Zwischen Terrorhysterie und Hoffnungslosigkeit

Aktuelle Unsicherheiten und uralte Ängste

Anwalt und Autor Georg M. Oswald verwendet in seinen Romanen häufiger Krimi- oder Thrillerelemente. Mit »Unter Feinden« legt er nun erstmals einen tatsächlichen Thriller vor. München im Februar, die Situation ist angespannt, denn in wenigen Tagen soll die internationale Sicherheitskonferenz stattfinden. Gerüchte über einen bevorstehenden Terroranschlag heizen die Stimmung an und verschärfen die Kontrollmaßnahmen zusätzlich. Die Polizisten Diller und Kessel observieren eine Wohnung im sozial brenzligen Münchner Westend, in der eine Terrorzelle vermutet wird. Als der heroinabhängige Kessel eine kurze Abwesenheit seines Kollegen nutzen will, um von einer Gruppe Jugendlicher Stoff zu kaufen, endet dies in einem Gewaltausbruch. Diller und Kessel können zwar fliehen, doch sie überfahren dabei einen der Jugendlichen. Dies führt in den folgenden Stunden zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und Plünderungen – Szenen, die man eher mit London oder Paris in Verbindung bringt, aber nicht mit dem beschaulichen München.

Kessel saß zwar am Steuer des Fluchtautos, doch Diller versucht, seinen langjährigen Freund und Kollegen zu decken und ihrer beider Rolle bei den Aufständen zu vertuschen. Während Familienvater Diller so immer tiefer in ein moralisches Dilemma rutscht, das ihn nicht nur seinen Beruf kosten könnte, macht sich Kessel durch seine Sucht erpress- und manipulierbar. Die Eskalation ist vorgezeichnet.

Oswald beschreibt in nüchternen Worten die herunter- gekommenen Seiten Münchens, das bedrohliche Brodeln unter der sauberen bürgerlichen Oberfläche. Um diese Fassade aufrechtzuhalten, wird – nicht nur zur Sicherheitskonferenz – die Kontrolle auf technischer wie sozialer Ebene immer schärfer. Innere wie äußere Überwachung sind der Preis für die brüchige Illusion von Sicherheit. Gegen Ende wird es zwar ein wenig naiv, doch ist Oswald mit »Unter Feinden« nicht nur spannender, sondern auch kluger kleiner Thriller über Terrorangst und gesellschaftliche Verunsicherung gelungen.

Heimtücke unter Brüdern

Auch Yves Raveys Roman »Bruderliebe« spielt mit Unsicherheiten. In einer Winternacht trifft sich Max mit seinem älteren Bruder Jerry in einem kleinen grenznahen Ort in der Schweiz, um ihn nach Frankreich zu schmuggeln. Jerry, der in Afghanistan gekämpft hat und dort immer noch lebt, soll dem Buchhalter Max, helfen, die Tochter seines Chefs zu entführen und eine halbe Million Euro zu erpressen. Ein einfacher Plan, eine todsichere Sache, eigentlich.

Die Brüder haben sich seit zwanzig Jahren nicht gesehen, doch es dauert nur Minuten, bis sie wieder in alte Rollenmuster und Geschwisterrivalitäten verfallen. Dies sorgt für zusätzliche Spannung in einer explosiven Situation – in der jeder seine eigenen Pläne verfolgt. Beide Brüder spielen nicht nur ihr eigenes, schwer durchschaubares Spiel, sondern haben auch keinerlei Skrupel, den anderen auszuhebeln. So ist »Bruderliebe« ein kleiner, sehr schön dreckiger Roman voller Heimtücke.

Wegführer in die Hölle

Donald Ray Pollocks Romandebüt »Das Handwerk des Teufels« spielt im heruntergekommenen Niemandsland des Mittleren Westens in der Zeitspanne zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Vietnamkrieg, eine Zeit der Gewalt und des Fanatismus, im Großen wie im Kleinen. Kriegs- veteran Willard Russel versucht verzweifelt, den Krebstod seiner Frau mit bizarren Opfer- ritualen aufzuhalten, sein Sohn Arvin lernt währenddessen, dass es Sühne nur gibt, wenn man selbst dafür sorgt, und bringt Jahre später den Pfarrer um, der seine Pflegeschwester missbraucht und in den Selbstmord getrieben hat. Die Mutter dieser Pflegetochter ist von ihrem Mann erstochen worden, einem vollkommen durchgeknallten Laienpriester, der überzeugt war, Tote zum Leben erwecken zu können. Ein korrupter Sheriff hält sich mit Auftragsmorden für den lokalen Unterweltboss über Wasser; seine Schwester fährt gemeinsam mit ihrem Mann die Landstraßen ab, um Tramper aufzusammeln, sie zu ermorden und zu fotografieren.

