»Von einer Minigolfbahn des Lebens zur nächsten«

Gibt es Perfektion in der Welt?

Zwangscharaktere haben es nicht leicht. Auch wenn andere spotten: Man darf die Herausforderung Zwangshandlung nicht unterschätzen. Die Ordnung, die man sich mühsam aufbaut, ist stets in Gefahr. Immer wieder wird sie durch andere, durch Zufälle, durch höhere Mächte zerstört. Aber manchmal gibt es Trost. Zum Beispiel durch den Roman von Heinrich Steinfest. Denn er bestätigt: Das Wohl der Welt kann von der Vollständigkeit einer Plastikfigurensammlung abhängen. Fehlt eine Figur, gerät alles ins Wanken.

Bei Steinfest ist es eine Giraffe, die durch ihre Entwendung die Welt verwirrt. Natürlich ist es keine Giraffe, sondern ein Affe im Giraffenkostüm. Eine kleine Plastikfigur, zentraler Bestandteil eines Überraschungseis für Erwachsene.

Nichts ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Oder auf den zweiten.

Aber: Was ist überhaupt? Wie die Löcher in den Wänden – die hinter den Bildern. Manche führen tief bis ins Mauerwerk. Manche nicht. Sie sind der Grund, warum Bilder an die Wand gehängt werden. Schon mal ein Bild umgehängt? Na, genau. Das macht man nicht wegen der Löcher dahinter. Aber mitunter bewegen sich die Löcher. Dann kann man Bilder auch umhängen.

Das behauptet zumindest Dr. Grünberg, der undurchsichtige Anwalt, den Kommissar Lukastik wegen der Unregelmäßigkeiten in der Fabrik am Rande von Hiltroff aufsucht. Beziehungsweise wegen der Plastikfigur, die eigentlich in der Wohnung des Taxifahrers stehen sollte, die aber Olander eingesteckt hat.

Damit lässt Vinzent Olander die Fabrik in eine Schieflage rutschen. Und er selbst rutscht auch, nämlich in den mittelgroßen Bergsee, der von den Hiltroffern »Mariaschwarz« genannt wird wegen seines schwarzen Wassers.

Niemand hatte je so schwarzes Wasser gesehen, obgleich dieses Schwarz nicht teerig wirkte, sondern die Durchsichtigkeit einer glasklaren Flüssigkeit besaß – komprimiertes Wasser, dicht gedrängt, ein geschrumpfter Ozean. Manche im Ort sagten dazu »intelligentes Wasser«, ohne das näher zu erklären. Andere wiederum fanden, daß sich in diesem See nicht der Himmel, sondern – durch den Nebel hindurch – das Weltall spiegelte, ein im Prinzip leeres Weltall.

Auch der See gilt als leer, als tot (aber als schöner toter See). Bis ein Ungeheuer darin gesichtet wird. Doch das herbeigeholte Forschungs-U-Boot aus Deutschland entdeckt keine Seeschlange, befördert dafür aber ein Skelett zutage. Dies ruft den unbestechlichen Wiener Kommissar Lukastik herbei, der schon in Steinfests »Nervöse Fische« ermittelte. Inzwischen hat er sich von Wittgenstein abgewandt, dafür wird er sich im Laufe dieses Buches seiner Schwester zuwenden.

»Eine Bar ist wie ein Rollstuhl, der nicht rollen kann«

Von vornherein verdächtig wirkt Vinzent Olander. Bis dieser in den See fiel und von seinem Wirt Job Grong gerettet wurde, führte Olander die perfekte Beziehung mit Grong, die makellose Symbiose zwischen Gast und Wirt. Ohne überflüssige Worte, ohne aufwühlende Nähe, denn sie konzentriert sich einzig auf das Objekt, das die Verbindung besiegelt: das gefüllte Glas. Doch mit der Lebensrettung verschieben sich die Dinge, und Olander erzählt Grong seine Geschichte.

