Zerbrechende Seelen

Ängste: vernichtender als offene Gewalt

An seinem ersten Arbeitstag an der Universität von Bath springt der Psychologe Joe O’Loughlin für einen Kollegen ein: Auf Bitten der Polizei versucht er, eine Selbstmörderin davon abzuhalten, in den Tod zu springen. Die Frau steht auf der Brüstung einer viel befahrenen Brücke, nur bekleidet mit roten Pumps, auf ihrem Bauch steht mit Lippenstift das Wort »Hure« geschrieben. Fortwährend telefoniert sie mit ihrem Handy. Als O’Loughlin sich ihr nähert, wendet sie sich ihm kurz zu, sagt: »Sie verstehen nicht« und springt. Ganz offenkundig Selbstmord. Doch als kurze Zeit später die Geschäftspartnerin und Freundin der Toten im Wald gefunden wird – erfroren, an einen Baum gekettet, zu ihren Füßen wiederum ein Handy -, zeichnet sich ab, dass mehr hinter diesen Todesfällen steckt.

Gewagt und gelungen

Michael Robotham kommt ohne viel Blutvergießen oder Gemetzel aus. Sein Täter berührt die Opfer nicht, allein durch Worte vernichtet er sie, nimmt ihnen alle Würde und treibt sie in den Tod.

Es gibt einen Moment, in dem alle Hoffnung vergeht, aller Stolz schwindet, alle Erwartungen, aller Glaube, alles Sehnen. Dieser Moment gehört mir. Dann höre ich den Klang einer zerbrechenden Seele.
Es ist kein lautes Knacken wie von splitternde Knochen, wenn ein Rückgrat bricht oder ein Schädel birst. Auch nicht weich und feucht wie ein gebrochenes Herz. Es ist der Klang, bei dem man sich fragt, wie viel Schmerz ein Mensch ertragen kann; ein Laut der das Gedächtnis zerschmettert und die Vergangenheit in die Gegenwart sickern lässt; ein Ton, so hoch, dass nur die Hunde der Hölle ihn hören können.

Von mehreren Passagen aus Sicht des Täters abgesehen, wird das Geschehen vom klinischen Psychologen Joe O’Loughlin in der ersten Person singular und im Präsenz geschildert. So gewagt dies ist, so gelungen ist es auch. Denn Michael Robotham stimmt Sprache, Stil und Tempo des Romans perfekt auf seine Hauptfigur ab. Obwohl viel passiert, bleibt der Duktus vorsichtig, zurückhaltend, misstrauisch und sehr reflektiert. Oft durchsetzt mit einem feinen, tiefschwarzen, bitteren Humor. Und obwohl man als Leser O’Loughlin so nah kommt, entsteht doch nie das Gefühl von Nähe. Bei aller Offenheit bleibt die Hauptfigur distanziert und eigenständig.

Tiefenspannung

»Dein Wille geschehe« ist bereits der vierte Thriller Robothams um die Figur des Joe O’Loughlin. Anders als verschiedene Profiler, die heute die Krimiwelt bevölkern, muss der klinische Psychologe seine Fähigkeit, andere Menschen zu verstehen, weder glorifizieren noch mystisch überhöhen. Er ist kompetent und erfahren, bleibt insgesamt aber eher unauffällig, und das mit Absicht: Denn O’Loughlin leidet an Parkinson. Seine linke Hand, sein linker Arm beginnen mitunter unkontrolliert zu zittern, die Mimik wird starr. Hält er eine Vorlesung, hofft er, dass sein linkes Bein nicht plötzlich blockiert und er vom Podium stürzt. Aufmerksamkeit möchte er vermeiden. Kein Held, sondern ein Mensch mit sehr nachvollziehbaren Ängsten, Unsicherheiten und Problemen.

Robothams Thriller lebt von der Glaubwürdigkeit seiner Figuren. Mit viel Gespür für innere Zusammenhänge und Widersprüche sind sie facettenreich und lebendig gezeichnet. Darum kann der Australier auf plumpe Spannungsmache verzichten. Er packt den Leser auf den ersten Seiten sehr perfide an tiefen Ängsten und lässt ihn bis zum Ende nicht wieder los.

