Archiv des Autors: Björn Schäffer

Das Ende der Zivilisation

Tomatenrot, in dieser Farbe leuchten Jamalees Haare – der Versuch, sich abzugrenzen und aus dem Elend auszubrechen: dem White-Trash-Milieu in Venus Holler, dem Viertel auf der falschen Seite der Bahngleise von West Table in den Ozarks, Missouri. Ihr Bruder Jason soll ihr dabei helfen, die Hoffnungslosigkeit hinter sich zu lassen: Mit seiner Schönheit soll er reiche verheiratete Frauen verführen, damit Jamalee sie erpressen kann.

Hilfe erhofft sie sich außerdem von Sammy Barlach, aus dessen Sicht das Geschehen geschildert wird: ein junger Loser ohne Bildung, ohne Familie, ohne Hoffnung, ohne Ehrgeiz, jedoch mit der Sehnsucht nach Geborgenheit. Aber Jamalee hat nicht nur Ehrgeiz genug für sie alle, sondern auch eine tiefe, antreibende Wut. Doch die Wut bringt sie nicht heraus aus diesem Sumpf der Verzweiflung, der noch größer wird, als man Jason ermordet auffindet.

»Tomatenrot« ist eines der früheren Werke von Daniel Woodrell. Es hat noch nicht die Dichte und Intensität wie »Winters Knochen« (Verfilmung 2010), verfügt aber über eine große, sehr düstere Schönheit und über eine verzweifelte, schmerzhafte Poesie.

Flucht vor Terror und Krieg

Acht Menschen – zwei Frauen, sechs Männer – auf der Flucht aus Tripolis, vor Gaddafi, vor dem Bürgerkrieg, vor Terror, Tod und Korruption, das ist die Ausgangssituation »Exodus aus Libyen« von Tito Topin. Die Beweggründe der Flüchtenden sind höchst unterschiedlich, ihre Herkunft auch, ebenso ihre religiösen Überzeugungen. Eine Notgemeinschaft, die nur die Verzweiflung zusammenhält.

Ihr Ziel ist Tunesien, das sie mit einem Land Cruiser erreichen wollen, quer durch die Wüste in sengender Hitze und steter Angst vor Be- schuss. Wegen einer Reifenpanne sind sie jedoch gezwungen, in einem Hotel unterzukommen, in dem sich schon ein Kommandant der Regierungstruppen einquartiert hat. Eine Konfrontation mit dem Feind – im außen, im anderen, in sich selbst.

Knappe Rückblenden zeigen, warum diese Acht haben flüchten müssen, und werfen gleichzeitig Schlaglichter auf das Leben unter dem Druck der Diktatur, auf eine patriarchale Gesellschaft, auf Fremdenhass, religiösen Fanatismus und Frauenfeindlichkeit. Ein Kammerspiel, düster, politisch, explosiv – und ohne Abstriche übertragbar auf die gegenwärtige Situation im Irak oder in Syrien.

Dicht und stringent, fast filmisch erzählend, zeigt Tito Topin die Gnaden- und Sinnlosigkeit von Kriegen. Die Übersetzung ist zwar ungelenkt, was durchaus stört, kann aber der Kraft und Eindringlichkeit des Romans nichts anhaben.

Düsteres Endzeitszenario

Eine tödlich verlaufende Virusinfektion überrollt die Erde. Staatliche Kontrollorgane versagen, die dünne Schicht der Zivilisation zerreißt angesichts der tödlichen Bedrohung. Und mitten in diesem Chaos stellt Fernsehmoderatorin Stevie Flint fest, dass ihr Freund Simon ermordet wurde. Ein Toter unter Millionen. Das kümmert nieman- den außer Stevie. Sie ist eine der wenigen Über- lebenden der Viruserkrankung. Offenbar immun gegen eine erneute Infektion macht sie sich in London auf die Suche nach dem oder den Mördern. Eine Odyssee durch Zerstörung und Verfall, durch Angst und Verzweiflung.

