Schuld und Scham

Hat er seinen Gönner Johnson in Sansibar tatsächlich umgebracht, wie man ihm vorwirft? McGlue, schwerer Alkoholiker und Selbstzerstörer, kann sich an nichts erinnern, zu porös das Hirn vom Suff, zu groß das Loch im Kopf nach einem Sturz. Auf der Überfahrt 1851 nach Salem, Massachusetts, seinem Heimatort, wo ihm der Prozess gemacht werden soll, und später im Gefängnis verschwimmen Erinnerungen und Visionen.

Was Delirium oder Alptraum, Vergangenheit oder Gegenwart ist, ist nicht zu trennen in diesem Monolog, dieser düsteren, rauschhaften Achterbahnfahrt durch Selbstzerstörung und Selbsthass, durch Scham, Liebe und uneingestandene Leidenschaft, durch Alkohol und Blut.

Der titelgebende McGlue, von Johnson »Nick Bottom« genannt (nach einer Figur in Shakespeares »Sommernachtstraum«, »Zettel« in der deutschen Übersetzung), hat etwas Archaisches in seiner Selbstzerstörung – andererseits ist er hochmodern in seiner Verzweiflung an sich selbst, in seinem Unvermögen, so zu sein, wie er es von sich erwartet. Das Debüt der Amerikanerin Ottessa Moshfegh ist kein Kriminalroman, sondern eine dunkle, verstörende Irrfahrt durch Schuld und Sehnsucht. Groß und äußerst lesenswert!

Das Implantat im Nacken

Wie Ottessa Moshfegh wählt Nathan Larson in seiner Dewey-Decimal-Reihe die Ich-Perspektive – und wie McGlue ist Dewey Decimal ein unzuverlässiger Erzähler. Dewey, der seinen Namen nach einem Bibliothekssystem gewählt hat, scheint ein ehemaliger Elitesoldat zu sein, allerdings ist seine Erinnerung weitgehend zerrüttet, manchmal tauchen Vergangenheitsfetzen auf, die aber genauso gut manipuliert und implantiert sein können. Sicher ist: Dewey ist trotz seiner extrem desolaten körperlichen und psychischen Verfassung enorm wehrhaft.

Mit »Zero One Dewey« liegt nun der abschließende Band der Trilogie vor, der einige der offenen Fragen zu Deweys Vergangenheit beantwortet. Nach den verheerenden Anschlägen vom 14. Februar, dem Valentinstag, vor zwei Jahren, ist New York immer noch weitgehend zerstört. Die Stadt ist in Einflusszonen von Gangs und Interessenverbänden aufgeteilt, die jeweilige Vorherrschaft wird mit Waffengewalt durchgesetzt. Die Luft ist von giftigen Dämpfen und Unmengen Staub verseucht. Dewey Decimal arbeitet als Mann fürs Grobe für einen ehemaligen, skrupellosen Senator. Als dieser ihm einen verantwortungsvollen Auftrag anvertraut, ist er von Anfang an misstrauisch. Aber dennoch kommt es deutlich schlimmer als Dewey vermutet hatte.

Larson erzählt rau und unkonventionell, lässig und zerklüftet, und das passt perfekt zu dieser dunklen Dystopie, die natürlich nicht mit einem Happy End enden kann – aber mit einem lauten Knall.

Schmerzhaft gut

Auch Friedrich Ani wählt in seinem neuen Roman »Nackter Mann, der brennt« die Innenperspektive. Ludwig Dragomir, diesen Namen hat sich seine Hauptfigur gegeben, kehrt nach Jahrzehnten in sein Heimatdorf Heiligsheim zurück. In seinem 14. Lebensjahr ist er geflohen vor dem sexuellen Missbrauch, den er und seine Freunde durch Honoratioren und Mitläufer erlebt haben. Nun ist er wieder da, weil er vor Wut und Selbsthass brennt.

Friedrich Ani ist einer der besten und auch einer der mutigsten deutschsprachigen Krimiautoren. Er hat keine Scheu, seinen Figuren nahzukommen, und er hat ebenso wenig Scheu, die Leser dahin mitzunehmen, wo es wehtut, weil es wahr ist. Ludwig Dragomir ist nicht einfach ein armes Opfer. Der Missbrauch hat tiefe Spuren bei ihm hinterlassen – einerseits fühlt er sich schuldig, dass er sich damals nicht richtig gewehrt und die Freunde nicht ausreichend beschützt hat, andererseits ist er überzeugt, dass er den Missbrauch verdient hat, weil er ein schlechter Mensch ist. Eine Gedankenfalle, aus der es kein Entkommen gibt. Er wird selbst zum Täter, er manipuliert und missbraucht, er zerstört sich und andere, er tötet.