Kirsten Reimers

Michael Robotham: Dein Wille geschehe
Aus dem Englischen von Kristian Lutze
Goldmann Verlag 2009
geb., 576 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-442-31178-1
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Schiffbruch mit Nolde

Ein Regionalkrimi aus dem Baukasten

Vor achtzehn Jahren hat der damalige Kunststudent Harry Oldenburg – schon zu jener Zeit nicht schlecht im Fälschen alter und neuer Meister – vier Bilder aus dem Nolde-Museum in Seebüll gestohlen. Eines davon musste er auf seiner Flucht über Amrum dort zurücklassen: die „Ferien- gäste“. Nun kehrt er zurück – inzwischen erfolgreicher Kunsthändler von echten wie gefälschten Gemälden -, um das Bild zu holen. In einem Wechsel zwischen gestern und heute wird erzählt, was damals geschah und wie sich in der Gegenwart die Suche gestaltet.

Der Diebstahl vor achtzehn Jahren verlief nicht so glatt wie geplant. Erst wurde Harry von der Putzfrau überrascht. Sie konnte er noch unblutig überwinden. Der Kunststudent flüchtete daraufhin nach Amrum, um dort zunächst unterzutauchen. Doch auf der Nordseeinsel kamen mehrere Menschen hinter sein Geheimnis, die daraufhin einer nach dem anderen beseitigt werden mussten. Dabei war es gar nicht unbedingt Harry, der die unerwünschten Mitwisser tötete. Zufälle und Unfälle kamen ihm zu Hilfe. Auch in der Gegenwart gestaltet sich die Suche nach dem versteckten Bild als nicht ganz so einfach wie erhofft.

Die Geschichte hängt aufgrund ihrer Konstruktion vollständig von der Hauptfigur ab – und scheitert auch an ihr. Denn Harry Oldenburg ist nicht der etwas tollpatschige, naive Dieb, der eigentlich ganz in Ordnung ist, als den ihn der Autor schildern will. Allzu selbstgerecht reagiert er auf den Tod der unliebsamen Mitwisser, allzu selbstgefällig nimmt er Mord und Totschlag zu seinen Gunsten in Kauf. Was schwarzhumorig wirken soll, entlarvt sich unfreiwillig als kaltschnäuzig.

Der für ein Debüt erstaunlich munter und routiniert erzählte Krimi wirkt zudem wie vom Fremdenverkehrsamt der Insel Amrum gesponsert. Brav werden alle Sehenswürdigkeiten abgeklappert und beschrieben. Es fehlen nur noch die jeweiligen Öffnungszeiten und Eintrittspreise. Ein Regionalkrimi wie aus dem Romanbaukasten inklusive kauzigem Personal, geradezu idealtypisch. Nichts gegen Amrum – ganz im Gegenteil -, es zeigt sich nur wieder: Die Liebe zu einer Insel ist überhaupt kein Argument, zu einem Buch zu greifen, dessen Handlung dort angesiedelt ist.

Kirsten Reimers

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Krischan Koch: Flucht übers Watt
dtv 2009
Tb, 299 Seiten, 9,95 Euro
ISBN: 978-3-423-21140-6
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Leben ohne Grenzübergang

Kein Entkommen aus dem Zonenrandgebiet

Vor dreißig Jahren verließ Peter Blum fluchtartig seine Heimatstadt im Zonenrandgebiet. Seine damalige Freundin Astrid war von einem Tag auf den anderen verschwunden. Einfach weg, ohne ein Wort. Wochenlang suchte Peter gemeinsam mit ihrem Vater, doch vergebens. Astrids Vater beging schließlich Selbstmord, Peter suchte einen Neuanfang in den USA. Dort änderte er seinen Namen in Bloom. Nun liegt sein Vater im Sterben, und er kehrt zurück. Dreißig Jahre lang hat Astrid ihn nicht losgelassen. Bloom hat zwar Karriere als Fotograf gemacht, aber die Ehe, die er in der Zwischenzeit eingegangen ist, ist gescheitert, zu seinem Sohn findet er keinen Zugang. Freunde oder enge Vertraute hat er in der neuen Heimat nicht.

Auch in der alten Heimat wird er nicht mit offenen Armen empfangen. Die Mutter ist zwar glücklich, ihn wiederzusehen, doch auch etwas hilflos angesichts des fremden Sohns. Seine Schwester ist verbittert, weil er damals die Familie im Stich ließ – wie Astrid ging er ohne ein Wort, erst Monate später sendete er ein Lebenszeichen.