Dicht und beunruhigend beschreibt Louise Welch in »V5N6 – Tödliches Fieber«, wie die öffentliche Ordnung und mit ihr die Menschlichkeit zerbricht – ein düsteres Endzeitszenario. Stevies Suche nach den Ursachen von Simons Tod – ihr Freund war Arzt und arbeitete mit Kollegen an der Entwicklung eines neuen Medikaments – zeigt, wie fragil soziale Konstruktionen sind, wie schnell der Überlebenswille zu Aggressionen und Konkurrenzkampf führt. Und dass niemand dagegen immun ist. Wie immer bei Louise Welsh ist die Hauptfigur keine selbstlose Heldin, sondern ein Mensch mit Ecken und Kanten. Das macht einen großen Teil der Qualität der Romane von Welsh aus.

Kirsten Reimers

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Daniel Woodrell: Tomatenrot
(Tomato Red, 1998)
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Liebeskind 2016
geb., 222 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-95438-060-2
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Tito Topin: Exodus aus Libyen
(Libyan Exodus, 2013)
Aus dem Französischen von Katarina Grän
Distel Literaturverlag 2015
kart., 233 Seiten, 14,80 Euro
ISBN 978-3-923208-90-6
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Louise Welsh: V5N6 – Tödliches Fieber
(A Lovely Way to Burn, 2014)
Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
Kunstmann 2016
kart., 352 Seiten, 19,95 Euro
ISBN 978-3-95614-090-7
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Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in der
Frankfurter Neuen Presse


Mörderische Perfidie

Ein brutaler Mord in der Wüste nah der texanisch-mexikanischen Grenze, ein FBI-Agent, der wegen seines Wissens über Predator-Drohnen gekidnappt wurde und an ein Drogenkartell oder Al-Kaida verkauft werden soll, dazu mindestens ein psychopathischer Mörder, ein eiskalter russischer Pornoproduzent und mehrere Menschen, die Sheriff Hackberry Holland mit wenig angenehmen Kapiteln seiner Vergangenheit konfrontieren.

James Lee Burke fährt in »Glut und Asche« viel auf und scheut vor den großen Themen nicht zurück: Schuld und Sühne, Verzweiflung und Vergebung, Glaube und Entsetzen. Und das ist auch gut so. Sein aktueller Roman ist so eine Art Fortsetzung von »Regengötter« (Deutscher Krimipreis 2015), steht aber dennoch für sich allein. Wie schon zuvor gelingt es Burke, ein großes Szenario aufzubauen, zu schreiben wie im Breitbildformat – und zugleich die feinen, subtilen Töne zu treffen. Eine beeindruckende und fesselnde Verbindung von Western, Kriminalroman und Gesellschaftsporträt.

Eiskalter Showdown

Es hätte ein einfacher Job sein sollen: reingehen, Pokerrunde ausrauben, wieder rausgehen. Schnell, sicher, lukrativ. Für Crissa Stone, erfahrene Berufsverbrecherin, und ihre ebenso professionellen Komplizen Arbeitsalltag mit kalkulierbarem Risiko. Doch diesmal geht etwas schief: Jemand wird bei dem Überfall erschossen – ausgerechnet der Schwiegersohn eines Gangsterbosses. Dieser engagiert nun wiederum einen Killer, um Stone und ihre Kollegen auszuschalten. So sieht es zumindest auf den ersten Blick aus – doch die Lage der Dinge ist etwas komplexer. Und weit gefährlicher.

Mit Crissa Stone hat Wallace Stroby in seinem Roman »Kalter Schuss ins Herz« eine für Kriminalromane ungewöhnliche Figur geschaffen: Sie ist konsequent, eigenständig und selbstbestimmt, sie kann sich effektiv verteidigen und für sich selbst sorgen, ist aber keine zynische Einzelgängerin: Sie geht Bindungen ein und wird dadurch verletzlich. Gerade dies ist ihre große Stärke.

Lakonisch und ohne Umschweife erzählt, stilsicher von Alf Mayer übersetzt, ist »Kalter Schuss ins Herz« ein beeindruckender, spannungsreicher Krimi, der in Plot wie Figurenzeichnung überrascht und überzeugt.