Seit drei Jahren verharrt Olander in dem kleinen österreichischen Ort Hiltroff, der nicht gerade ein Touristenmagnet ist: »Trotz exponierter Lage des Ortes. Beziehungsweise genau darum. Hiltroff lag hoch oben in einer stark verkarsteten Gegend, in der es häufig regnete und sich ständig der Nebel verfing, ein hellgrauer Nebel, durch den die Lichtstrahlen wie Suchscheinwerfer fielen.«

Früher war Olander ein erfolgreicher Geschäftsmann, heute macht er einen eher vernachlässigten Eindruck. Vor drei Jahren brach seine Welt zusammen, als seine sechsjährige Tochter nach einem Autounfall in Mailand verschwand – dabei starb der Taxifahrer, in dessen Wohnung Olander später die Giraffe, die ein Affe ist, einsteckte. Es gibt Hinweise, dass die kleine Clara nach Hiltroff gebracht wurde. Seitdem wartet Olander in Hiltroff auf ein Lebenszeichen und trinkt sich jeden Abend bettschwer. Damit beginnt der Roman »Mariaschwarz«.

Neue Vermutungen über den See im See

Dank der Hartnäckig- und Unbestechlichkeit von Kommissar Lukastik werden die Hintergründe des Unfalls und des Verschwindens von Clara wieder aufgerollt. Er kann auch bald erste Erfolge vorweisen – zum Beispiel, dass Olander gar keine Tochter hatte. Und das hier eigentlich gar kein Fall vorliegt.

Aus diesem Grund wird auch nicht viel gelöst von den Geheim- und Wirrnissen, die Steinfest in »Mariaschwarz« aufwirft. Dafür kommt anderes zur Sprache, wird anderes erklärt, das Leben zum Beispiel, die Löcher in der Wand oder die Bedeutung von Thomas Bernhard für Österreich, um nur Weniges zu nennen. Nach einem dynamischen Anfang mäandert die Handlung schließlich in großen Schwüngen, die bei aller Disparität irgendwie zusammengehören. Das ist faszinierend und auch irritierend – und zusammen mit der eigentlich ganz schlichten Sprache, die sich zu verblüffenden Zusammenstellungen und weltweisen Aphorismen verbiegen lässt, ist das Buch ein sehr eigenes Erlebnis. Manchmal begeisternd, mitunter nervend, streckenweise so manieriert im Ton, dass man es beiseite legen möchte – und doch so zwingend-absurd, dass man gefangen bleibt.

»Schon gut«, sagte Lukastik mit einem Lächeln, als verbiege er mit den Lippen einen Kaffeelöffel.

Und bei aller Brüchigkeit der Welt: Es sind die Zwangscharaktere, die sie zusammenhalten. Darum ist es auch Vinzent Olander – der in Hiltroff jeden Abend eine genau bemessene Menge Alkohol in festgelegter Reihenfolge trinkt: zwei Gläser Portwein, zwei Gläser Fernet Branca Menta, zwei Gläser Quittenschnaps, zwei Gläser Whisky von der Insel Holyhead -, darum ist es der bemessene Alkoholiker Olander, der schließlich durch seine Sorge um die Plastikfiguren das Gleichgewicht der Welt wieder hält: »Dies war ein Reaktorkern, welcher Glück produzierte. Zumindest war das Olanders Überzeugung«.

Kirsten Reimers

Heinrich Steinfest: Mariaschwarz
Piper Verlag 2008, 317 Seiten, 16,90 Euro
ISBN: 978-3-492-05180-4
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

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Dicklich, blässlich, tödlich

Ausbruchsversuche mit Fonduegabel

Klein, dick, blass, mit rötlichen Haaren, so hockt der Bankangestellte hinter Panzerglas in seinem Kassenraum. Wie in einem Aquarium. Er blickt auf die Welt, und sie blickt nicht zurück. Ebenso gefangen und abgeschottet ist er in seinem Körper, den er so sehr hasst.

Ich sehe aus wie ein Schwein. (…) Der kleine Pimmel baumelt da unten rum, fast ganz versteckt zwischen den hell- orangen Schamhaaren. Von der Seite wird es auch nicht besser. Wenn ich den Bauch einziehe, tut sich überhaupt nichts. Dafür bekomme ich jetzt Haare auf den Schultern.