Peter Bloom war mit 19 von Astrid besessen, und er ist es mit Ende vierzig immer noch. In seiner Erinnerung ist sie zur großen Liebe geworden, zu der einen, an die keine zweite je heranreichen wird. Dabei waren es gerade einmal vier Monate, die diese Beziehung währte.

Sie lehnte in der Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern. Ich konnte sie nur erahnen. Zu wenig Licht. Ob sie lächelte, als ich sie fotografierte, oder ob ihre Augen geschlossen waren, hatte ich nicht erkennen können. Sie stand nur da. Eine Schulter gegen einen Türpfosten gelehnt und sagte »Hi!«, wie es neuerdings manche taten. Es sollte amerikanisch klingen.

Mit seiner Rückkehr nach Deutschland erhält Blooms Obsession neue Nahrung. Vor kurzem wurde in der Nähe des ehemaligen Todesstreifens das Skelett eines Mädchens gefunden, das im Sommer 1975 ums Leben kam, demselben Sommer, in dem auch Astrid verschwand. Bloom vermutet, hofft und fürchtet, dass es sich hierbei um seine Exfreundin handelt. Doch die Polizei hat längst festgestellt, dass das tote Mädchen eine junge Norwegerin ist. Auch Peter hat sie damals kurz gesehen, nach einem Auftritt der örtlichen Rockband »Crest«. Von der Vergangenheit wieder in festen Griff genommen, macht sich Bloom erneut auf die Suche nach Astrid. Darüber vergisst er den totkranken Vater, stößt die Mutter und die Schwester vor den Kopf und macht sich auch unter seinen alten Bekannten keine Freunde, im Gegenteil.

Selektive Wahrnehmung

Die Erzählung springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ich-Erzähler ist Peter Bloom, doch auch aus Sicht anderer wird – in der dritten Person – das Geschehen damals wie heute geschildert. Auf diese Weise klärt sich nach und nach, was vor dreißig Jahren vorgefallen ist. Schmerzhaft muss Bloom erfahren, dass seine Astrid nicht die war, für die er sie gehalten hat. Die wundervolle Jugendliebe mit Fahrten zum Badeteich, Spaziergängen entlang des Todesstreifens und unerfahrenem Sex im Jugendzimmer war nicht so harmonisch und rein, wie er sie wahrgenommen hat. 372 Fotos hat Peter damals von Astrid gemacht, und als er sie heute betrachtet, muss er sich eingestehen, dass er sich hat täuschen lassen. Denn sehen wollte er nur den Bildausschnitt, der ihm gefiel. Alles außerhalb seines Kameraobjektivs blieb außerhalb seiner Wahrnehmung.

Ich ging noch einmal alle anderen Bilder aus dieser Zeit durch, aber das Mädchen aus Norwegen war auf keinem weiteren Foto zu sehen.
Astrid dafür umso häufiger. Vor der Bühne, wie sie begeistert in die Hände klatschte. Einmal jubelte sie sogar mit ausgestreckten Armen, die Augen geschlossen. Auf einem anderen Foto trug Astrid den mit Aufklebern übersäten Gitarrenkoffer von Gerrit. Sie lachte in die Kamera, stand gebückt da, mit angewinkelten Knien, als bräche sie jeden Moment unter der Last des Koffers zusammen. Ich dachte, dass ich all diese Fotos gemacht hatte, ohne zu verstehen, was sie mir eigentlich sagten.

Auch heute ist Bloom in seiner Wahrnehmung eingeschränkt, im Gestern gefangen, emotional verkümmert. Verstockt wirkt er, immer noch ein bockiger Teenager mit seinen fast fünfzig Jahren. Nicht wirklich sympathisch. Aber sympathische Figuren sucht man in diesem Buch sowieso vergebens. Es ist bevölkert von Menschen, deren Lebenstraum gescheitert ist, die einem verlorenem Ideal anhängen und nicht die Gegenwart wahrhaben wollen. Deshalb sind sie verbittert, unzufrieden, aggressiv, hinterhältig. Die Bandmitglieder von damals, in den siebziger Jahren Rebellen, die gegen den Kleinstadtmief aufmuckten, machen heute noch Musik, allein, in ihrem Probenraum. Sie haben es nie über die Stadtgrenzen hinaus geschafft und sind in ihrer jugendlichen Rebellion steckengeblieben. Sie fristen ein trostloses Dasein als Fossilien.

