von nichts; kaum aus der Untersuchungshaft entlassen, wird er ermordet, der Fall bleibt ungeklärt. Ein Mann glaubt sich von CIA und BND verfolgt und bringt schließlich fast seinen Anwalt in die Psychiatrie.

Schuld, Strafe, Recht und Gerechtigkeit

Wie schon in »Schuld« schreibt Schirach nüchtern, zurückhaltend, lakonisch in sehr einfachen Worten und Sätzen. Diese stehen in ihrer Schlichtheit in einem eklatanten Gegensatz zum hochdramatischen Geschehen. Daraus resultiert eine große Spannung und Eindringlichkeit. Der Blick Schirachs gilt weniger der Gesellschaft als vielmehr dem Einzelnen in ihr. Und dieser Blick ist sehr konzentriert: Schirach schildert, wie seine Figuren schuldig werden, welche Umstände und Zufälle dabei zusammenkommen – alles Darüberhinausführende wird weggelassen, eine Psychologisierung vermieden. Mit verhaltener Empathie zeichnet der Autor seine Akteure, nie überschwänglich, nie verletzend, immer respektvoll.

Beklemmend offensichtlich wird dabei, wie dünn die Schicht der Zivilisation ist, wie einfach es ist, die Regeln zu verletzen, die Grenze zu überschreiten und zum Verbrecher zu werden. Schirachs Figuren werden schuldig durch ihre Taten, aber auch durch Untätigkeit, durch Verleumdung, seltener durch Kalkül, meist durch Zufall. Wesentlicher Bestandteil der Stories ist das Strafmaß, dass die Menschen für ihr Verbrechen erhalten. Damit verbunden ist eine – nicht zwingend explizite – Reflexion über den Zusammenhang von Schuld, Strafe und Recht, was – aber das ist nicht neu – nichts mit Gerechtigkeit zu tun haben muss.

Schirachs Figuren sind in der Mehrheit ganz durchschnittliche, bis zu ihrem Verbrechen unauffällige Menschen. Das hätte auch ganz anders sein können, den Ferdinand von Schirach lehnt seine Stories an seine tatsächlichen Fälle an, und im tatsächlichen Leben ist er (übrigens der Enkel des überführten NS-Kriegsverbrechers Baldur von Schirach) durchaus so etwas wie ein »Promianwalt«. Zu seinen Mandanten gehörten zum Beispiel der ehemalige SED-Funktionär Günther Schabowski, den Schirach im Mauerschützen-Prozess vertrat, oder der BND-Spion Norbert Juretzko, aber auch Unterweltbosse, Industrielle – aber halt auch unbekannte Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten.

Wesentlich: die Vermutung von Authentizität

Natürlich erzählt der Anwalt seine Fälle nicht einfach nach, damit würde er sich strafbar machen, vom Vertrauensverlust mal ganz zu schweigen. Schirach literarisiert seine Mandate: Seine Geschichten seien anhand der Wirklichkeit frei erfunden, erklärte Schirach im Gespräch mit Benjamin von Stuckrad-Barre, der den Autor einen Tag lang begleitete. Er setze die Figuren aus mehreren Fällen zusammen und verfremde die Ereignisse durch die Übertragung in andere Milieus, Orte und Zeiten bis zur Unkenntlichkeit, sodass nur die Essenz bliebe. Erzähler ist jeweils ein Strafrechtsanwalt, zumeist ein einfaches »Ich«, vielleicht immer derselbe Anwalt, der nur in der letzten Geschichte von einem Dritten mit Namen genannt wird: Ferdinand von Schirach.

Schirachs Stories beziehen ihre Faszination aus dieser vermutbaren Authentizität. Ohne diese Hintertür der eventuellen »Echtheit« bliebe von der Eindringlichkeit seiner Geschichten wahrscheinlich wenig, zu unbeholfen mitunter die Sprache, zu simpel meist die Konstruktion, zu klischeehaft manche Figur, zu dick aufgetragen und zu deutlich ausgeprägt in einigen Stories das Betroffenheitskalkül. Die abwegigsten Szenen seien allerdings tatsächlich so geschehen, beteuert Schirach in einem Gespräch mit der »Zeit«, derlei könne man nicht erfinden – und irgendwie stimmt dies beim Lesen versöhnlich.

Kirsten Reimers

Ferdinand von Schirach: Schuld
Stories
Piper Verlag 2010
geb., 200 Seiten, 17,95 Euro
ISBN: 978-3-492-05422-5
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Diese Besprechung ist auch erschienen auf satt.org