Dabei wäre er so gern wie die anderen in der Bank: schlank, solariumsgebräunt, fitnessstudiogestählt. Kurz: begehrenswert. Doch in der Hierarchie der potenziellen Geschlechtspartner rangiert er ganz unten. Für die Männer kein Konkurrent, für die Frauen kein erwägenswerter Partner. Die Einzige, die ihn will, die will er nicht, denn Marlene ist wie er dick und riecht nach Schweiß. Lieber wäre dem namenlosen Bankangestellten die zarte, dunkelhaarige Yvonne, die nach »Shalimar« duftet. Oder auch die blonde Daphne. Weil er an diese Elfen nicht herankommt, wählt er einen anderen Weg, um zumindest als Trostspender einen Zugang zu ihnen zu finden: Er tötet ihre Liebhaber.

Ich muss zugeben, dass das, was ich ihm nun verabreichte, nicht mehr als Schubser durchgehen kann.
Seltsamerweise schien er überhaupt nicht erstaunt zu sein über das, was mit ihm geschah. Im Laufe der letzten Tage habe ich mich mit mir selbst darauf geeinigt, dass in seinem Gesicht keine Überraschung zu erkennen war … aber ein Lächeln.
Vielleicht hielt er es für einen Scherz? Einen freundlichen Knuffer? Die knapp zehn Meter brachte er jedenfalls im freien Fall hinter sich.
So einfach geht das. So leicht. Ich war überrascht! Falls er die Gelegenheit genutzt hat, mein Gesucht zu studieren, hätte ihm auffallen müssen, dass ich überrascht war.
Hat er deshalb gelächelt?

Seine Morde sind eher unspektakulär – ein kräftiger Schubs, ein Stich mit der Fonduegabel, ein Stoß vor die Straßenbahn -, aber auch wirkungslos. Sie bringen ihm weder Yvonne noch Daphne näher, niemand beachtet ihn – nur Marlene rückt Stück für Stück an ihn heran. Nicht einmal die Polizei nimmt ihn als potenziellen Täter ernst.

Einer, den man auch auf den zweiten Blick nicht bemerkt

Mit Akribie beschreibt Autor Philipp Moog den Ekel des Bankangestellten vor dem eignen Körper und öffnet damit ganze Kellergewölbe des Selbsthasses.

Meine Oberschenkel reibend stoßend aneinander, mein Bauch versucht, meinen Körper mit kreisenden Bewegungen aus dem Gleichgewicht zu bringen, während meine Hängetitten ihren ganz eigenen Rhythmus gefunden haben und mir abwechselnd auf die Wampe klatschen. Ich möchte das nicht in Zeitlupe sehen.

In Tagebuchform ist die Selbstverachtung des »dicken Männchens«, wie er sich selbst nennt, en détail festgehalten. Die Bank ist sein Kosmos, einsam und isoliert sitzt er in seinem Aquarium, am Wochenende geht er mitunter in den Zoo, um »unsere Gefangenen« zu besuchen. Endlich mal die Rollen wechseln. Besonders angetan hat es dem namenlosen Dicken der Vari, eine Affenart, die auf Madagaskar lebt und das »Ergebnis eines spektakulären Anpassungsprozesses« ist, wie es im Buch heißt. Nachts schreit der Vari, und das klingt »ohne Übertreibung wie das schauerliche Lachen eines Irrsinnigen«.

Im Vari erkennt sich der Dicke wieder. Wie das Tier ist der Bankangestellte bis zur Unkenntlichkeit eingeschmiegt in seine Umwelt, hat ihre Wertmaßstäbe übernommen, sieht sich stets mit den Augen der anderen, die doch immer seine eigenen sind. Seine Versuche, aus dem Körpergefängnis auszubrechen und sich den anderen anzunähern – Diät, neue Haarfarbe, Mord – scheitern. Stattdessen verliert das dicke Männchen immer mehr seine Grenzen, spricht immer häufiger in der dritten Person voll Verachtung von sich, bis er sich schließlich ganz auflöst. Auf den letzten Seiten verschmelzen Realität und Traum, sodass auch das bisherige Geschehen eine andere Färbung findet und zwei unterschiedliche Schlüsse denkbar sind.