Die Welt, die Pollock zeichnet – geradlinig und glasklar – ist die Hölle auf Erden. Die Menschen sind auf der Suche nach Erlösung, und die einzige Antwort, die ihnen zur Verfügung steht, ist Gewalt. »Das Handwerk des Teufels« ist ohne jede Hoffnung, verstörend, tief beeindruckend und grandios geschrieben.

Kirsten Reimers

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Georg M. Oswald: Unter Feinden
Piper 2012
HC, 256 Seiten, 18,99 Euro
ISBN: 978-3492053839
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Yves Ravey: Bruderliebe
Aus dem Französischen von Angela Wicharz-Lindner
Verlag Antje Kunstmann 2012
HC, 112 Seiten, 14,95 Euro
ISBN 978-3-88897-750-3
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Donald Ray Pollock: Das Handwerk des Teufels
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Liebeskind 2012
HC, 302 Seiten, 19,80 Euro
ISBN 978-3-935890-85-4

Diese Besprechung ist zuerst erschienen
in der Frankfurter Neuen Presse.


Sadismus vor Idylle

Im norwegischen Bodø wird ein Mann halbtot im eiskalten Meer angekettet aufgefunden. Wenig später kann gerade noch rechtzeitig ein zweiter Mann gerettet werden, den jemand an einen Heizstrahler gefesselt hat. 300 Kilometer nördlich spült das Nordmeer jahrzehntealte Porzellanpuppen an den Strand, kurz darauf gibt es hier die erste Frauenleiche, die natürlich nicht die letzte bleibt. Und selbstverständlich hängen all diese Fälle in irgendeiner Weise zusammen. »Der Mahlstrom« (auch im Original schlicht »Mahl- strømmen«) von Frode Granhus bietet sadistische Gewalttaten in idyllischer Landschaft – und eine hanebüchene Story: schwer überkonstruiert, reichlich brutal und enorm unglaubwürdig; zudem streckenweise ziemlich schwülstig geschrieben.

Der Mahlstrom, ein Gezeitenstrom mit starken Wasserwirbel, hoch oben im Norden zwischen den norwegischen Lofoten, soll offenbar als Sinnbild für den Sog der Gewalt stehen: Gewalt zeugt Gewalt, scheint Granhus demonstrieren zu wollen, denn seine Täter waren früher Opfer, die Stafette des Sadismus wird vom Vater an den Sohn weitergereicht, gern auch mit Unterstützung des Stiefvaters oder der gefühlskalten Mutter (die wiederum ein Opfer von Gewalt ist). Auf diese Weise schafft es Granhus, über die Generationen hinweg auf 383 Seiten eine Menge sinnfreie Brutalität unterzubringen. Vor allem aber belegt Granhus eines: dass in seinem Buch Gewalt schlicht um der Gewalt willen geschildert wird – effektvoll ausgemalt und mit halbherziger Empörung angeprangert, um eine abstruse Story zusammenzuhalten.

Kirsten Reimers

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Frode Granhus: Der Mahlstrom
(Mahlstrømmen, 2010)
Aus dem Norwegischen von Wibke Kuhn
btb 2012
Tb., 383 Seiten, 9,99 Euro
ISBN 978-3-442-74315-5
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Diese Besprechung ist zuerst erschienen im CrimeMag.


Von tödlichen Geheimnissen und poetischer Grenzüberschreitung

So unterschiedlich wie eigen

Im Nachlass seines verstorbenen Vaters entdeckt Robert Lubisch das Foto einer unbekannten jungen Frau, aufgenommen in den frühen vierziger Jahren. Eine frühe Freundin? Vielleicht gar eine Geliebte? Aus Neugier – und in der Hoffnung, einen kleinen grauen Fleck auf der aufreizend weißen Weste des Vaters zu finden – beginnt Lubisch, ein wenig nachzuforschen, wer diese Frau gewesen sein mag. Die Recherchen führen ihn nach Kranenburg am Niederrhein und in die Zeit des Nationalsozialismus – und in ein Drama, das bis in die Gegenwart nachwirkt.

