Stürzen und Verbrennen

Ende einer Kindheit

Moritz gehört zu den Dachsen. Deren Feinde sind die Füchse. Sie sind schon älter und besitzen Mofas, während sich die Dachse noch mit Fahrrädern begnügen müssen. Die Väter der Dachse arbeiten zumeist in der Süßwarenfabrik in Esge, dem tristen, gesichtslosen Vorort der kleinen, ebenso tristen Industriestadt Wedersen.

Wenn man auf der Hauptstraße an der Süßwaren- und dann an der Gummifabrik vorbeifährt, kommt man an der Eierfabrik vorüber und landet schließlich am Schlachthof. Es ist der größte in unserer Gegend und hat eine eigene Wurstfabrik. Nachts fahren wir oft mit unseren Rädern auf dem Parkplatz herum, wo die Kühlanlagen der Lkws brüllen. Wir spielen »Stürzen und Verbrennen«, und das Ziel ist, die anderen von ihren Fahrrädern herunterzustoßen. Wir dürfen treten und schlagen und versuchen, einander auszubremsen und in die geparkten Lastwagen abzudrängeln. Wir stellen uns vor, dass der Asphalt kochend heiß ist, und wenn einer von uns vom Rad fällt, ist er tot.

Moritz schildert in knappen, kargen Kapiteln den letzten Sommer seiner Kindheit. Bevor die Schule nach den Ferien wieder anfangen wird, wird alles vollkommen verändert sein. In sehr unaufgeregten und einfachen Worten beschreibt er das Leben Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre in der norddeutschen Provinz. Die Nazizeit und der Zweite Weltkrieg sind noch immer präsent, ohne das dies ausgesprochen werden muss. Die Menschen sind in ihrem Inneren so vernarbt wie die Landschaft, die von gesprengten und intakten Bunkern übersät ist. Nur wenig Gras ist über die verborgenen Räume gewachsen.

Zwischen Missbrauch und Vernachlässigung

Unter der sauberen Oberfläche herrscht Verrohung, emotionale Verwahrlosung. Unter dem Deckmantel der Ehe ist alles erlaubt – Saunapartys mit den Nachbarn, häusliche Gewalt, sexuelle Übergriffe auf die eigenen Kinder. Doch wehe, die minderjährige Tochter wird schwanger – das gilt als Schande, die sofort mit Zwangsheirat übertüncht werden muss. Dass dabei Lebensträume zerplatzen, wird mit kaum verhohlener Häme registriert – schließlich ging es der Elterngeneration nicht anders.

Die Angst vor der Schande eines unehelichen Kindes sitzt so tief, dass eine ledige Mutter die Tochter, die sie von einem anderweitig verheirateten Mann bekommen hat, über Jahre versteckt und wie ein Tier gefangen hält. Als die Dachse das Kind entdecken, entführen sie es und setzen damit eine Handlungskette in Gang, die schrecklich enden wird. Ein zweiter Erzählstrang, der sich damit unentrinnbar verknüpft, ist Moritz‘ erste Liebe Anna. Sie ist eigentlich mit Oliver von den Füchsen zusammen, geht aber auch auf Moritz zu. Wenn das publik wird, gibt es Krieg zwischen den Jugendbanden. Und in einer Kleinstadt, in der es nur die Eisdiele als Treffpunkt gibt, bleibt wenig verborgen.

Bigotterie und boshaft strenge soziale Kontrolle

Es ist eine einsame, grausame Welt, in der Kinder wie Erwachsene leben. Wärme ist nur selten zu spüren. Die soziale Kontrolle im kleinen Vorort ist boshaft und streng. Gewalt und Sex bestimmen das Denken und Handeln. Die Männer sind das unhinterfragte Oberhaupt der Familie, die Frauen ordnen sich ihnen unter, sexuell frustriert sind ihr Ventil die Kinder: die eigenen und die der Nachbarn.

Sie [die Mutter] kniet vor der Wanne und fischt mit ihrer rechten Hand nach meinem Schwanz. Sie zieht die Vorhaut zurück und rubbelt die Eichel mit ihrer Linken. »Du könntest sonst eine Infektion bekommen. Du weißt, wie du ihn anfassen musst.«
»Ja.«
»Wenn du ihn nicht anfasst, wird er nicht wachsen.« Mein Schwanz ist hart und sie lächelt mich an. »Das ist gut so.«

Die Kinder werden kaum wahrgenommen, es sei denn als Sexobjekt. Sie rangieren in der Sozialordnung ganz unten. Es gibt niemanden, dem sie trauen können. So ist es kein Wunder, wenn sie sich zu Banden zusammenschließen. Zumindest innerhalb der Gruppen gibt es ein Mindestmaß an Solidarität. Dies darf allerdings nicht überstrapaziert werden – Raum für Offenheit und Gefühle gibt es auch hier nicht. Das Verhältnis zu Kindern außerhalb der eigenen Clique ist von roher Gewalt geprägt. Moritz ist da keine Ausnahme, er wird das Opfer von Aggression, er teilt aber auch aus: Zusammen mit seinen Freunden hat er einen Mitschüler gefoltert, der ihn zuvor gequält hatte.

Beklemmend, atemberaubend, realistisch

Gerade einmal 111 Seiten braucht Stefan Kiesbye, um diese Geschichte zu erzählen – kein Wort zu viel, keines zu wenig. Sehr durchdachte, genau abgewogene Bilder und Handlungen gewinnen gnadenlose Konturen durch die stilsicher auf das Geschehen abgestimmte Sprache. In einfachen Sätzen, die im ersten Augenblick naiv wirken, aber in ihrer Desillusionierung alles Kindliche eingebüßt haben, schildert Kiesbye eine Gesellschaft, die unter der blankgeputzten Oberfläche jede Mitmenschlichkeit verloren hat.

Sollten sie jemals die Leiche finden, wird es für Fingerabdrücke zu spät sein. Aber wahrscheinlich wird sie dort ungestört ruhen, während wir anderen erwachsen werden.

Zum Schneiden dicht ist die bedrohliche Atmosphäre, die Kiesbye in seinen kurzen, schlaglichtartigen Kapiteln heraufbeschwört. So beklemmend und so realistisch, dass einem beim Lesen die Luft wegbleibt.

Seit Anfang des Jahres steht »Nebenan ein Mädchen« auf der Krimiwelt-Bestenliste, inzwischen auf Platz drei. Hochverdient. Für Autor und Verlag. Der Autor, Stefan Kiesbye, aufgewachsen in Norddeutschland, lebt heute in Los Angeles. So erschien sein Roman zunächst auf Englisch in den USA: »Next Door Lived A Girl«, im Jahr 2004. Kiesbye erhielt dafür den Low Fidelity Press Award. Für die Veröffentlichung auf Deutsch übernahm der Autor selbst die Übersetzung. Zum Glück, denn so bleibt die Kraft dieses Textes spürbar. Atemberaubend – noch über Tage hinaus.

Kirsten Reimers

Stefan Kiesbye: Nebenan ein Mädchen
Jens Seeling Verlag 2008, Broschur, 111 Seiten, 10,80 Euro
ISBN: 978-3-938973-09-7

 

Diese Rezension ist auch erschienen auf satt.org