Zwischen Faszination und Abscheu

Unaufgeregt und dank der Tagebuchform ohne deutende Kommentare schreibt Philipp Moog mit Intensität und Zynismus. Sehr schwarzhumorig und mit scharfem Blick für alltägliche Absurditäten (nie wieder Cola light zum Mettwurstbrot) ist sein Erstlingswerk gelungen. Der Schauspieler und Drehbuchautor – Fotos nach zu urteilen eher markant und schlank – fühlt sich erstaunlich lebendig und komplex in seine Hauptfigur ein. Mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu folgt man dem Bankangestellten, leidet mit ihm, während man gleichzeitig erleichtert-entsetzt gluckst.

Sehr schön abgerundet wird der Roman durch die Danksagung, in der sich Moog vor all den Kellnerinnen und Kellnern verbeugt, die ihm eine zweite Kerze auf den Tisch stellten – damit er sich »beim Schreiben nicht die Augen verdarb« -, entstand doch der Großteil des Romans in verschiedenen Restaurants. Ein kleiner, feiner, bitterböser Roman.

Kirsten Reimers

Philipp Moog: Lebenslänglich
DuMont Buchverlag 2008, 191 Seiten, 17,90 Euro
ISBN: 978-3-8321-8075-1
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

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»Gute Kriminalliteratur hat zu schmutzen, zu ätzen, zu spotten und zu speien«

Aufsätze, Artikel, Vorträge zur Kriminalliteratur aus fünfzehn Jahren

»Kriminalliteratur ist die Literatur, die – weltweit gesehen – am meisten gelesen wird«, stellt Thomas Wörtche gleich zu Beginn seines Buches »Das Mörderische neben dem Leben« fest. Trotzdem gehört Kriminalliteratur zu der Literatur, die am wenigsten ernst genommen wird – als Literatur. Die Literaturwissenschaft begegnet dem Krimi bis heute mit Skepsis; immer wieder sind Krimibesprechungen aus diesem Lager wirklich amüsant: Mit Erstaunen wird dort ein ums andere Mal konstatiert, dass das tatsächlich Geschriebene ganz anders ist als die Theorie! Jeder Krimi ein Regelbruch! Das überfordert die Literaturwissenschaft, für die der Krimi in all seinen Subformen zumeist etwas Starres zu sein hat. Außerdem gibt es natürlich noch die Kritikerschar, die sich an eine breite Leserschaft wendet. Sie ist zumeist etwas flexibler und geht mehr vom gerade gelesenen Buch als von theoretischen Über- oder Unterbauten aus. Aber auch in diesen Kreisen ist der Umgang mit Kriminalliteratur eher nebensächlich. Krimis werden meist nur danach beurteilt, ob sie unterhaltsam und spannend sind. Wie schade! Da steckt doch sehr viel mehr drin.

Gewalt und Verbrechen als soziale Interaktion

Zum Glück gibt es Thomas Wörtche, der – belesen, scharfsichtig, eloquent – sich schon seit Jahren, Jahrzehnten mit Kriminalliteratur als Literatur beschäftigt – nicht nur, aber auch und viel. »Das Mörderische neben dem Leben« vereint erstmals veröffentlichte wie unveröffentlichte Aufsätze, Artikel, Vorträge aus rund fünfzehn Jahren, dazu kommen Texte, die extra für dieses Buch verfasst wurden.