Mechthild Borrmann ist mit »Wer das Schweigen bricht« ein sehr ruhiger, nahgehender Kriminalroman über Jugend, Liebe und Zurückweisung gelungen, der seine Glaubwürdigkeit aus den sorgfältig gezeichneten Figuren und ihren Lebensumständen bezieht. Die Zeit des Nationalsozialismus ist dabei ebenso Bedingung für die geschilderten Ereignisse wie die Charaktere mit ihren unterschiedlichen Sehnsüchten und Ängsten, die hier aufeinander treffen.

Zwischen Melancholie und Verzweiflung

Kurz vor Weihnachten verschwindet der zehnjährige Adrian aus einem Kinderschutzhaus in München. Tabor Süden, früher Kriminalkommissar, heute Privatdetektiv, wird beauftragt, den Jungen zu suchen. Dank der SMS, die Adrian seiner besten Freundin Fanny schreibt, kommt Süden mit dem Jungen ins Gespräch. Nach und nach nähert er sich dem Leben des Kindes.

»Süden und die Schlüsselkinder« ist nach »Süden« der zweite Roman, in dem Friedrich Anis langjähriger Polizeiermittler Tabor Süden nach sechsjähriger Auszeit nun als Privatdetektiv unterwegs ist und vermisste Personen sucht – intuitiv, einfühlsam und mit großer Sturheit. Wie gewohnt scheut Ani keinerlei Nähe zu seinen Figuren, deren Motive, zerschollene Hoffnungen und Leben er intensiv ausleuchtet in dieser faszinierenden Mischung aus Melancholie, Verzweiflung und Leichtigkeit.

Über Grenzen hinweg

Ein todkranker Auftragskiller, Vietnamveteran, soll einen unauffälligen Buchhalter töten. Doch bevor es dazu kommen kann, schießt jemand anders auf das Opfer. Ein Detective, dessen Frau im Sterben liegt, wird gemeinsam mit seinem Partner auf den Fall angesetzt. Ein Junge wird von beiden Eltern verlassen und schlägt sich allein durchs Leben – und träumt die Träume des todkranken Killers.

James Sallis‘ Roman »Der Killer stirbt« ist weniger ein Krimi als vielmehr eine Reflektion über Verlassenheit, Verlust und Tod, die sich nicht um Genregrenzen schert. Die Handlung entwickelt sich nicht chronologisch, sondern folgt einer Traumlogik, in der die Zeitebenen verschwimmen sowie Erinnerungen, Träume und Phantasien einfließen aus den unterschiedlichen Perspektiven des Killers, des Polizisten und des Jungen. Bei aller Nüchternheit der Sprache poetisch und faszinierend.

Kirsten Reimers

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Mechthild Borrmann: Wer das Schweigen bricht
Pendragon 2011
Tb., 224 Seiten, 9,95 Euro
ISBN: 978-3-86532-231-9
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Friedrich Ani: Süden und die Schlüsselkinder
dtv 2011
Tb., 188 Seiten, 8,99 Euro
ISBN: 978-3-426-50936-4
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James Sallis: Der Killer stirbt
Aus dem Englischen von
Jürgen Bürger und Kathrin Bielfeldt
Liebeskind 2011
geb., 251 Seiten, 18,90 Euro
ISBN 978-3-935890-78-6

Diese Besprechung ist erstmals erschienen
in der Frankfurter Neuen Presse.


Von Drogenkriegen, geheimnisvollen Ungeheuern und mörderischem Ehrgeiz

Spannung zwischen Coolness und Satire

Mit »Tage der Toten« schrieb Don Winslow einen der wichtigsten und besten Romane dieser Zeit zum Drogenkrieg zwischen den USA und Mexiko. Sein aktueller Roman »Zeit des Zorns« greift sozusagen einen einzelnen Mosaikstein dort heraus und schildert das Drogenmilieu im Kleinen.

