»Machen bald die Äuglein zu …«

Und zwar endgültig

Stuart MacBride hat das Versprechen, das er in seinem letzten Krimi gegeben hat, gehalten: Das neue Buch spielt im Hochsommer. Aberdeen ist getaucht in Sonnenschein und Hitze. Der Granit glänzt golden in der Sonne. Doch die Sonnenstrahlen lassen die Abgründe der schottischen Stadt nur umso deutlicher hervortreten. Und auch Detective Sergeant Logan McRaes Gemüts- verfassung steht im deutlichen Gegensatz zum schönen Wetter: Seit der Serienmörder- jagd im letzten Krimi – »Blut und Knochen« (2009) – aus nur zu verständlichem Grund Vegetarier, von Schlaflosigkeit geplagt, überfallen ihn sogar tagsüber Alpträume und Panikattacken. Am liebsten würde er sich nur noch betrinken, um nichts mehr zu spüren. Der einzige Lichtblick in diesem Sommer ist die Stelle eines Detective Inspector, die es neu zu besetzen gilt. McRae hat durchaus Chancen auf diese Beförderung – wenn er nicht allzu viel Mist baut.

Eine Chance, sich zu profilieren, bietet der neue Fall, der Aberdeen erschüttert: Jemand schneidet Mitgliedern der polnischen Gemeinde bei vollem Bewusstsein die Augen heraus. Die Opfer überleben die Blendung zwar, wollen aber – starr vor Angst – nicht sagen, wer ihnen das angetan hat. Eine Spur darf DS McRae bis nach Polen verfolgen: Dies bringt ihn nach Nova Huta, einem Stadtteil von Krakau (und hier regnet’s dann auch wieder). Doch statt wirklich hilfreicher Erkenntnisse beschert dieser Dienstausflug dem reichlich angeschlagenen DS vor allem weitere Alpträume. Und zu allem Überfluss rutscht er in eine fatale Zwickmühle.

Die schottische Version der schlimmstmöglichen Wendung

»Blinde Zeugen« (im Original »Blind Eyes«) ist MacBrides fünfter Krimi um den vom Pech verfolgten DS: Der ist eigentlich recht clever und innerhalb der Gurkentruppe der Aberdeener Polizei einer der wenigen, die etwas hinbekommen. Aber irgendetwas läuft immer quer, sodass für ihn am Ende nur wenige Lorbeeren übrig bleiben. Diesmal steht McRae sich wegen seines Alkoholkonsums und seiner Traumatisierung selbst reichlich oft im Weg. Dadurch gewinnt er endlich etwas mehr Kontur als in den bisherigen Büchern.

Überhaupt ist der aktuelle Band insgesamt etwas weniger überzogen und dafür ein bisschen komplexer im Plot: organisierte Kriminalität, pikierte Verbrecherdynastien in Aberdeen, international agierende Killer und blutige Revierkämpfe. Aber keine Sorge: Der Krimi ist immer noch ausreichend überdreht und schwarzhumorig – stets wie die schottische Umsetzung des Dürrenmattschen Diktums, dass eine Sache erst dann zu Ende gedacht ist, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat. Wie die bisherigen Bücher von Stuart MacBride ist auch dieser Polizeikrimi gleichzeitig seine eigene temporeiche und bildgewaltige Parodie – und nichts für Menschen mit schwachem Magen.

Kirsten Reimers

Stuart MacBride: Blinde Zeugen
Aus dem Englischen von Andreas Jäger
Manhattan 2010
Tb, 606 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-442-54683-1
auch erhältlich als eBook (hier klicken)
auch erhältlich als Hörbuch-Download (hier klicken)

Zur Homepage des Autors: www.stuartmacbride.com

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Tod einer Hausfrau

Für die »Polente Bremen« auf der Spur des Verbrechens

Dank wohlmeinender Verwandte (»Du liest doch so gern Krimis, da dachten wir, das gefällt dir bestimmt …«) war ich im Besitz eines Gutscheins für den Straßenkrimi in Bremen. Ein Mitmachkrimi. Danke. Auf der Homepage des Veranstalters hatte ich die Wahl zwischen zwei Fällen in der Bremer Innenstadt: »Tod einer Hausfrau« und »Der Baulöwe hat ausgebrüllt«. Ich wählte ersteres. Wenige Tage später ging es los.