Monster gebären Monster

Als Kind wurde Red Dock gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder in ein katholisches Waisenhaus gebracht – als Erwachsener rächt er sich perfide dafür. Sein Plan ist dunkel, heimtückisch komplex, auf lange Sicht ausgelegt und gut durchdacht. Was er jedoch nicht erwartet hat: Ein phantasiebegabter Serienkiller kreuzt seinen Weg – in mehr als einer Hinsicht.

Seamus Smyth’ Roman »Spielarten der Rache« ist eine wütende und düstere Anklage eines unmenschlichen Systems: Über Jahrzehnte hinweg misshandelten und missbrauchten katholische Mönche und Nonnen in Irland die ihnen anvertrauten Waisenkinder. Die Gesellschaft verschloss bewusst die Augen davor und begünstigte die Grausamkeiten durch Normen und Tabus. Erst seit den neunziger Jahren wird dies aufgearbeitet.

Smyths Protagonisten – der Roman ist aus verschiedenen Perspektiven geschrieben – sind das Ergebnis der Misshandlungen: zerstörte Seelen, besessen von Rache. Doch bei aller Wut und Schonungslosigkeit schreibt Smyth mit Selbstironie und makabrer Komik. Und das ist auch gut so.

Kirsten Reimers

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James Lee Burke: Glut und Asche
(Feast Day of Fools, 2011)
Aus dem Amerikanischen von Daniel Müller
Heyne Hardcore 2015
kart., 699 Seiten, 17,99 Euro
ISBN 978-3-453-67680-0
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Wallace Stroby: Kalter Schuss ins Herz
(Cold Shot to the Heart, 2011)
Aus dem Amerikanischen von Alf Mayer
Pendragon 2015
kart, 351 Seiten, 15,99 Euro
ISBN: 978-3-86532-487-0
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Seamus Smyth: Spielarten der Rache
(Red Dock, 2010)
Aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller
Pulp Master 2015
kart., 267 Seiten, 14,80 Euro
ISBN 978-3-927734-61-6
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Frankfurter Neuen Presse


Tödliche Lebenslügen

So abgehalftert wie sein Kumpel Beale wird Alan Slater nicht enden, da ist er sich ganz sicher. Beide sind Vertreter für Doppelverglasungen, doch Beale ist auf dem Weg nach ganz unten, seit seine Ehe den Bach runter ist, er seine Zeit überwiegend mit Glücksspiel verbringt und seinen Job schleifen lässt. Alan hingegen hat alles im Griff: den Job, die Abschlüsse, die Ehe, die Geliebte. Er hat ein Auge auf Beale, wenn der sich wieder einmal zusäuft und dann aggressiv wird. Ihm, Alan, würde das nie passieren, weil er sich im Griff hat.

Ein Leben am Anschlag: nur der Abschluss zählt, die Konkurrenz schläft nicht – und unter den Kollegen preschen die Jungen, Hungrigen vor. Alan hält zahlreiche Bälle in der Luft, das erfordert Selbstbeherrschung und Kontrolle. Als Beale sich auf eine Pokerpartie einlässt, die vollkommen anders verläuft als geplant, und daraufhin seine Selbstüberschätzung implodiert, reißt dies auch Alan mit rein. Dessen fragiles Lebenskonstrukt bekommt Risse, die durch hohle Selbstmotivationsformeln, noch stärkere Kontrolle und noch mehr Alkohol nicht mehr zu kitten sind.

Ray Banks legt in seinem Krimidebüt »Dead Money« einen rabenschwarzen Roman über Lebenslügen, aggressive Leistungsfixierung und fatale Überheblichkeit vor. Und über Poker natürlich.

