Leben ohne Grenzübergang

Kein Entkommen aus dem Zonenrandgebiet

Vor dreißig Jahren verließ Peter Blum fluchtartig seine Heimatstadt im Zonenrandgebiet. Seine damalige Freundin Astrid war von einem Tag auf den anderen verschwunden. Einfach weg, ohne ein Wort. Wochenlang suchte Peter gemeinsam mit ihrem Vater, doch vergebens. Astrids Vater beging schließlich Selbstmord, Peter suchte einen Neuanfang in den USA. Dort änderte er seinen Namen in Bloom. Nun liegt sein Vater im Sterben, und er kehrt zurück. Dreißig Jahre lang hat Astrid ihn nicht losgelassen. Bloom hat zwar Karriere als Fotograf gemacht, aber die Ehe, die er in der Zwischenzeit eingegangen ist, ist gescheitert, zu seinem Sohn findet er keinen Zugang. Freunde oder enge Vertraute hat er in der neuen Heimat nicht.

Auch in der alten Heimat wird er nicht mit offenen Armen empfangen. Die Mutter ist zwar glücklich, ihn wiederzusehen, doch auch etwas hilflos angesichts des fremden Sohns. Seine Schwester ist verbittert, weil er damals die Familie im Stich ließ – wie Astrid ging er ohne ein Wort, erst Monate später sendete er ein Lebenszeichen.

Peter Bloom war mit 19 von Astrid besessen, und er ist es mit Ende vierzig immer noch. In seiner Erinnerung ist sie zur großen Liebe geworden, zu der einen, an die keine zweite je heranreichen wird. Dabei waren es gerade einmal vier Monate, die diese Beziehung währte.

Sie lehnte in der Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern. Ich konnte sie nur erahnen. Zu wenig Licht. Ob sie lächelte, als ich sie fotografierte, oder ob ihre Augen geschlossen waren, hatte ich nicht erkennen können. Sie stand nur da. Eine Schulter gegen einen Türpfosten gelehnt und sagte »Hi!«, wie es neuerdings manche taten. Es sollte amerikanisch klingen.

Mit seiner Rückkehr nach Deutschland erhält Blooms Obsession neue Nahrung. Vor kurzem wurde in der Nähe des ehemaligen Todesstreifens das Skelett eines Mädchens gefunden, das im Sommer 1975 ums Leben kam, demselben Sommer, in dem auch Astrid verschwand. Bloom vermutet, hofft und fürchtet, dass es sich hierbei um seine Exfreundin handelt. Doch die Polizei hat längst festgestellt, dass das tote Mädchen eine junge Norwegerin ist. Auch Peter hat sie damals kurz gesehen, nach einem Auftritt der örtlichen Rockband »Crest«. Von der Vergangenheit wieder in festen Griff genommen, macht sich Bloom erneut auf die Suche nach Astrid. Darüber vergisst er den totkranken Vater, stößt die Mutter und die Schwester vor den Kopf und macht sich auch unter seinen alten Bekannten keine Freunde, im Gegenteil.

Selektive Wahrnehmung

Die Erzählung springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ich-Erzähler ist Peter Bloom, doch auch aus Sicht anderer wird – in der dritten Person – das Geschehen damals wie heute geschildert. Auf diese Weise klärt sich nach und nach, was vor dreißig Jahren vorgefallen ist. Schmerzhaft muss Bloom erfahren, dass seine Astrid nicht die war, für die er sie gehalten hat. Die wundervolle Jugendliebe mit Fahrten zum Badeteich, Spaziergängen entlang des Todesstreifens und unerfahrenem Sex im Jugendzimmer war nicht so harmonisch und rein, wie er sie wahrgenommen hat. 372 Fotos hat Peter damals von Astrid gemacht, und als er sie heute betrachtet, muss er sich eingestehen, dass er sich hat täuschen lassen. Denn sehen wollte er nur den Bildausschnitt, der ihm gefiel. Alles außerhalb seines Kameraobjektivs blieb außerhalb seiner Wahrnehmung.

Ich ging noch einmal alle anderen Bilder aus dieser Zeit durch, aber das Mädchen aus Norwegen war auf keinem weiteren Foto zu sehen.
Astrid dafür umso häufiger. Vor der Bühne, wie sie begeistert in die Hände klatschte. Einmal jubelte sie sogar mit ausgestreckten Armen, die Augen geschlossen. Auf einem anderen Foto trug Astrid den mit Aufklebern übersäten Gitarrenkoffer von Gerrit. Sie lachte in die Kamera, stand gebückt da, mit angewinkelten Knien, als bräche sie jeden Moment unter der Last des Koffers zusammen. Ich dachte, dass ich all diese Fotos gemacht hatte, ohne zu verstehen, was sie mir eigentlich sagten.

Auch heute ist Bloom in seiner Wahrnehmung eingeschränkt, im Gestern gefangen, emotional verkümmert. Verstockt wirkt er, immer noch ein bockiger Teenager mit seinen fast fünfzig Jahren. Nicht wirklich sympathisch. Aber sympathische Figuren sucht man in diesem Buch sowieso vergebens. Es ist bevölkert von Menschen, deren Lebenstraum gescheitert ist, die einem verlorenem Ideal anhängen und nicht die Gegenwart wahrhaben wollen. Deshalb sind sie verbittert, unzufrieden, aggressiv, hinterhältig. Die Bandmitglieder von damals, in den siebziger Jahren Rebellen, die gegen den Kleinstadtmief aufmuckten, machen heute noch Musik, allein, in ihrem Probenraum. Sie haben es nie über die Stadtgrenzen hinaus geschafft und sind in ihrer jugendlichen Rebellion steckengeblieben. Sie fristen ein trostloses Dasein als Fossilien.

Verharren im Nirgendwo

So gut wie nichts hat sich verändert in den letzten Jahren – die Grenze ist weg, und doch verharren alle in einem trostlosen Nirgendwo. Kein Schritt heraus aus dem eng umzirkelten Leben. Auch Bloom hat außer seiner Namensänderung keine Entwicklung erfahren.

Das Debüt von Jochen Rausch – übrigens Programmchef beim Jugendsender 1Live – ist kein Krimi, auch wenn es meist in der Kritik so gehandelt wird. Zu viele Fragen bleiben dafür ungeklärt. Es ist stattdessen die Geschichte einer Erstarrung, innen wie außen. Der Roman zeigt, dass Flucht keine Veränderung mit sich bringt, dass Verdrängung Stillstand bedeutet. Wie gebannt sind die Figuren von einem Moment in der Vergangenheit, von dem sie sich nicht lösen können, von dem sie sich Erlösung erhoffen, wenn sie nur lange genug an ihm festhalten können. Ein Trugschluss.

Kirsten Reimers

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Jochen Rausch: Restlicht
Kiepenheuer & Witsch 2008
Paperback, 288 Seiten, 8,95 Euro
ISBN: 978-3-462-04029-6
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