Gedanklich stellte ich mich ein auf einen Nachmittag mit Menschen in Polyesterhosen und gesunden Schuhen jenseits des 68. Lebensjahres, die einander als »flott angezogen« bezeichneten. Wahrscheinlich bevorzugten sie humorlose skandinavische Grübler oder Commissarios in Postkartenkulisse. Und mit denen würde ich dann die touristischen Highlights von Bremen abklappern und dabei einen »Fall« »lösen«, der total einfach zu durchschauen ist. (Sorry, manchmal sind meine Vorurteile schneller als ich.)

Soko »Schlafmütze« meldet sich zum Dienst

Schließlich ist es so weit: ein wunderbar sonniger Sonntagnachmittag. Die erste Überraschung erwartet mich, als ich um die Ecke zum Sammelplatz biege – stilecht kurz neben einer Polizeiwache und ganz in der Nähe der Staatsanwaltschaft: Ich bin die Älteste! Alle anderen sind Ende zwanzig, knapp Anfang dreißig. Niemand trägt Polyesterhosen (ich auch nicht).

Heiko Sakel, Geschäftsführer der Agentur für Kriminalspiele, die die Straßenkrimis in Bremen, Oldenburg, Hannover und Nürnberg organisiert, berichtet später im Interview, das Gros der Teilnehmer sei zwischen 25 und 50. Und eher Frauen als Männer. Aber richtig statistisch erfasst sei das nicht, es sind eher Schätzwerte. Meine Erfahrungen dieses Nachmittags bestätigen dies: Wir sind zu sechst, vier Frauen, zwei Männer, und alle im Alter zwischen 28 und 42.

Soko »Schlafmütze«, so nennen wir uns an jenem Sonntagnachmittag (Fragen Sie nicht …). Bevor es losgeht, führt uns unser »Vorgesetzter« in den Fall ein: Eine 24-jährige Hausfrau wurde erschlagen in einer dunklen Gasse Bremens aufgefunden. Im Anschluss erhalten wir eine Tasche mit Ermittlungsunterlagen und Equipment: Obduktionsbericht, Protokolle von Zeugenaussagen, ein detaillierter Stadtplan, Handschellen und ein Handy. Dazu Dienstausweise und Visitenkarten. Und die ausdrückliche Instruktion, über jeden unserer Schritte telefonisch Bericht zu erstatten. Verhaften dürfen wir nur jemanden, wenn wir vorher bei unserem Chef angerufen haben und der via Staatsanwaltschaft beim Richter einen Haftbefehl beantragt hat.

Die Unterlagen sind wirklich liebevoll und mit Blick fürs Detail ausgearbeitet, der korrekte Dienstweg wird eingehalten, und auf unseren Ausweisen steht »Polente Bremen«.

Falsche Fährten, unzuverlässige Zeugen – so richtig einfach ist das nicht

Dann geht’s los. Zum Glück kommt noch jemand auf die Idee, nach der Telefonnummer des Ehemanns des Opfers zu fragen, sonst hätten wir überhaupt nicht gewusst, was wir nun anstellen sollen. Das ist die zweite Überraschung: So richtig einfach ist das nicht, und wirklich viel wird uns zunächst nicht an die Hand gegeben. Wir müssen selbst überlegen, wie wir vorgehen. So laufen wir aufgeregt kichernd und spekulierend durch Bremen, befragen Zeugen, mit denen wir vorher telefonisch Treffpunkte ausgemacht haben und versuchen, Licht ins Dunkel zu bringen.

Doch das gelingt uns nur mäßig erfolgreich, denn es gibt falsche Fährten, die Zeugen erzählen eine Menge, wenn man sie eine Menge fragt, und manchmal lügen sie auch. Am Ende haben wir zwei Verdächtige und können uns nicht entscheiden.