Abgrund der Sprachlosigkeit

Um Lebenslügen ganz anderer Art geht es in Friedrich Anis neuem Roman »Der namenlose Tag«, der den pensionierten Kriminalkommissar Jakob Franck als neue Hauptfigur einführt. Dieser wird kurze Zeit nach seinem Eintritt ins Rentnerleben gebeten, in einem alten Fall zu recherchieren: Vor zwanzig Jahren starb ein junges Mädchen – und der Vater kann bis heute nicht glauben, dass es sich um einen Selbstmord handelte. Franck, dem dieser Fall in Erinnerung geblieben ist, begibt sich auf die Suche.

Diese Suche ist ein Abtauchen in Seelenabgründe – Franck öffnet Türen in die Vergangenheit, hinter denen sich jedoch kein reißerisches Geheimnis, kein blutiges Verbrechen versteckt. Vielmehr ist es der traurige graue Alltag und das Unvermögen, über Gefühle und Wünsche zu sprechen. Mit großer Intensität und klugem Feingefühl zeichnet Ani die Welt einer Generation, die nie gelernt hat, über sich nachzudenken, die stets nur fleißig gearbeitet hat, ohne die generationenalten Lebensentwürfe zu hinterfragen. Einfache, unauffällige Menschen, die sich nie Träume oder ein Ausbrechen erlaubt haben, keine Wünsche nach einem anderen Leben.

Friedrich Ani macht die Einsamkeit sowie das Unglück, das aus dieser Sprachlosigkeit erwächst, fühlbar. Man möchte die Figuren schütteln und ihnen zurufen: Redet, macht den Mund auf, sagt, was ihr denkt und fühlt, worauf ihr hofft. Ein ganz wunderbarer Roman von großer Traurigkeit und zarter Leichtigkeit.

Brüll das Leben an!

Leider ein wenig in Vergessenheit geraten ist Léo Malet, einer der Begründer des französischen Polar. Umso höher ist es der Hamburger Edition Nautilus anzurechnen, dass sie zumindest Malets sogenannte »Schwarze Trilogie« verfügbar hält. Vor kurzem ist der erste Band erschienen: »Das Leben ist zum Kotzen«, eine überarbeitete Neuausgabe, ergänzt um ein unverzichtbares Nachwort des Krimiexperten Tobias Gohlis.

Malet, Surrealist und Anarchist, Chansonnier und Krimiautor, schrieb Anfang der 1940er Jahre zunächst unter englischem Pseudonym Hard-boiled-Kriminalromane im Stil von Dashiell Hammett und Raymond Chandler. Bekannt wurde er später mit seinen Romanen um den Privatdetektiv Nestor Burma, die zwar angelehnt an die angloamerikanische Tradition, aber dennoch völlig anders und durch und durch französisch waren. Dazwischen erschien die »Schwarze Trilogie«: Dunkler, verzweifelter, abgründiger als alles, was Malet vorher oder nachher verfasst hat.

»Das Leben ist zum Kotzen« ist geschrieben aus der Sicht eines gesellschaftlichen Außenseiters, der vom Revolutionär zum Verbrecher und Mörder wird – voller Wut und Frustration, Brutalität und Einfühlsamkeit; voller Sehnsucht nach Liebe und Zugehörigkeit, gepaart mit allesdurchdringenden Hass. Groß. Sehr, sehr groß.

Kirsten Reimers

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Ray Banks: Dead Money
(Dead Money, 2011)
Aus dem Englischen von Antje Maria Greisiger
Polar Verlag 2015
kart., 205 Seiten, 12,90 Euro
ISBN 978-3-945133-04-0
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Friedrich Ani: Der namenlose Tag
Suhrkamp 2015
geb., 299 Seiten, 19,95 Euro
ISBN 978-3-518-42487-2
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Léo Malet: Das Leben ist zum Kotzen
(La vie est dégueulasse, 1948)
Aus dem Französischen von Sarah Baumfelder und Thomas Mittelstädt
Edition Nautilus 2015
kart., 159 Seiten, 14,90 Euro
ISBN 978-3-89401-823-8

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Frankfurter Neuen Presse


Zwischen Provinz und Gesellschaftskritik – aktuelle Tendenzen in der deutschen Kriminalliteratur

Mord und Totschlag, kriminelle Instinkte und niedere Beweggründe – unter den ersten Zehn der Bestsellerlisten des deutschen Buchhandels finden sich fast immer Krimis oder Thriller. Zwischen 30 und 40 Prozent der jährlich in Deutschland erscheinenden Belletristik zählt zur Span- nungsliteratur. Dieser Begriff ist allerdings etwas unscharf: Darunter fällt alles, was die Buchverlage mit diesem Label versehen – neben Krimis und Thrillern mitunter auch Fantasy, Science Fiction oder Horror.