Thomas Wörtche geht nicht davon aus, definieren zu können, was ein Krimi ist und worin der Unterschied zum Nicht-Krimi liegt: »Die Kriminalliteratur ist, genauer betrachtet, keine Form. Sie ist nicht die ›eine Form‹. Das ist ein Missverständnis.« Dadurch bleibt er offen für die unterschiedlichsten Spielformen, für Entwicklungen und Untertöne. Es geht in den Beiträgen zum Beispiel um den oft unterschätzen Eric Ambler, um den kategoriensprengenden George Simenon, um Chester Himes, seine unterschiedlichen Schreibrichtungen sowie deren Wahrnehmung, um Patricia Highmiths Mr. Ripley. Es gibt Überlegungen zum Verhältnis des Mörderischen zum Komischen – nicht zu verwechseln mit dem Humorigen -, zur Universalität das Konzeptes Krimi, das weltweit relativ problemlos verstanden wird, zum Unterschied von Krimi und Kriminalliteratur, zu den Beziehungen von Kriminalliteratur und Science Fiction, zum Zusammenhang von Gewalt und Musik. Außerdem gibt es einen Text zur Entstehung und Konzeption der Reihe metro im Unionsverlag, deren Herausgeber Thomas Wörtche bis 2007 war, TWs seltsame Rankings und einen Beitrag zu der verstörenden Ästhetik des argentinischen Zeichners Alberto Breccio.

Der Kriminalroman als Verständigung über Gesellschaft

Wörtches zugrunde liegende Überzeugung ist, dass die überall präsente, überall erfahrbare Gewalt – und sei es nur in ihrer medialen Vermittlung – ihren Widerhall im Kriminalroman findet. Gewalt und Verbrechen sind die Generalthemen der Kriminalliteratur – und zwar als soziale Interaktion zwischen Menschen. Auf diese Weise ist Kriminalliteratur ein Mittel zur Gesellschaftsanalyse und zur Kommunikation über Gesellschaft. Damit dient der Krimi auch zur Einübung eines nicht-naiven Denkens: »[…] weil für den Umgang mit der Welt, in der wir leben, das Bewusstsein dafür nicht ganz unerheblich ist, dass Gewalt und Verbrechen konstitutiver Bestandteil menschlichen Zusammenlebens sind.«

Kriminalliteratur verdoppelt nicht einfach Realitäten, indem sie versucht, möglichst einfach abzubilden; Kriminalliteratur versucht vielmehr, möglichst viele Dimensionen und Facetten von Realität zu artikulieren. […]
Die besten Kriminalromane sind nach all dem Gesagten vermutlich die, die auf der Basis einer penibel genauen Wirklichkeitsbeobachtung die Realität poetisch zum Leuchten bringen.

Das Mitdenken von Gesellschaft bewahrt Wörtche vor Dogmatik. Und ermöglicht – neben der Freude an den intelligenten Beiträgen – das Beste dieses Buches: Die Aufsätze, Artikel, Vorträge regen zum Nachdenken, zum Hinterhergrübeln, zum begeisterten Zustimmen (Endlich sagt das mal jemand!) und zum Widersprechen an. Sie sind Reibungsflächen. Das schärft die eigene Wahrnehmung und lädt ein, die eigenen Kategorien und Wertmaßstäbe mal wieder durchzumustern, auszuschütteln, neu zu sortieren. Allein störend ist die Abwesenheit von Frauen als Autorinnen von Kriminalliteratur. Zwar werden Liza Cody oder Pieke Biermann am Rande erwähnt, Sara Paretsky kaum gestreift, natürlich auch Highsmith genannt (eher ambivalent) – aber es gibt doch deutlich mehr Frauen, die gute Kriminalromane schreiben, in denen Realität und Gesellschaft eine Rolle spielen. Ein blinder Fleck? Auf jeden Fall ein Katalysator zum Darüber-hinaus-Denken.

Kirsten Reimers

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Thomas Wörtche: Das Mörderische neben dem Leben
Libelle Verlag 2008, 203 Seiten, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-905707-21-2

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Gemetzel mit Mission?