Kommt das oft vor, dass Ermittler nicht weiter wissen, will ich im Interview wissen. Sakel gibt sich bedeckt, vielleicht um die Soko »Schlafmütze« nicht zu kompromittieren. Es komme durchaus mitunter vor. Und was geschieht dann? Gibt es Möglichkeiten, den Ermittlern auf die Sprünge zu helfen? Die gibt es durchaus: Schließlich berichten das Ermittlerteam ja immer per Handy vom Stand der Dinge. Auch die Zeugen stehen mit den Organisatoren telefonisch in Kontakt und werden dann im Notfall angewiesen, den Ermittlern zügig die notwendigsten Informationen mitzuteilen oder – falls die Ermittler zu fix sind – sie etwas hinzuhalten. Und wenn die Ermittler gar nicht wissen, was sie tun sollen? »Es gibt natürlich ein paar Tricks, wie man unterstützend tätig werden kann«, erklärt Sakel, ohne sich in die Karten schauen zu lassen.

Wenn die Fiktion zu echt wirkt

Im Fall der Soko »Schlafmütze« funktioniert es: Wir nehmen am Ende eine Verhaftung vor – und offenbar sogar die richtige. Das geht bei uns halbwegs glimpflich ab. Manche Teams haben da schon ganz andere Erfahrungen gemacht, berichtet Heiko Sakel: »Zweimal haben wir einen Polizeieinsatz ausgelöst. Einmal kamen zwei Beamte, einmal sogar acht. Die Verhaftungen haben so echt gewirkt, dass Passanten dachten, sie rufen lieber mal die Polizei.« Einmal ist sogar eine unbeteiligte Passantin auf einen Zeugen mit dem Regenschirm losgegangen, erzählt Sakel: »Beim Fall ›Der Baulöwe hat ausgebrüllt‹ wird ein Zeuge an einer Stelle etwas lauter. Der Darsteller war in seiner Rolle sehr überzeugend, und offenbar hat die Passantin gedacht, da muss sie eingreifen. Das ist ja eigentlich ein Glück, dass Menschen sich in solchen Fällen einsetzen und einmischen.«

Auch an diesem Sonntag sind die Darsteller wirklich sehr engagiert und überzeugend. Rollenadäquat beantworten sie auch die merkwürdigste Frage der Ermittler und fallen kein einziges Mal aus dem Spiel heraus, während wir Kommissare mitunter vor Kichern kaum weiterkommen. Pro Fall sind sechs bis sieben Darsteller dabei, die wenigsten von ihnen haben Schauspielerfahrung, die meisten sind über Kleinanzeigen dazugekommen oder haben eine Tour als Ermittler mitgemacht und sind dann als Zeugen dabeigeblieben. Fehlende berufliche Professionalität machen sie mit großer Spielfreude wett.

Abseits der Sehenswürdigkeiten an den Vorurteilen vorbei

Und die Fälle? Woher kommen die? »Das sind alles eigene Stücke«, sagt Heiko Sakel – ursprünglich Diplom-Kaufmann mit Studium der Tourismuswirtschaft. »Zwei habe ich geschrieben, und eins, der ›Tod einer Hausfrau‹, ist von einer Darstellerkollegin.« Neue Fälle werden zunächst in Oldenburg angeboten: »Da ist meine Homebase sozusagen und damit auch die Teststrecke«, erklärt Sakel. Zunächst wird anhand der Praxiserfahrung noch nachgebessert, denn »man kann gar nicht auf alles vorbereitet sein, was passieren kann, das hat eh alles viel mit Improvisation zu tun«. Und wenn’s gut läuft, gehen die Fälle auch an andere Städte. So zum Beispiel »Der Fall Chagall«, den es bislang nur in Oldenburg gibt, der soll im Laufe dieses Jahres auch in Bremen, Hannover und Nürnberg angeboten werden. Warum eigentlich dieser Schlenker in den Süden? »Nürnberg hat zwei Gründe«, erläutert Sakel: »Zum einen habe ich da ein paar Jahre gewohnt, dadurch kenne ich die Stadt ein bisschen. Und zum anderen lebt meine Schwester da und betreut das Ganze vor Ort.«