»Nackter Mann, der brennt« kennt keine einfachen Antworten, keine schlichten Gut-Böse-Muster. Ani zeigt die Folgen, die der Missbrauch für Täter, Opfer und Angehörige hat, zeigt die Spirale von Gewalt und Zerstörung, die daraus erwächst und aus der es keinen simplen Ausweg gibt, denn Schuld und Scham lassen sich nicht durch Rache oder Selbstzerstörung zum Schweigen bringen. Kein einfaches Buch, aber ein sehr gutes, ein schmerzhaftes und ein wichtiges Buch. Kein Wort zu viel, kein Wort am falschen Platz.

Kirsten Reimers

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Ottessa Moshfegh: McGlue
(McGlue, 2014)
Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger
Liebeskind 2016
geb., 143 Seiten, 16 Euro
ISBN 978-3-95438-067-1
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Nathan Larson: Zero One Dewey
(The Immune System 2015)
Aus dem Englischen von Andrea Stumpf
Polar Verlag 2016
kart., 303 Seiten, 14,90 Euro
ISBN 978-3-945133-33-0
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Friedrich Ani: Nackter Mann, der brennt
Suhrkamp 2016
geb., 223 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-518-42542-8
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Mörderische Irrtümer

Nachdem er seinem Professor beim Schleppen von Bücherkisten geholfen hat, bleibt Moses mit seinem Wagen liegen. Irgendwo in einem gutbürgerlichen Vorort der südafrikanischen Stadt East London. Ganz in der Nähe ist eine Gated Community, in der, wie sich Moses erinnert, ein Kommilitone wohnt; vielleicht kann dieser helfen. Es ist unerträglich heiß, seine Freundin Sandi erwartet ihn – alles was Moses will, ist nach Hause. Doch als Schwarzer fällt er in der Gated Community enorm auf – und dann läuft alles schrecklich schief.

„Die Mauer“ ist der zweite Kriminalroman von Max Annas, der selbst lange Zeit in East London gelebt hat. Wie der erste Roman – „Die Farm“ – ist auch dieser kammerspielartig angelegt: eine klar eingegrenzte Umgebung, eine übersichtliche Anzahl von Personen, eine Situation, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint. Glasklar und lakonisch im Stil beschwört Annas eine klaustrophobische Atmosphäre herauf, in der die Konflikte Südafrikas auf kleinstem Raum aufeinander treffen: unterschwelliger und offener Rassismus, soziale Zerklüftung, tief verwurzelte Aggressionen. Beklemmend und sehr, sehr gut.

Mörderischer Schein

Auf offener Bühne erschießt sich der Schauspieler Fábbio Cássio am Ende einer Theatervorstellung. War es ein öffentlicher Selbstmord? War es ein Versehen? Der Revolver hätte nicht geladen sein sollen, der Selbstmord der Figur, die Cássio spielte, gehörte zum Stück. Oder war es ein Mord? Hat jemand die Waffe absichtlich mit scharfer Munition geladen?

Verdächtige gibt es bald, bald auch Verhaftungen – aber die Wahrheit ist in Patrícia Melos Kriminalroman „Trügerisches Licht“ doch komplexer, als es zunächst scheinen mag. Während Azucena Gobbi, die Chefin der Spurensicherung São Paulo, in der Welt der Schönen und Reichen, der Stars und Sternchen nach Tatsachen und Fakten sucht, zersplittert Brasilien im Chaos: Was ist der Mord eines schlechten Schauspielers im Vergleich zu unzähligen Morden und Vergewaltigungen, zu Korruption und organisierter Kriminalität? Wem kann man trauen, wenn selbst in den Reihen der Polizei das Verbrechen regiert? Doch Azucena lässt sich nicht beirren und trägt die Splitter zusammen.

Dicht, direkt und unsentimental schildert Patrícia Melo die Spurensuche im trügerischen Licht der Glamourwelt und vergisst dabei in keinem Moment die Schattenseiten der brasilianischen Gesellschaft. Das Ergebnis ist ein vielschichtiger und intelligenter Krimi.