Ben und Chon verkaufen das beste Marihuana in Kalifornien. Die beiden Männer könnten unterschiedlicher kaum sein: Chon, ein Ex-Marine, der bereit ist, ohne Skrupel zu töten, Ben, der den Gewinn aus seinen Drogengeschäften in humanitäre Projekte in der dritten Welt steckt. Dennoch sind sie die besten Freunde, die sogar problemlos in ein und dieselbe Frau verliebt sein können: Ophelia, genannt O. Das Geschäft läuft gut, bis das Baja-Kartell, das größte Drogenkartell an der mexikanisch-amerikanischen Grenze, den kleinen entspannten Konkurrenzbetrieb schlucken will. Es entbrennt ein Kampf zwischen den ungleichen Branchenvertretern, der nur in die Katastrophe führen kann.

»Zeit des Zorns« ist ein schneller, extrem cooler, unverfrorener und intelligenter Roman, der sich nicht um Schreibkonventionen kümmert. Zum Glück wurde er hervorragend übersetzt von Conny Lösch. Ein grandioses, kleines, abgebrühtes Meisterwerk!

Auf der Jagd nach dem Antichrist

Erneut schickt Josh Bazell in »Einmal durch die Hölle und zurück« seinen ehemaligen Mafiakiller und jetzigen Arzt Pietro Brnwa ins Rennen, diesmal auf die Suche nach einem Ungeheuer in den Seen von Minnesota. Der Roman erreicht nicht die abgeklärte Lässigkeit und drogenstarrenden Überschallgeschwindigkeit des Erstlings »Schneller als der Tod«, doch ist er voller absurder Ideen, die recht hübsch auf die Spitze getrieben sind – unter anderem Sarah Palin auf LSD auf Suche nach dem Antichrist.

Wieder gespickt mit Fußnoten, wartet der Roman mit Exkursen und gefakten Lexikonartikeln sowie mit einem umfangreichen Quellenverzeichnis auf. Dieses zeigt zum einen die Vielfalt der Themen, die Bazell anreißt, und zum anderen wird deutlich, wie durchdacht er Stellung bezieht zu Umwelt-, Gesundheits-, Energiethemen innerhalb dieses schön überzogenen, vielleicht etwas geschwätzigen Thrillers. Die Korruption und Unfähigkeit verschiedener US-Regierungen und Präsidenten werden genauso süffisant bis boshaft eingebunden wie Widersinnigkeiten des Gesundheitssystems oder christlicher Fanatismus. Allein wegen dieses Quellenverzeichnisses ist der Roman schon lesenswert.

Mörderische Bildung

Auch Rob Alef legt mit »Kleine Biester« seinen zweiten Kriminalroman vor: Eine Reihe seltsamer Unfälle dezimiert die Klasse 6b der James-Hobrecht-Grundschule in Berlin-Kreuzberg: Zuerst tut sich ein Krater im Sandkasten eines Spielplatzes auf und zieht ein Mädchen in die Tiefe, dann stirbt einer ihrer Mitschüler an einer Kohlenmonoxidvergiftung. Erst der angesägte Lenker eines Kinderfahrrads bestätigt den Verdacht: Hier ist ein perfider Mörder am Werk. Hängt die Mordserie mit dem Auswahlverfahren der nächst höheren Schule zusammen? Will hier jemand die Anwärter auf die ebenso begehrten wie limitierten Schulplätze beiseite schaffen, um die eigenen Chancen beziehungsweise die des eigenen Kindes zu erhöhen?

Mit einem vertrackten Sinn fürs kleine gemeine Böse nimmt Rob Alef ehrgeizige Eltern, »Arschlochkinder« (wie Christiane Rösinger sie so treffend nennt) und neoliberales Leistungsgedöns satirisch aufs Korn. Dabei verwebt er ausgeklügelte fiktive Stadtgeschichte mit jugendlichem Forscherdrang, ausgefallenen Mordmethoden und einem Schuss Phantastik. Herausgekommen ist ein netter, fieser, kleiner Krimi, der angenehm überzogen ist und nie ins Alberne kippt.

Kirsten Reimers

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Don Winslow: Zeit des Zorns
(Savages, 2010)
Deutsch von Conny Lösch
Suhrkamp 2011
Tb., 338 Seiten, 14,95 Euro
ISBN 978-3-518-46300-0
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Josh Bazell: Einmal durch die Hölle
und zurück
(Wild Thing, 2011)
Deutsch von Thomas Gunkel und Malte Krutzsch
S. Fischer Verlag 2011
Hc, 409 Seiten, 18,95 Euro
ISBN 978-3-10-003913-2
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Rob Alef: Kleine Biester
Rotbuch Verlag 2011
Tb., 349 Seiten, 14,95 Euro
ISBN 978-3-86789-136-3
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Diese Besprechung ist erstmals erschienen
in der Frankfurter Neuen Presse.