Dieses Vorgehen erklärt etwas, das mir erst nach Aufklärung des »Todes einer Hausfrau« auffällt: In den drei Stunden, die wir unterwegs waren, haben wir keine einzige Sehenswürdigkeit zu Gesicht bekommen. »Es gibt in Bremen auch Routen, die durchaus durch die Touristenviertel führen, durchs Schnoorviertel zum Beispiel oder durchs Ostertorviertel«, erklärt Sakel, aber die Fälle sind so aufgebaut, dass sie auch auf anderen Routen funktionieren – »falls in der Innenstadt etwas los ist: Christopher Street Day, der Umzug der Kulturen oder die Chaostage in Hannover« -, damit man ausweichen kann und die Fälle sich auch in andere Städten übertragen lassen.

Seit 2006 bietet Sakel die Straßenkrimis in Oldenburg an, seit 2007 in Bremen. Aus der Anfangszeit stammt noch die Bezeichnung als »Agentur für Kriminalspiele«. So ganz stimmt der Titel im Moment nicht, denn »wir bieten ja keine fremden Produkte an, sondern nur unsere eigenen«. Für die Zukunft sind weitere Sachen angedacht, nicht nur neue Fälle, aber Sakel hält sich bedeckt, wenn es um Einzelheiten geht: »Das ist alles noch nicht spruchreif.«

Meine Vorurteile sind an diesem Tag samt und sonders nicht bedient worden – stattdessen war es ein unerwartet vergnüglicher Nachmittag mit einem gut durchdachten und in der Tat nicht leicht zu durchschauenden Fall und wirklich überzeugenden Darstellern.

Kirsten Reimers

www.strassenkrimi.de

Mancher stirbt mehrfach

Gut gemeint, nicht zwingend gut gemacht

Kathy Reichs ist nicht nur Krimiautorin, sondern auch Professorin für Anthropologie an der Universität in Charlotte, North Carolina (USA), und als forensische Anthropologin für das Office of the Medical Examiner in North Carolina sowie für das Laboratoire de Sciences Judiciaires et de Médecine Légale in Montréal tätig. Das spiegelt sich in ihren Krimis wider: Reichs weiß, wovon sie schreibt. Eher unaufgeregt als bluttriefend, sind ihre Beschreibungen von Obduktionen, Knochenanalysen oder Gewebeextraktionen eine detailreiche, aber dennoch meist unterhaltsame Lehrstunde in Anatomie, Forensik, Anthropologie und und und. In ihre Romane fließen Fälle ein, an denen sie mitgearbeitet hat, das macht es oft sehr lebensnah mit einem guten Blick für Zusammenhänge und Hintergründe.

Als externe Beraterin war Reichs auch tätig für das JPAC, das Joint POW/MIA Accounting Command mit Sitz auf Hawaii, dessen Aufgabe die Suche nach Kriegsgefangenen und vermissten Soldaten der Streitkräfte der USA sowie deren Identifizierung ist. In erster Linie geht es um verschollene Armeeangehörige aus dem Zweiten Weltkrieg, dem Koreakrieg, dem Kalten Krieg und den Kriegen in Südostasien. Das bildet den Hintergrund für Reichs neuesten Krimi: »Blut vergisst nicht« (»Spider Bones«, 2010). In dessen Nachwort schreibt die Autorin, sie wollte vermitteln, was sie empfunden hat bei der Identifizierung von Männern und Frauen, »die vor langer Zeit und weit weg von zu Hause im Dienst an ihrem Land umgekommen waren«.

Ein durchaus ehrbares Anliegen. Aber leider auch ein bisschen erzwungen, denn die Umsetzung ist über weite Strecken steif und belehrend, an anderen Ecken wiederum so krampfhaft auf Spannung gebürstet, dass das neue Buch ein wenig zusammengestoppelt und überladen wirkt. Und etwas pathetisch.

