Abgelegen, vergessen, tödlich

Eine gnadenlose Welt

Ree ist 16, schmal, groß und sehr zäh – das muss sie auch sein, denn sie sorgt allein für ihre beiden jüngeren Brüder und ihre psychisch kranke Mutter. Ihr Vater Jessup, einer der besten Meth-Köche in den Ozarks, ist vor mehreren Monaten untergetaucht, ohne ihr Geld dazulassen oder Feuerholz für den Winter vorzubereiten. Normalerweise kommt er nach einer Weile wieder, doch diesmal ist es dringlicher als sonst: Jessup hat die heruntergekommene Farm für seine Kaution verpfändet. Wenn er nicht in einer Woche vor Gericht erscheint, verliert die Familie alles. Ree macht sich auf die Suche nach ihm.

Es ist eine harte Welt, in der Ree lebt, besonders im Winter: rau und schroff die Landschaft, ebenso unzugänglich die Menschen, die hier wohnen. Sie alle gehören zu einem der weitläufigen Clans, die vor langer Zeit das Hochland in der Mitte der USA besiedelten. Eine Frau gilt hier wenig, die verschworene Gemeinschaft wird dominiert von Männern, die Angst verbreiten. Armut, Schweigen und Lügen, Gewalt und Drogen bestimmen das Leben.

Woodrell schreibt kraftvoll und karg. Es ist ein beeindruckendes Buch, von großer Wucht, aber auch von schroffer Schönheit und schnörkelloser Poesie. 2010 wurde sein Roman von Debra Granik verfilmt. Ausgezeichnet beim Sundance Film Festival als bester Film, nominiert für vier Oscars, kommt Winter’s Bone jetzt auch bei uns ins Kino – doch so gut der Film auch sein mag: Das Buch zu lesen lohnt sich auf jeden Fall.

Unausweichliche Katastrophe

Lesenswert ist ebenfalls der neue Roman von Rose Tremain. Auch er spielt in einer abgelegenen Gegend – doch sie ist nicht vergessen, sondern im Gegenteil sehr begehrt: die Cevennen. Hier sucht der Antiquitätenhändler Anthony Verey nach einem passenden Anwesen als Alterssitz. Früher war Anthony Verey der Star der Londoner Kunsthändlerszene, der Händler für Kostbarkeiten. Bewundert, beneidet, umgarnt. Doch heute ist sein Licht längst erloschen, die Geschäfte gehen schlecht, niemand interessiert sich mehr für sein fachkundiges Urteil. Um noch einmal in seinem Leben neidische Blicke auf sich zu ziehen, beschließt Verey, ein Haus in den Cevennen zu kaufen. Er entscheidet sich ausgerechnet für das Anwesen, auf dem die Geschwister Aramon und Audrey Lunel wohnen. Damit gerät das zerbrechliche Gleichgewicht aus Hass, Verachtung, Abhängigkeit und verzweifelter Liebe, das Schwester und Bruder seit mehr als sechzig Jahren aneinander kettet, fatal ins Wanken.

Rose Tremains Thriller biedert sich nicht an, er ist nicht auf Spannung geschrieben – und doch ist er faszinierend und fesselnd. Dies liegt in erster Linie an den vielschichtigen Figuren. Aus wechselnden Perspektiven schildern sie sich gegenseitig und entlarven dabei vor allem sich selbst. Keine von ihnen ist wirklich sympathisch, keine aber auch richtig böse. Und doch kann ihr Aufeinandertreffen nur in die Katastrophe führen, denn die Verletzungen, die in ihnen allen seit der Kindheit schwären, sind tief und schmerzhaft.

Schaurige Provinz

Abgeschieden liegt auch das Haus, in das die Familie Fletcher zieht: am Rand eines Moores, direkt neben einem alten Friedhof in einem kleinen englischen Dorf. Die anfängliche Begeisterung über die gruselige Nachbarschaft lässt beim zehnjährigen Tom Fletcher schnell nach: Körperlose Stimmen verfolgen ihn, und eine unheimliche Gestalt scheint die Familie ständig zu beobachten. Doch niemand glaubt ihm. Die alten, absonderlichen Rituale des Dorfes beunruhigen den Jungen zusätzlich. Und dann bricht auch noch ein Grab ein, in dem die Leichen von zwei ermordeten Kindern gefunden werden und Toms kleiner Schwester Millie gerät in Gefahr.

Sharon Bolton versteht ihr Handwerk. Sie setzt nicht auf grobe Effekte, sondern subtile Verunsicherung, gewürzt mit geschickt eingeflochtenen Wendungen und Überraschungen. Lange Zeit bleibt unklar, ob das Geschehen nicht womöglich übernatürliche Ursachen hat. Das macht ihren Thriller spannend und gruselig. Die Figuren sind lebendig und überzeugend, die Story ist in sich stimmig und gut verwoben. So folgt man der Autorin gern in die schaurigen und doch sehr diesseitigen Abgründe eines kleinen abgelegenen Dorfes in der englischen Provinz.

Kirsten Reimers

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Daniel Woodrell: Winters Knochen
Aus dem Englischen von Peter Torberg
München: Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2011
geb., 223 Seiten, 18,90 Euro
ISBN: 978-3-935890-76-2

Rose Tremain: Der unausweichliche Tag
Aus dem Englischen von Christel Dormagen
Berlin: Suhrkamp 2011
Tb., 334 Seiten, 13,95 Euro
ISBN: 978-3-518-46220-1

Sharon Bolton: Bluternte
Aus dem Englischen von Marie-Luise Bezzenberger
München: Manhattan 2011
englische Broschur, 510 Seiten, 16,99 Euro
ISBN 978-3-442-54676-3
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Diese Besprechung ist erstmals erschienen in der
Frankfurter Neuen Presse.