Verharren im Nirgendwo

So gut wie nichts hat sich verändert in den letzten Jahren – die Grenze ist weg, und doch verharren alle in einem trostlosen Nirgendwo. Kein Schritt heraus aus dem eng umzirkelten Leben. Auch Bloom hat außer seiner Namensänderung keine Entwicklung erfahren.

Das Debüt von Jochen Rausch – übrigens Programmchef beim Jugendsender 1Live – ist kein Krimi, auch wenn es meist in der Kritik so gehandelt wird. Zu viele Fragen bleiben dafür ungeklärt. Es ist stattdessen die Geschichte einer Erstarrung, innen wie außen. Der Roman zeigt, dass Flucht keine Veränderung mit sich bringt, dass Verdrängung Stillstand bedeutet. Wie gebannt sind die Figuren von einem Moment in der Vergangenheit, von dem sie sich nicht lösen können, von dem sie sich Erlösung erhoffen, wenn sie nur lange genug an ihm festhalten können. Ein Trugschluss.

Kirsten Reimers

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Jochen Rausch: Restlicht
Kiepenheuer & Witsch 2008
Paperback, 288 Seiten, 8,95 Euro
ISBN: 978-3-462-04029-6
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Pfälzer Liebeskunst

Gleich drei explosive Schriftstücke verwirren Kommissarin Bettina Boll

In einer Fernseh-Talkshow sieht die Ludwigshafener Kriminalkommissarin Bettina Boll ihn zum ersten Mal: den Buchwissenschaftler Dr. Gregor Krampe. Er ist elegant, gepflegt, melancholisch, intelligent und kettenrauchend, und er gefällt Bettina Boll ganz ungemein. Gregor ist nicht nur der Sohn des bekannten Spionageromanautors Georg Krampe, sondern auch der wissenschaftliche Leiter einer hochmodernen Bibliothek, die für ein einziges Buch erbaut zu sein scheint: für eine Handschrift von Ovids »Ars amatoria«, der »Liebeskunst«. Es ist die wohl älteste erhaltene Handschrift des Textes, mit expliziten und exquisiten Zeichnungen versehen und versteckt in einem Psalter. Die wissenschaftliche Sensation daran: Das Büchlein könnte Hinweise geben auf die verschollene Medea-Tragödie von Ovid.

Allerdings ist die Herkunft des Bändchens eher ominös, es wurde der Bibliothek anonym zugesandt. Inzwischen gibt es zahllose diplomatische Anfragen wegen der Handschrift, denn womöglich wurde sie aus einer anderen Sammlung gestohlen. Schon vor geraumer Zeit hat das BKA darum die Sonderkommission »Ovid« gegründet, der auch Bettina Boll angehört, da die Beamten in Ludwigshafen die Organisation der Ermittlungen vor Ort übernehmen sollen. Und der Hauptverdächtige ist ausgerechnet jener attraktive Gregor Krampe.

Ein Leitfaden zur Mädchenherzgewinnung

Bislang hatte die SOKO Ovid wenig zu tun, doch nun gewinnen die Ereignisse an Dramatik: Krampes Mutter wird durch eine Briefbombe schwer verletzt, eine Hellseherin bringt einen Roman heraus, den ihr angeblich der vor zwei Jahren verstorbenen Georg Krampe aus dem Jenseits diktiert hat, und die Ovid-Handschrift ist in Gefahr, gestohlen zu werden – bevor das Buch auf Jahre in der Faksimilisierung verschwindet, soll es im Rahmen einer kleinen Feier ausgestellt werden, die beste und die letzte Gelegenheit für einen Diebstahl.

»Ein Buch ist ein Gedankengebäude«, sagte Marny in heiligem Ernst.
»Das Sie mit vier realen Schlössern sichern«, erwiderte Bettina.
Darauf grinste Marny, ihre kleine Nase kräuselte sich lustig, und Bettina fragte sich plötzlich, wofür diese Frau bezahlt wurde. Sie sah selbst aus, wie ein Liebhaberobjekt, charmant, gebildet, aber nicht den ganzen Raum füllend, ein Mensch mit Platz für andere, für Rätsel. »Sie haben recht«, sagte sie, »aber dieses Buch ist wirklich was Besonderes. Und jetzt, wo bald jeder seine Schönheit sehen kann und soll, da muss es geschützt werden. Inzwischen würde es vermutlich einen angemessenen Preis erzielen. Es hat das Zeug zum Star.« Wieder zog sie die Nase kraus. »Es ist sexy.«

Dank ihrer Zugehörigkeit zur SOKO ist Bettina Boll beinah im offiziellen Auftrag auf der privaten Feier anwesend und kommt dem Hauptverdächtigen sehr nah. Zu nah. Denn in dieser Nacht wird der Ovid tatsächlich geraubt, und Bettina Boll liefert Gregor Krampe das beste Alibi, das der sich wünschen kann.