Schwankend zwischen Offensichtlichem und völlig Verworrenem

Dr. Temperence Brennan, die den gleichen Beruf ausübt wie ihre Schöpferin, hat es diesmal mit einer Wasserleiche zu tun, die aus einem See in der Nähe von Quebec gezogen wird. Offenbar ein reichlich bizarrer autoerotischer Unfall nur wenige Stunden zuvor. Doch die Fingerabdrücke der frischen Leiche gehören zu einem US-amerikanischen Soldaten, der angeblich 1968 in Vietnam gefallen ist und in seinem Heimatort in den USA begraben liegt. Um der Sache auf den Grund zu gehen, werden die sterblichen Überreste exhumiert und beim JPAC auf Hawaii untersucht. Brennan wird als externe Beraterin hinzugezogen.

Die Ermittlungen und Verwicklungen, die sich nun ergeben, schwanken zwischen derart kurzsichtig beziehungsweise offensichtlich, dass man in den Tisch beißen möchte als Ersatzhandlung dafür, dass man die Figuren nicht schütteln kann, damit sie endlich mal die Augen aufmachen. Andere Handlungsstränge sind dagegen so gewollt verworren und mit medizinischen Sonderfällen aufgemotzt, dass man Probleme hat, die tatsächlichen Zusammenhänge zu verstehen. Dazu kommen die üblichen emotionalen Unentschiedenheiten zwischen Brennan und ihrem On/Off-Lover Detective Ryan, die inzwischen in ihrer Absehbarkeit auch nur noch ermüden.

Ganz offenbar ist die Luft raus aus Reichs Temperence-Brennan-Krimis. Das ist sehr schade, denn sie waren wirklich gut: sorgfältig recherchiert, den Blick über den Krimirand hinauswerfend, mit Bedacht in der Gegenwart angesiedelt und spannend ohne größere Effekthascherei. Doch der aktuelle Band, immerhin der 13. der Serie, kann damit leider nicht aufwarten.

Kirsten Reimers

Kathy Reichs: Blut vergisst nicht
Aus dem amerikanischen Englisch von Klaus Berr
Karl Blessing Verlag 2010
geb., 384 Seiten, 19,95 Euro
ISBN 978-3-89667-324-4
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Weil es sich so ergibt

Ein beklemmender Blick über die innere Grenze

Neun »ordentliche Männer mit ordentlichen Berufen« vergewaltigen auf einem Volksfest eine junge Frau – weil es sich so ergibt. Danach werfen sie sie weg wie einen Sack Müll und urinieren auf sie. Die Frau überlebt schwerverletzt. Weil die Männer kostümiert waren und weil die Ärzte bei der Rettung der Frau die DNA-Spuren beseitigen (müssen), kann die Tat keinem der Familienväter zweifelsfrei zugeordnet werden. Die Vergewaltiger gehen straffrei aus, es kommt nicht einmal zum Prozess. Der Erzähler, ein sehr junger Strafrechtanwalt, ist der Verteidiger eines der Täter; er muss sich eingestehen, dass er mit diesem Mandat seine Unschuld verloren hat.

Der Erzähler, das könnte der Strafverteidiger Ferdinand von Schirach sein. Schirach ist zumindest der Autor der Geschichte, die den Auftakt zu seinem zweiten Buch »Schuld« bildet. »Schuld« ist dunkler und beklemmender, an manchen Ecken aber auch kalkuliert bedrückender und damit banaler als Schirachs aufsehenerregendes Debüt »Verbrechen« vom Sommer 2009, für das der Autor den Kleist-Preis erhielt.

15 »Stories« sind im neuen Buch versammelt. Manche erschreckend und beunruhigend, manche etwas gewollt, manche absurd-witzig. Da ist die Geschichte von zwei Kleinganoven, die einen großen Drogendeal abschließen wollen – doch der Hund verschluckt den Schlüssel zum Schließfach mit dem Geld und löst so eine Kaskade von aberwitzigen Ereignissen aus. Da ist der Mann, der von einem kleinen Mädchen beschuldigt wird, es sexuell missbraucht zu haben, und seine gesamte Existenz verliert – und das nur, weil er mit der Lehrerin des Mädchens verheiratet und die Kleine eifersüchtig war. In einem Koffer werden die Fotos von 18 gewaltsam getöteten Menschen gefunden, doch der Besitzer des Koffers ist nur der Kurier und weiß offenbar von nichts; kaum aus der Untersuchungshaft entlassen, wird er ermordet, der Fall bleibt ungeklärt. Ein Mann glaubt sich von CIA und BND verfolgt und bringt schließlich fast seinen Anwalt in die Psychiatrie.