Der größte Teil davon sind Übersetzungen, bevorzugt aus England und der USA. Aber die Zahl der deutschen Krimis und Thriller ist seit der Jahrtausendwende deutlich gestiegen.

Idyllische Mordgeschichten in vertrauter Umgebung

Sehr beliebt sind seit mehreren Jahren die sogenannten Regiokrimis: Geschichten mit ausgeprägtem Regionalbezug, gern mit kauzigen Charakteren versehen, oft lärmend humorig im Stil. Der eigentliche Fall wird schnell zur Nebensache. Mittlerweile scheint allerdings die Deutschlandkarte ausgereizt ist zu sein. Stattdessen wird die Handlung mit gleichem Erzählmuster ins benachbarte Ausland verlegt: in die Provence, die Bretagne oder die Toskana, also in beliebte Urlaubsregionen der krimilesenden Mittelschicht.

Dem Regiokrimi ganz ähnlich in Art und Ton sind Kriminalromane, die auf spezielle Zielgruppen zugeschnitten sind: Ob Katzen-, Hunde- oder Schweinekrimis, ermittelnde Holunderbüsche oder Krimis für Teetrinker, Gourmets und Weinliebhaber, die Liste ist nahezu endlos. Auch Thriller sind ein fester Bestandteil des deutschen Spannungsmainstreams, vielfach geformt nach angloamerikanischen Vorbildern und mit einem Trend zu immer drastischeren Mordmethoden und irrwitzigeren Wendungen.

Verflechtungen von Politik, Wirtschaft und Verbrechen

Jenseits der Bestsellerlisten bietet sich allerdings ein ganz anderes Bild. Im Juli 2015 steht zum zweiten Mal hintereinander »Havarie« von Merle Kröger an der Spitze der KrimiZEIT-Bestenliste, die monatlich von Kritikern und Krimiexperten erstellt wird. Der fast filmisch angelegte Roman greift die aktuelle Flüchtlingsfrage auf und belegt in seiner Konzentration und Komplexität, wie weit das Label Krimi gefasst werden kann.

Dass eine konkrete regionale Verortung nicht ins Banale führen muss, zeigen die Frankfurt-Krimis des 2013 verstorbenen Jakob Arjouni, die Romane von Christine Lehmann, die mit Lisa Nerz eine der spannendsten Frauenfiguren des deutschen Kriminalromans geschaffen hat, von Robert Hültner oder auch die historischen und zeitgenössischen Krimis von Robert Brack.

Prägend in Stil und Relevanz sind weiterhin Altmeister wie Frank Göhre, einer der wenigen Vertreter des Noir in Deutschland, oder Detlef B. Blettenberg mit seinen international angelegten Romanen über die Beziehungen von Wirtschaft, Politik und Verbrechen.

Einen Blick über nationale Grenzen und auf internationale Verflechtungen werfen auch Oliver Bottini in seinem aktuellen Thriller »Ein paar Tage Licht«, der das Thema Waffenhandel aufgreift, Bernhard Jaumann mit seinen in Namibia spielenden Romanen oder André Georgis Debüt »Tribunal«, ein Politthriller vor dem Hintergrund des Kosovo-Kriegs. Ausschließlich in London spielt Zoë Becks Roman »Schwarzblende« über Terrorismus und die Instrumentalisierung der Medien. Max Annas wiederum siedelt sein kammerspielartiges Debüt »Die Farm« in Südafrika an. Das scharfsichtige Porträt einer hochzerrissenen Gesellschaft wurde mit dem Deutschen Krimi Preis 2015 ausgezeichnet. Ein Solitär ist und bleibt Friedrich Ani, der in seinen Kriminalromanen den gesellschaftlich Ausgegrenzten eine Stimme gibt.