King of cool

Schnell, brutal, romantisch, intelligent

Mit »Tage der Toten« hat Don Winslow einen der wichtigsten und besten Romane dieser Zeit zum Drogenkrieg zwischen den USA und Mexiko geschrieben. In »Zeit des Zorns« (der Originaltitel »Savages« ist nicht ganz so dramatisierend und stattdessen bezie- hungsreicher) greift er ein Mosaiksteinchen dort heraus und schildert die Auseinandersetzungen im Dro- genmilieu im Kleinen.

Pointierte Miniatur

Ben und Chon bauen das beste Hydro-Gras in ganz Kalifornien an und verkaufen es mit großem Erfolg. Das lässige Zwei-Mann-Unternehmen macht Millionenumsätze. Ben, Sohn eines Psychologenehepaares, Pazifist und ausgestattet mit sozialem Gewissen (und mit großem Spaß am Drogenbusiness), ruft mit seinen Gewinnen humanitäre Projekte in der dritten Welt ins Leben. Chon hingegen, aus desolatem Elternhaus, Ex-Marine und schwer traumatisiert durch seinen Afghanistan-Einsatz, kümmert sich um die schmutzigen Seiten des Geschäfts; wenn es sein muss, tötet er ohne jeden Skrupel.

Komplettiert wird diese pointierte Miniatur der gegenwärtigen US-amerikanischen Gesellschaft durch Ophelia, genannt O, Tochter einer reichen, durchgeknallten Hippiemutter, clever, sexy und konsumorientiert. Ben, Chon und O bilden eine glückliche menage à trois, lustvoll gelagert auf einer stabilen finanziellen Basis dank exklusiver Kundschaft für das Wunderdope.

Eskalation vorgezeichnet

Doch Erfolg bleibt nicht unbemerkt, schon gar nicht im Drogenbusiness. Ohne sie auch nur benennen zu müssen, macht Winslow die Mechanismen dieser Industrie, die tödliche Logik kapitalistischen Strukturen offensichtlich und wie sie die Menschen darin fixieren: Das Baja-Kartell, eines der großen mexikanischen Drogenkartelle mit Hauptsitz in Tijuana – auf der Halbinsel Baja California – ist auf das lukrative Kleinunternehmen mit festem Kundenstamm aufmerksam geworden. Da das Baja-Kartell von internen Machtkämpfen erschüttert wird und der Konkurrenzkampf mit den anderen Drogenkartellen gnadenlos ist, wäre eine Expansion in die USA und die Übernahme des erfolgreichen Dope-Herstellers ein willkommener Schritt zur Konsolidierung.

Da erste Verhandlungen ergebnislos verlaufen, greift die Chefin des Baja-Kartells zu deutlichen Mitteln: Sie lässt O entführen und droht mit ihrer Enthauptung, um Ben und Chon zur Kooperation zu bewegen. Doch auf Gewalt kann es in dieser Branche nur eine Antwort geben: noch mehr Gewalt. Die Eskalation ist vorgezeichnet – und sie führt bis zum Äußersten.

Jenseits von Konventionen

»Zeit des Zorns« ist ungebremst brutal und gleichzeitig romantisch, mit deutlichen Anklängen an »Butch Cassidy und Sundance Kid«. Ein schneller, extrem cooler, unverfrorener und intelligenter Roman – dabei von entwaffnendem Witz – mit dem vermutlich kürzesten ersten Kapitel der Weltgeschichte. Winslow kümmert sich nicht um Konventionen, weder inhaltlich noch formal: Erzählende Passagen wechseln mit inneren Monologen, drehbuchartigen Einschüben, Listen, Quizfragen, direkter Leseransprache, lexikalen Erklärungen oder etymologischen Herleitungen. Übersetzt wurde dies ganz vorzüglich von Conny Lösch. Ein grandioses, kleines, abgebrühtes Meisterwerk.

Kirsten Reimers

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Don Winslow: Zeit des Zorns
(Savages, 2010)
Deutsch von Conny Lösch
Suhrkamp 2011
Tb., 338 Seiten, 9,99 Euro
ISBN 978-3-518-46300-0
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

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