Leichtfüßig und bissig, spannend und elegant

Kommissarin Bettina Boll gehört zu den wunderbar unprätentiösen und unverwechselbaren Ermittlergestalten der deutschen Krimilandschaft. Immer ein bisschen desorganisiert, immer etwas in Zeitnot, immer ein wenig chaotisch, nimmt sich die inzwischen halbtags arbeitende Kommissarin – die die beiden kleinen Kinder ihrer verstorbenen Schwester zu sich genommen hat -, selten Zeit, in die Tiefe eines Falles zu gehen. Dafür hat sie die Oberfläche gut im Blick und entdeckt auf diese Weise Zusammenhänge, die anderen entgehen. Dabei wirkt sie mitunter so naiv und kindlich-staunend, dass ihre Gesprächspartner sie schnell unterschätzen. Zu schnell.

»Die Herzen aller Mädchen« ist das fünfte Buch von Monika Geier um die Ludwigshafener Kommissarin, und es ist eines ihrer besten – obwohl eigentlich alle ihre Kriminalromane ganz wunderbar sind. Geier schreibt elegant und leichtfüßig, mit gekonnt gesetzter, bissiger Komik, unhysterisch, intelligent und äußerst lebendig. Ihre Figuren sind komplex und plastisch, denn Geier spielt versiert mit Klischees, die schließlich herrlich unterlaufen werden. Spannend und ungemein glaubwürdig sind die Krimis obendrein. Das macht Monika Geier zu einer der besten deutschen Krimiautorinnen.

Kirsten Reimers

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Monika Geier: Die Herzen aller Mädchen
Ariadne Krimi, Argument Verlag 2009
brosch., 351 Seiten, 11,00 Euro
ISBN: 978-3-86754-184-8

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Datenmissbrauch und Terrorhysterie

Wenn Identität zur Ware wird

Michael Bellichers Welt beginnt auseinander zu brechen, als er Zeuge eines schweren Autounfalls wird. Die von ihm herbeigerufene Polizei interessiert sich überraschend intensiv für den jungen Unternehmensberater aus Amsterdam. Und völlig unvermutet wird er selbst beschuldigt, einen andern Unfall mit tödlichem Folgen verursacht und anschließend Fahrerflucht begangen zu haben. Das Unfallauto ist auf seinen Namen zugelassen. Nicht einmal seine Pflichtverteidigerin scheint Bellicher zu glauben, der beteuert, nichts davon zu wissen.

Doch das ist erst der Anfang. Denn kurz darauf muss Bellicher erfahren, dass auf seinen Namen ein Kredit von über drei Millionen Euro aufgenommen wurde, der nun geplatzt ist. Der Unternehmensberater ist ohne sein Zutun hoch verschuldet, sein Besitz droht gepfändet, sein Vermögen beschlagnahmt zu werden. Außerdem wird er von zwei Männern verfolgt, die offenbar auch vor seinem Tod nicht zurückschrecken.

Innerhalb weniger Tage zerfällt Bellichers Existenz, weil sich jemand seine Identität angeeignet hat und in seinem Namen Verbrechen begeht. Weder Banken noch Behörden schenken seinen Unschuldsbeteuerungen Glauben.

Datendiebstahl im Internet – Hysterie oder reale Gefahr?

Angesichts der in jüngster Zeit bekannt gewordenen Datenmissbräuche gewinnt den Tex‘ Thriller mehr Aktualität und Brisanz, als ihm ohnehin schon inneliegen. Identität lässt sich heute in Daten pressen – damit wird sie handelbar wie Ware. Solange sie nur benutzt wird, um den Betroffenen um sein Geld zu prellen, ist es sogar noch vergleichsweise harmlos. Um wie viel bedrohlicher ist die Situation, wenn die Personendaten an Terroreinheiten verkauft werden, die ihre Mitglieder damit ausstatten. Und wie ungeheuerlich, wenn auch noch Regierungsorganisationen ihre Finger mit im Spiel haben.