Literarische Auseinandersetzung mit der Realität

Gemeinsam ist diesen Autoren, dass sie den Kriminalroman als Genre ernst nehmen. Für sie ist der Krimi beziehungsweise der Thriller die geeignete Form, um Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Verbrechen in ihren Überschneidungen und Verschränkungen zu hinterfragen. »Die Autoren schöpfen das Potenzial von Kriminalliteratur aus«, so Sonja Hartl, Chefredakteurin des Magazins Polar Noir. Tobias Gohlis, Sprecher der Jury der KrimiZEIT-Bestenliste, betont: »Hier findet sich kein primitiver Abbildrealismus. Diese Autoren setzen sich mit avancierten literarischen Mitteln und thematisch völlig verschieden mit unserer Realität auseinander.«

Fachleute der Buchbranche sind überzeugt: Die wirklich guten deutschen Krimiautorinnen und -autoren experimentieren stärker denn je mit Sprache, Struktur und Themen und wenden sich zunehmend politischen und sozialen Frage zu. Dafür gibt es innerhalb der Leserschaft ein interessiertes Publikum, Tendenz steigend. Insgesamt scheint im deutschen Krimi angekommen zu sein, wie wichtig gutes Handwerk ist: Hinsichtlich Stil und Sprache, Plot und Figurenzeichnung lässt sich eine Professionalisierung feststellen. Der Blick über den Tellerrand in jede Richtung ist dabei selbstverständlich geworden. So ist für den Kritiker Ulrich Noller der Autor Zoran Drvenkar (»Still«) ein Beispiel für eine neue Generation von Schriftstellern, die ganz selbstverständlich in einem globalen Pop-Literatur-Kultur-Kontext operieren. Die Grenzen des Genres werden dabei immer weniger relevant, da es um eine Auseinandersetzung mit der Realität mit literarischen Mitteln geht – um Literatur also.

Kirsten Reimers

Links zum Thema:

KrimiZEIT-Bestenliste
Deutscher Krimi Preis
Polar Noir
Krimi-Couch
Das Syndikat – Autorengruppe deutschsprachige Kriminalliteratur
Hammett Krimibuchhandlung

Der Beitrag ist zuerst erschienen auf der Website des
Goethe-Instituts

Hier geht es zur englischen Version des Artikels.


Die Vergangenheit wirft lange, tödliche Schatten

Im Jahr 1943 hält es Fritz Kolbe nicht mehr aus: Er muss etwas gegen Hitler unternehmen. Als Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes kommt er an streng geheime, höchst brisante Dokumente – und diese gibt er von nun weiter an den OSS, den Nachrichtendienst des Kriegsministeriums der USA (und Vorläufer der CIA); darunter auch detaillierte Pläne der Wolfschanze, in der Hoffnung, dass die Amerikaner sie bombadieren und Hitler töten.

Unprätentiös und unaufdringlich nimmt sich Andreas Kollender in »Kolbe« der Geschichte des historischen Fritz Kolbe an, der in den letzten Kriegsjahren unentgeltlich als Agent für die Amerikaner ein Doppelleben führte. In einer Mischung aus Fakten und Fiktion schildert Kollender, wie aus zähneknirschendem, lähmenden Unbehagen aktiver Widerstand gegen das Naziregime wird – begleitet von Ängsten, Zweifeln und Hoffnung.

Kollender macht es sich nicht einfach, seine Figuren sind vielschichtig gezeichnet und handeln aus unterschiedlichsten Motiven – ganz gleich, auf welcher Seite sie stehen. Schlichte, beruhigende Antworten gibt es nicht, eindimensionale Helden erst recht nicht. Ein berührender Roman über Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten, über Mut, Feigheit, Verrat, Egoismus, Freundschaft und Liebe, geschrieben in einer fast schwerelosen Eleganz.