Leichenteile und Blutlachen mit unklarem Auftrag

Der Rezensent eines großen Magazins war schwer beeindruckt von diesem Thriller. Er lobte das Wagnis Slaughters, entfernt vom Mainstream mutig facettenreiche Personen in fesselnder, ungewöhnlicher Handlung agieren zu lassen. Große Worte. Hatte ich bei meiner bisherigen Lektüre von Büchern dieser Autorin etwas übersehen? Bislang hatte ich zwei Thriller von Slaughter gelesen und sie unnötig grausam sowie ziemlich selbstgerecht gefunden. Doch vielleicht war dieser Thriller wirklich anders. Immerhin gehört er nicht zu Slaughters »Grand-County«-Serie. Also: Wer weiß, vielleicht hatte sie diesmal tatsächlich andere Töne angeschlagen.

Die ersten Seiten ließen mich schlucken: Es beginnt heftig. Eine Prostituierte wird ermordet im Hausflur vor ihrer Wohnung gefunden – brutal zusammengeschlagen, in grotesker Haltung zurückgelassen. Die Zunge wurde ihr herausgebissen (!), daran ist sie wohl verblutet. Das Körperteil liegt in einer Blutlache neben der Toten. Der Detailreichtum ist beeindruckend, die Wortwahl drastisch. Die Handlung wird geschildert aus Sicht des Detectives, der zum Tatort gerufen wird. Schon mal ein grausiger Auftakt. Nach rund 70 Seiten endet dieser erste Teil mit einem Paukenschlag, der das bisher erzählte in einem anderen Licht erscheinen lässt.

Der nächste Teil beginnt: Perspektivenwechsel. Nun ist es ein gerade aus dem Gefängnis entlassener Vergewaltiger und Mörder, auf dem der Fokus liegt. Kurz hinter Seite 200 startet der dritte Teil des Thrillers. Diesmal wechselt die Perspektive je nach Bedarf, viel wird allerdings aus Sicht eines Sonderermittlers und einer Polizistin geschildert.

Ist Zweidimensionalität schon Vielschichtigkeit?

Perspektivenwechsel, durch die Personen und ihre Handlungen in ein neues Licht gestellt werden – okay, das ist interessant, kann es zumindest sein. Und die Figuren sind durchaus – hm. Vielschichtig wäre jetzt zu viel gesagt. Also anders herum: Der Originaltitel lautet »Triptych«: Triptychon, dieses dreiteilige Gemälde, das aus einem Mittelteil und zwei Flügeln besteht, die man zuklappen kann. Auf der Außenseite der Flügel befindet sich auch ein Bild. Zunächst sieht man also das Außenbild – und wenn man die Flügel öffnet, zeigt sich etwas ganz anderes. So ist auch mit den Figuren in diesem Buch. Mit allen. Das Bild, das die Außenwelt gewinnt, entspricht nicht dem, was im Inneren der Personen stattfindet.

Nun macht aber ein Unterschied zwischen außen und innen noch keine Vielschichtigkeit, höchstens eine Zweidimensionalität. Und viel mehr ist da dann auch nicht. Abgesehen davon, dass bei mindestens drei Figuren dieses Prinzip genutzt wird, um noch mehr Gewalt und Grausamkeit unterzubringen. Die haben nämlich in ihrer Vergangenheit unglaubliches Leid, brutalsten Missbrauch erlebt. Und das wird ausführlich geschildert. Die Wendung »gebrochene Helden« bekommt eine ganz neue Färbung. Bei einer vierten Figur wird das Prinzip des Triptychons genutzt, um hinter der vertrauenserweckenden Fassade widerwärtigste Gräueltaten zu begehen.

Einen starker Magen – das braucht man durchaus, wenn man Bücher von Karin Slaughter liest. Der Name ist übrigens kein Pseudonym. Aber Slaughter gibt sich dennoch alle Mühe, ihm gerecht zu werden. Leichenteile und Körperflüssigkeiten, wohin man blickt.

Blut für höhere Ziele?

