Von abgebrühter Dreistigkeit und poetischer Skurrilität

Hintergründig und bemerkenswert

Oliver Harris legt mit »London Killing« ein wunderbar abgebrühtes und unverfrorenes Debüt vor. Seine Hauptfigur Detective Constable Nick Belsey ist am Ende: Nach Jahren der Spielsucht und einem ausgewachsenen Alkoholproblem ist er nun so bankrott, dass er selbst aus seiner heruntergekommenen Unterkunft geworfen wird. Die Dienstaufsicht ist ihm auf den Fersen, und eigentlich ist er vom Polizeidienst suspendiert. Als die Meldung hereinkommt, dass ein russischer Milliardär vermisst wird, sieht Belsey seine Chance gekommen: Er nimmt die Identität des Vermissten an, schläft in dessen Haus und versucht, die Konten des russischen Oligarchen zu plündern, um sich ins Ausland abzusetzen. Allerdings muss er feststellen, dass er nicht der Einzige ist, der sich mit dem verschwundenen Milliardär beschäftigt. Und die Gegenseite ist weitaus skrupelloser als er.

Harris schreibt schön schnoddrig, schnell und frech mit einer guten Portion schwarzer Selbstironie. In knappen, verdichteten Bildern lässt er aussagekräftige Szenen entstehen. Seine Hauptfigur ist zwar strikt auf den eigenen Vorteil bedacht, aber nicht korrupt – im Gegensatz zu diversen anderen Polizisten in seiner Umgebung. Und Belsey – bei weitem kein charmantes Schlitzohr – nimmt nur Geld von Leuten, denen es nicht wehtut, weil sie genug davon haben. Darin wirkt er fast naiv im Vergleich zu seinen Gegenspielern, die keinerlei Rücksicht kennen. Im eiskalten Haifischbecken des internationalen Finanzplatzes London ist Belsey nur ein kleiner, aber ziemlich dreister Fisch. Ein erstaunliches und spannendes Debüt und ein wenig schmeichelhaftes Porträt der Finanzbranche und ihrer Triebfedern.

Schaurige Zukunftsvision

Arne Dahls neuer Thriller »Gier« ist gewissermaßen der Gegenentwurf zu Harris’ Debüt. Zwar gibt es auch hier korrupte Polizisten und Verbrechen im großen, internationalen Stil – aber nicht innerhalb der ermittelnden Gruppe. Bei ihr handelt es sich um eine blitzsaubere und äußerst engagierte Einheit bei Europol, die probeweise und im Geheimen operativ tätig wird (bislang ist Europol in erster Linie koordinierend tätig). Dabei erhält sie Unterstützung von allen euro- päischen Ländern. Entsprechend international ist sie bestückt, zudem geschlechtermäßig bewusst paritätisch besetzt. Arne Dahl hat in dieser Gruppe außerdem mehrere Mitglieder seines A-Teams, seiner bisherigen Ermittlereinheit, untergebracht.

Ganz anders als bei Harris geht es hier politisch sehr korrekt und – wie in vielen skandinavischen Krimis – etwas hölzern-pädagogisch zu. Neu und anders aber ist das Verbrechen: ein hochkomplexer Fall, der den gesamten Erdball umspannt, ohne dass die Hintermänner wirklich greifbar sind. Eine schaurige Zukunftsversion der global aktiven organisierten Kriminalität, die umso bedrohlicher wird, da legales und illegales Handeln auf nur schwer zu entwirrende Weise ineinandergreifen.

Gruseliger Mythos

Komplex ist auch das Geschehen in Fred Vargas’ neuen Roman »Die Nacht des Zorns«, vor allem aber ist es mehrbödig. Erneut greift Vargas ein Sagenthema auf, das sie in die Gegenwart einbindet: das Wütende Heer, hierzulande auch bekannt als die Wilde Jagd, in Frankreich auch Mesnie Hellequin genannt. Sie führt Kommissar Adamsberg in die Normandie, zum Pfad von Bonneval, wo schon 1091 ein normannischer Priester die L’Armée furieuse (so auch der Originaltitel des Buches) sah und das erste schriftliche Zeugnis davon ablegte. Der Sage nach reißt die Wilde Jagd Menschen mit sich, die Schuld auf sich geladen haben. Lina, eine junge Frau aus dem Örtchen Ordebec, erkennt in einer Vision, wie die Mesnie Hellequin vier Dorfbewohner verschleppt. Drei von ihnen kann Lina mit Namen benennen. Als der Erste von ihnen stirbt, ist die Aufregung in Ordebec groß, denn laut Überlieferung kann man sich von seiner Schuld befreien und dem Wilden Heer entkommen, indem man einen der anderen »Ergriffenen« tötet. Wer ist nun verantwortlich für den ersten Mord, dem weitere folgen sollen: der Seigneur Hellequin oder gibt es ganz handfeste Motive und einen vollkommen unmythischen Täter?

Erneut gelingt es Fred Vargas, eine etwas verschobene, leicht surreale Welt zu kreieren, die von absonderlichen, immer etwas überzeichneten Figuren bevölkert wird, durchzogen von feiner Ironie und beschwingter Leichtigkeit. Das verleiht ihren Büchern etwas wundervoll schwebend Unwirkliches, ohne dass sie an Glaubwürdigkeit verlieren.

Kirsten Reimers

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Oliver Harris: London Killing
Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
geb., 480 Seiten, 19,95 Euro
ISBN 978-3-89667-438-8
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Arne Dahl: Gier
Aus dem Schwedischen von Antje Rieck-Blankenburg
Piper 2012
brosch., 506 Seiten, 16,99 Euro
ISBN 978-3-492-05305-1
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Fred Vargas: Die Nacht des Zorns
Aus dem Französischen von Waltraud Schwarze
Aufbau 2012
geb., 453 Seiten, 22,99 Euro
ISBN 978-3-351-03380-4
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Diese Besprechung ist zuerst erschienen in der Frankfurter Neuen Presse.