Tödliche Gegensätze

In Windhoek, Namibia, wird die Ehefrau des deutschen Botschafters entführt, als sie unterwegs ist mit einem kleinen Herero-Jungen, den das Paar adoptieren möchte. Zeitgleich wird in Freiburg im Breisgau das Grab ihres Großvaters geschändet, der als Mediziner, Anthropologe und »Rassenhygeniker« als Wegbereiter der nationalsozialistischen Rassentheorien gilt (und eine historische Figur ist). Parallel dazu fliegt eine Delegation von Hereros und Namas nach Berlin, um in der Charité Schädel ihrer Vorfahren entgegenzunehmen, die während der Kolonialzeit für Sammlungen und Museen in Namibia entwendet wurden – eine Veranstaltung, auf die ein Attentat geplant ist.

»Der lange Schatten« ist Bernhard Jaumanns dritter Kriminalroman um die namibische Polizistin Clemencia Garisis, die inzwischen selbstständig als Sicherheitsexpertin tätig ist. Jaumann, der selbst in Namibia lebte, verzichtet auf jegliche Folklore. Ihm geht es um die tatsächlichen Lebensbedingungen, die soziale Zerklüftungen, die ethnische Zersplitterung Namibias, das Aufeinandertreffen von Partikularinteressen, die die Stabilität des Landes ebenso untergraben wie die Korruption in Politik und Verwaltung – und um die Frage, wie weit man gehen darf in der Verfolgung idealistischer Ziele, im Kleinen wie im Großen. Dies geschieht unter anderem vor dem Hintergrund des brutalen Niederschlags des Aufstandes von Hereros und Namas 1904 durch die deutsche Kolonialmacht im damaligen Deutsch-Südwestafrika, der erst in diesem Sommer von der Bundesregierung als Völkermord anerkannt wurde.

Bernhard Jaumann schreibt unaufgeregt, stilistisch versiert, ohne Klischees, Bitterkeit, Betroffenheitsgestus und unnötige Provokationen. Das macht ihn zu einem der Besten des Genres.

Swinging, killing London

London Ende der sechziger Jahre – eine Gesellschaft im Umbruch: Hippies, Gurus, Künstler und die Abkehr von bürgerlichen Moralvorstellungen auf der einen Seite, Spießer und Kleingeister auf der anderen – und dann noch Macho-Polizisten, die sich als die »Kings of London« fühlen. William Shaw zeichnet in seinem gleichnamigen Kriminalroman eine Stadt, in der die unterschiedlichsten Kulturen aufeinander- und sich gegenseitig abstoßen. Dazwischen Detective Seargent Cathal Breen, eher zurückhaltend, etwas verklemmt, der gemeinsam mit seiner selbstbewussten und deutlich aufgeschlosseneren Kollegin Tozer den Mord an einem Politikersohn aufklären soll, der nicht ganz den Ansprüchen seines Vater entsprach.

Shaw, Musikjournalist und Kenner von Pop- und Subkulturen, setzt trotz schillernder Kulisse auf zurückhaltende Töne, unaufdringlich und glaubwürdig agieren seine Charaktere, die sehr menschlich gezeichnet sind. Sein London ist bunt und quirlig – aber auch verklemmt, kleingeistig und durchsetzt von einem Sexismus, der heute richtig wehtut. Alles in allem eine überzeugende Mischung aus Zeitporträt und Kriminalroman.

Kirsten Reimers

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Andreas Kollender: Kolbe
Pendragon 2015
kart., 446 Seiten, 16,99 Euro
ISBN 978-3-86532-489-4
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Bernhard Jaumann: Der lange Schatten
Kindler 2015
geb., 317 Seiten, 19,95 Euro
ISBN 978-3-463-40648-0
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William Shaw: Kings of London
(House of Knives, 2013)
Aus dem Englischen von Conny Lösch
Suhrkamp 2015
kart., 471 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-518-46610-0
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Frankfurter Neuen Presse