Karin Slaughter legt Wert darauf, dass sie ein Anliegen hat. In einem Interview anlässlich des Erscheinens von »Verstummt« sagt sie, sie beschreibe Gewalt nicht um der Gewalt willen, »und zwischen ihren hellen Augen bildet sich eine kleine Falte. Darstellung von Gewalt ›ist ein Instrument, um über soziale Missstände zu sprechen‹. Vor allem will sie auf Gewalt gegen Frauen hinweisen.« Diesem letzten Satz kann man nicht widersprechen, das tut sie: Vielen Frauen werden in ihren Büchern Gewalt angetan, und das nicht zu knapp. Aber stößt Slaughter damit Diskussionen über soziale Missstände an? Bekannt geworden ist sie eher wegen der Brutalität ihrer Krimis. Die Diskussionen drehen sich meist mehr um die Frage, wie weit Literatur in der Darstellung von Gewalt gehen darf.

Das liegt auch daran, dass Slaughter keinen gesellschaftlichen oder gar sozialpsychologischen Aspekt in ihre Thriller hineinbringt – wie auch immer der geartet sein mag. Die Figuren sind gemein und brutal, weil sie es nun einmal sind. Punkt. Im vorliegenden Buch ist der Täter einfach böse. Durch und durch böse. Warum? Mehrfaches Schulterzucken. Er quält halt Frauen gern, er mag das. Punkt. So steht es auch um die Gewalt, die die »gebrochenen« Figuren erlebt haben: Die wurden misshandelt von Menschen, die halt böse sind und eben andere gern misshandeln.

Außerdem werden die Bösen bei Slaughter stets geschnappt, in vielen Fällen entgehen sie einer Gerichtsverhandlung, indem sie vorher getötet werden. Am Ende ist also alles gut, und niemand muss sich mit den Ursachen der Gewalt auseinandersetzen. Böses tot, Welt gerettet, Buch zu, entspannt zurücklehnen.

Mittel und Zweck – da war was, oder?

Nun muss eine Thrillerautorin nicht mit sozialpsychologischen Theorien und Erlösungsvorschlägen für eine brutale Welt aufwarten. Doch ohne konkreten Standpunkt zur Gesellschaft, ohne durchdachten Blickwinkel lassen sich nun mal keine sozialen Missstände aufzeigen. Angesichts der Gewalt, die Slaughter schildert, kann man nur mit den Schultern zucken und feststellen: »Ja, es gibt Gewalt. Es gibt Gewalt gegen Frauen, es gibt Gewalt gegen Kinder, es gibt Gewalt gegen Männer.« Das löst aber keine Diskussion aus. Das beschreibt einen Zustand – und auch den nur eindimensional, dafür aber diese eine Dimension mit so viel Akribie, dass der Verdacht keimt, es wird Gewalt um der Gewalt willen beschrieben. Oder nein, wahrscheinlich hat Frau Slaughter recht: Sie macht das nicht um der Gewalt willen. Aber um der Verkäuflichkeit.

Karin Slaughter beherrscht das Handwerk des Schreibens, keine Frage. Sie erzählt ihre Geschichten routiniert, hat die unterschiedlichen Stränge meist im Griff, schildert anschaulich und spannend (um nicht zu sagen: lebendig, wenn das nicht so morbide wäre). Aber die gewählten Mittel entsprechen nicht dem anvisierten Zweck (Stirnfalte! Ernsthaftigkeit!). Im Gegenteil: Die Bücher werden nicht als Kommentar zur Gesellschaft wahrgenommen, lassen sich gar nicht als solcher wahrnehmen, sondern als brutale Schocker. Das verkauft sich nun mal besser.

Kirsten Reimers

Karin Slaughter: Verstummt
Aus dem amerikanischen Englisch von Klaus Berr
Blanvalet Verlag, 512 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-7645-0266-9
auch erhältlich als eBook (hier klicken)
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»Kommen wird der Tod, und er wird deine Augen haben«