Schuld, Strafe, Recht und Gerechtigkeit

Wie schon in »Schuld« schreibt Schirach nüchtern, zurückhaltend, lakonisch in sehr einfachen Worten und Sätzen. Diese stehen in ihrer Schlichtheit in einem eklatanten Gegensatz zum hochdramatischen Geschehen. Daraus resultiert eine große Spannung und Eindringlichkeit. Der Blick Schirachs gilt weniger der Gesellschaft als vielmehr dem Einzelnen in ihr. Und dieser Blick ist sehr konzentriert: Schirach schildert, wie seine Figuren schuldig werden, welche Umstände und Zufälle dabei zusammenkommen – alles Darüberhinausführende wird weggelassen, eine Psychologisierung vermieden. Mit verhaltener Empathie zeichnet der Autor seine Akteure, nie überschwänglich, nie verletzend, immer respektvoll.

Beklemmend offensichtlich wird dabei, wie dünn die Schicht der Zivilisation ist, wie einfach es ist, die Regeln zu verletzen, die Grenze zu überschreiten und zum Verbrecher zu werden. Schirachs Figuren werden schuldig durch ihre Taten, aber auch durch Untätigkeit, durch Verleumdung, seltener durch Kalkül, meist durch Zufall. Wesentlicher Bestandteil der Stories ist das Strafmaß, dass die Menschen für ihr Verbrechen erhalten. Damit verbunden ist eine – nicht zwingend explizite – Reflexion über den Zusammenhang von Schuld, Strafe und Recht, was – aber das ist nicht neu – nichts mit Gerechtigkeit zu tun haben muss.

Schirachs Figuren sind in der Mehrheit ganz durchschnittliche, bis zu ihrem Verbrechen unauffällige Menschen. Das hätte auch ganz anders sein können, den Ferdinand von Schirach lehnt seine Stories an seine tatsächlichen Fälle an, und im tatsächlichen Leben ist er (übrigens der Enkel des überführten NS-Kriegsverbrechers Baldur von Schirach) durchaus so etwas wie ein »Promianwalt«. Zu seinen Mandanten gehörten zum Beispiel der ehemalige SED-Funktionär Günther Schabowski, den Schirach im Mauerschützen-Prozess vertrat, oder der BND-Spion Norbert Juretzko, aber auch Unterweltbosse, Industrielle – aber halt auch unbekannte Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten.

Wesentlich: die Vermutung von Authentizität

Natürlich erzählt der Anwalt seine Fälle nicht einfach nach, damit würde er sich strafbar machen, vom Vertrauensverlust mal ganz zu schweigen. Schirach literarisiert seine Mandate: Seine Geschichten seien anhand der Wirklichkeit frei erfunden, erklärte Schirach im Gespräch mit Benjamin von Stuckrad-Barre, der den Autor einen Tag lang begleitete. Er setze die Figuren aus mehreren Fällen zusammen und verfremde die Ereignisse durch die Übertragung in andere Milieus, Orte und Zeiten bis zur Unkenntlichkeit, sodass nur die Essenz bliebe. Erzähler ist jeweils ein Strafrechtsanwalt, zumeist ein einfaches »Ich«, vielleicht immer derselbe Anwalt, der nur in der letzten Geschichte von einem Dritten mit Namen genannt wird: Ferdinand von Schirach.