Den Tex nutzt für seinen Thriller eine reale Gefahr, die alle gern verdrängen: Das Mitmischen in virtuellen Netzwerken ist gang und gäbe, Online-Banking und Internetshopping gehört zum Alltag. Ist wirklich alles so sicher, wie uns die Betreiber weismachen wollen? Wir alle neigen dazu, eine Menge von uns im Internet preiszugeben. Warum auch nicht, wir haben ja nichts zu verbergen. Aber wir haben auch keine Kontrolle darüber, was andere mit unseren Daten anstellen. Und die haben unter Umständen eine Menge zu verbergen.

Während eines Terroralarms gerät Michael Bellicher – durch Zufall? – in eine Personenkontrolle. Unversehens landet er in einem Militärgefängnis, in dem angesichts der Terrorgefahr die bürgerlichen Rechte nicht mehr viel zählen. In zermürbenden Verhören soll der Unternehmensberater dazu gebracht werden, seine Zugehörigkeit zu einer terroristischen Zelle zu gestehen. Das Ironische an der Sache: Als Berater des Justizministeriums hat er in der Vergangenheit dabei geholfen, derartige Antiterroreinsätze zu planen.

Identität – mehr als Daten

Damit ist nicht nur die äußere Existenz von Bellicher in Gefahr. Auch sein innerer Zusammenhalt wird unter Beschuss genommen. Und wie viel ist das Wissen um die eigene Unschuld wert, wenn niemand sonst davon überzeugt ist? Was macht eine Person aus? Besteht Identität nur aus Daten? Was passiert mit einem Menschen, dem diese Daten genommen werden?

Beklemmend bedrohlich ist das Szenario, das den Tex entwirft – eine allgegenwärtige Gefahr, die nicht wirklich zu fassen ist, ein Alter Ego, das ein kriminelles, gar staatsfeindliches Eigenleben führt. Darüber hinaus ist der Thriller tempo- und actionreich mit rasanten Verfolgungsjagden gestaltet. Nur die Figuren bleiben etwas blass und papiernen. Störend auch die Verweise auf das Vorgängerbuch „Die Macht des Mr. Miller“, denn dadurch gerät Hauptfigur Bellicher in ein falsches Licht: Schon damals wurde er des Mordes verdächtigt, seine Existenz zerbrach in Stücke. Und nun schon wieder. Das schmälert Glaubwürdigkeit der Figur auch beim Leser, denn wer hat schon derart viel Pech, wer wird so oft mit Verbrechen konfrontiert, der nicht Polizist oder Krimineller ist?

Bei aller Rasanz schwingt stets die philosophische Frage mit, was Identität ausmacht, was ein Individuum definiert. Und den Tex findet darauf eine eindeutige Antwort: ohne soziales Netz, ohne Unterstützung von anderen, ohne Freundschaft keine Identität – und auch keine Fallauflösung. Zum Glück hat Bellicher einen Kompagnon mit einflussreicher Familie, so stehen ihm bald verschiedene Personen bei, um die eigene Identität zurückzuerobern. Das ist gut gelöst. Und – um ehrlich zu sein: Mir hängen die taffen Alleinunterhalter zum Hals heraus!

Die in sich gefangenen Ermittler – ob nun Profi oder Amateur -, die in Selbstmitleid und sozialer Inkompetenz baden – sie sind Dinosaurier, zum Aussterben verurteilt. In der heutigen Welt sind sie weder glaubwürdig noch existenzfähig. Das Heute ist viel zu zersplittert, in Nischen aufgeteilt und gleichzeitig viel zu vernetzt, als dass ein Einzelner sich darin zurechtfinden kann, ja überhaupt überlebensfähig wäre (nicht ohne Grund gibt es eine riesige Beraterbranche und umfangreiche Ratgeberliteratur zu allem und jedem). Was bei Hammett und Chandler noch funktionierte, hat sich heute überholt. Jeder einsame Wolf ist ein lächerliches Fossil. (Das musste mal gesagt werden.)

Kirsten Reimers

Charles den Tex: Die Zelle
Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer
Grafit Verlag 2009
geb., 446 Seiten, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-89425-659-3

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