Das Herz des Disparaten

Früher war Dave ein Agent im Dienst einer geheimniskrämerischen US-Regierungsorganisation, Teil eines Sonderkommandos, eine Killermaschine, die undercover in sehr speziellen Fällen eingesetzt wurde: Diktatoren entfernen, kooperative Militärjuntas mit Waffen versorgen, Attentate, Regierungsstürze. Sein Leben war eine Funktion für die Agency, mit wechselnden Identitäten. Vor neun Jahren war der letzte Einsatz. Inzwischen hat er sich ein eigenes Leben aufgebaut. Doch ein Telefonanruf ändert alles: Offenbar hinterlässt ein Agent, ebenfalls Teil jenes Sonderkommandos, eine Blutspur, die quer durch die USA führt. Dave soll ihn aufspüren und stoppen. Damit verschiebt sich alles: Das Leben, das er sich geschaffen hat, muss er mit einem Schlag abstreifen, die Bindungen, die er eingegangen ist, muss er kappen. Stattdessen ist die vergangene Existenz mit seinen antrainierten Fertigkeiten wie aus dem Nichts wieder da: das Leben als Tötungsapparat ohne eigene Konturen im Dienste Dritter.

Die Jagd, die nun beginnt, führt durch Städte und Staaten. Doch wer Jäger und wer Gejagter ist, verliert sich mehr und mehr. Aus dem Agententhriller wird ein Roadmovie, melancholisch und harsch, der zunehmend einer Traumlogik folgt. Es wird eine Reise in Daves Vergangenheit, in der er sich mehrfach selbst begegnet – als Killer, als Lebensretter -, in sich, aber auch in anderen. Identitäten verschwimmen, Gegnerschaften, Zusammenhänge – alles verbindet sich und verliert seine Grenzen, um neue zu gewinnen.

»Die Straße gibt uns Erlösung, bestätigt die Diskontinuitäten unseres Lebens aufs Neue«

Ein ungewöhnlicher Thriller: poetisch und rasant, fesselnd und beklemmend. Gleichzeitig auch eine Würdigung Cesare Paveses, eines seiner letzten Gedichte kling im Titel an. Sallis‘ Sprache ist lakonisch, knapp, spröde, beinah brüchig, wie die Identitäten, wie der Zusammenhang von Gegenwart und Vergangenheit, den er formt.

Um zu entdecken, was wir wissen, müssen wir nur entscheiden, was wir nicht sehen werden. Meine Erinnerungen können sehr wohl falsch sein, aber sie würden letztendlich genauso dienlich sein wie alle anderen. Jeden Tag rekonstruieren wir uns aus dem Bergungsgut unserer vorherigen Tage.
Als Agent lebte Dave mit geborgten Identitäten, nachdem er sich zurückgezogen hat, baut er ein Leben als Künstler auf: Er formt Skulpturen aus verschiedenen Materialen. Und so formt er schließlich auch sein Leben, fügt Disparate zusammen. Und das nicht in einer Macho-ich-allein-gegen-die-Welt-Haltung, sondern es finden auch Musik, bildende Kunst, Literatur und andere Menschen einen Platz darin.

James Sallis ist nicht nur Schriftsteller (und Träger des Deutschen Krimipreises 2008 für »Driver«), sondern auch Dichter, Kritiker, Lektor, Musiker und Übersetzer. Das merkt man diesem Buch an: der kunstvollen Sprache, der beklemmenden, irritierenden Atmosphäre, dem Plot, der nach innen führt: ins Herz von Amerika, ins Herz des Agenten. Und dort findet er nicht nur Verrat und Tod, sondern auch Freundschaft und Liebe, nebeneinander.

Sallis‘ Roman ist 1999 schon einmal auf Deutsch erschienen, doch damals ging er unter. Nun hat der kleine, feine Verlag Liebeskind es erneut gewagt – zum Glück. Denn »Deine Augen hat der Tod« zeigt neben dem sehr stringenten »Driver« die Bandbreite von Sallis‘ Schaffen. Und das ist, wie ein Leben, nicht in einer Schublade zu fassen.

Kirsten Reimers

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James Sallis: Deine Augen hat der Tod
Ein Roman über Spione
Aus dem Englischen von Bernd W. Holzrichter
Liebeskind 2008, 191 Seiten, 16,90 Euro
ISBN: 978-3-935890-56-4

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