Schirachs Stories beziehen ihre Faszination aus dieser vermutbaren Authentizität. Ohne diese Hintertür der eventuellen »Echtheit« bliebe von der Eindringlichkeit seiner Geschichten wahrscheinlich wenig, zu unbeholfen mitunter die Sprache, zu simpel meist die Konstruktion, zu klischeehaft manche Figur, zu dick aufgetragen und zu deutlich ausgeprägt in einigen Stories das Betroffenheitskalkül. Die abwegigsten Szenen seien allerdings tatsächlich so geschehen, beteuert Schirach in einem Gespräch mit der »Zeit«, derlei könne man nicht erfinden – und irgendwie stimmt dies beim Lesen versöhnlich.

Kirsten Reimers

Ferdinand von Schirach: Schuld
Stories
Piper Verlag 2010
geb., 200 Seiten, 17,95 Euro
ISBN: 978-3-492-05422-5
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Knapp daneben

Bücher, die man sich schenken kann

Kriminalromane werden zwar in Unmengen gelesen, aber ihr literarischer Ruf ist immer noch zweifelhaft. Das liegt unter anderem an einfach richtig schlechten Büchern. Hier zwei Beispiele.

Simone Buchholz: Knastpralinen

Schwüle Sommerhitze über Hamburg und Leichenteile in der Elbe. Aber nur Köpfe, Hände, Füße – alles männlich -, der Rest ist weg. Wer in den achtziger Jahren die ersten richtig fiesen »Frauenkrimis« gelesen hat, weiß nach genau zwei Seiten, worauf das hinausläuft. Die ermittelnden Beamten und mit ihnen die Staatsanwältin Chastity Riley brauchen deutlich länger, aber immerhin auch nur 250 Seiten. Zumindest bleibt der Umfang übersichtlich.

Aber auch dies reicht, um aus Sankt Pauli eine Touristenattraktion zu machen. Okay: eine abgeranzte Attraktion, aber das ist halt Idyllisierung von unten. Erwartungsgemäß wird alles »Szeneunverdächtige« abgefeiert (und natürlich eine eigene Szene gebildet): Schrammelrock, Dosenbier und Menschen, die hart tun, aber eigentlich totaaal sentimentale Romantiker sind. Und das wird dann als »echt« verkauft, in einem Stil, der frisch sein will, aber oft nur unbeholfen wirkt.

Baden Kenney: Nadelstiche

Der »Vampir« geht um in New York: Er überfällt offenbar wahllos Menschen am helllichten Tag in ihrer eigenen Wohnung und zapft ihnen ein wenig Blut ab. Als seine Taten brutaler werden und Menschen sterben, wird der Pathologe Jake Rosen – mittelalt, attraktiv, brillanter Wissenschaftler, aber vollkommen unorganisiert im Alltagsleben – hinzugezogen. Ein zweiter Fall, der – so ein Zufall aber auch! – unerwarteterweise mit den Blutzapfkram zusammenhängt, bringt auch Rosens Freundin, die Anwältin Philomena »Manny« Manfreda – jung, hübsch, rotlockige Mähne, mit Vorliebe für Manolo Blahniks – ins Spiel.

Personen, geleckt wie einem Werbespot für Luxusschnickschnack entsprungen, mit der charakterlichen Tiefe von Filzstiftzeichnungen, lösen einen hanebüchenen Mordfall, der ein bisschen Betroffenheitsquark aufrührt. Nahezu unerträglich ist in dieser Mischung aus Chicklit und Forensikdramolett die Selbstgefälligkeit und die Klischeestarre. Solche Bücher verraten mehr über die Autoren, ihr Selbst- und ihr Idealbild, als man wirklich wissen möchte. Michael Baden ist übrigens Pathologe im Ruhestand, seine Ehefrau Linda Kenney Anwältin.

Kirsten Reimers

Simone Buchholz: Knastpralinen
Droemer 2010
Klappbroschur, 251 Seiten, 12,95 Euro
ISBN: 978-3-426-19814-8
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Michael Baden & Linda Kenney: Nadelstiche
(Skeleton justice, 2009)
Aus dem amerikanischen Englisch
von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Blessing 2010
Klappbroschur, 366 Seiten, 14,95 Euro
ISBN 978-3-89667-286-5

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