Lange Schatten der Vergangenheit

Es sieht aus wie eine späte Abrechnung im kriminellen Milieu: In Nizza wird der Marseiller Geschäftsmann Maxime Pieri im Morgengrauen auf offener Straße erschossen. Früher war Pieri ins organisierte Verbrechen verwickelt, derzeit – es ist das Jahr 1973 – gibt es Machtkämpfe in Marseille um die Vorherrschaft. Einfach nur ein weiteres Opfer? Staatsanwaltschaft und Polizeiführung in Nizza und Marseille würden es gern so sehen und den Fall abhaken. Der frisch eingetroffene junge Kommissar Theo Daquin wird mit dem Mord betraut, in der Hoffnung, dass er auf die offizielle Linie einschwenkt. Doch Daquin hat seinen eigenen Kopf. Und tatsächlich trügt der erste Eindruck: Hinter dem Mord an Pieri steckt weit mehr, als im ersten Augenblick zu vermuten war.

Dominique Manotti taucht mit dem Roman „Schwarzes Gold“ in die Vergangenheit ihres Kommissars Daquin ein und damit in die Weltwirtschaftsgeschichte Anfang der siebziger Jahre, als der Handel mit Erdöl jenseits des Monopols der Großkonzerne erstarkt, als mit dem Ende des Bretton-Woods-Systems die Währungen, besonders der US-Dollar, stark schwanken, als die Weltwirtschaft in Bewegung gerät – und mit ihr natürlich die Politik. Das ist alles andere als längst vergangen, denn wie Manotti zeigt, liegen dort die Ursprünge für die Konflikte im Nahen Osten. Manotti gelingt es, das Weltgeschehen in den Ereignissen vor Ort greifbar zu machen. Sie macht wirtschaftliche und politische Zusammenhänge deutlich und verständlich, ohne ihre Komplexität zu verschweigen. Das ist große Kunst – und das Ergebnis ist ein hochspannender, sehr kluger Krimi.

Kirsten Reimers

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Max Annas: Die Mauer
Rowohlt 2016
kart., 221 Seiten, 12 Euro
ISBN 978-3-499-27163-2
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Patrícia Melo: Trügerisches Licht
(Fogo-Fátuo, 2014)
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Barbara Mesquita
Tropen 2016
kart., 320 Seiten, 14,95 Euro
ISBN 978-3-608-50215-2
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Dominique Manotti: Schwarzes Gold
(Or noir, 2015)
Aus dem Französischen von Iris Konopik
Ariadne/Argument 2016
geb., 379 Seiten, 19 Euro
ISBN 978-3-86754-213-5
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Dunkle Dämonen

Bevor die Amerikanerin Sara Gran so hervorragende und preisgekrönte Kriminalromane wie »Dope« oder »Die Stadt der Toten« geschrieben hat, veröffentlichte sie Horrorromane – zum Beispiel »Come closer«, in neuer Übersetzung bei DroemerKnaur erschienen. »Come closer« ist die Geschichte einer schleichenden Besessenheit – oder ist es eine Befreiung? Diese Vagheit macht unter anderem den bestechenden Reiz des kurzen Romans aus.

Geschrieben aus Sicht von Amanda, die ein sehr geordnetes Leben führt, bis plötzlich Dinge geschehen, die die gepflegten Routinen durchbrechen. Erst Klei- nigkeiten, es könnten auch Zufälle und Missgeschicke sein. Doch die Vorfälle häufen sich, nehmen an Boshaftigkeit und Sinnlichkeit zu. Ist Amanda von einer Dämonin besessen – oder bricht sie einfach aus ihrem stinklangweiligen Leben mit ihrem stinklangweiligen Mann und einem stinklangweiligen Job aus? Vergeblich sucht sie Hilfe und trifft stattdessen auf Unterstützung. Oder ist auch das alles ganz anders, als es scheint?

Dieser kleine fiese Roman über eine schleichende Veränderung und Entwicklung ist verstörend und begeisternd, geschrieben in Sara Grans knapper, lakonischer Sprache. Dunkel, gemein und sehr gut.

Dämonen mit Rechenschieber

Dunkel ist auch der Roman »Die Toten schauen zu« von Gerald Kersh aus dem Jahr 1943, aber auf eine ganz andere Art. Kersh greift eine tatsächliche Begebenheit auf: Die Vernichtung des Dorfes Lidice in Tschechien und die Ermordung sämtlicher männlicher Bewohner im Jahr 1942 durch NS-Truppen als Vergeltung für das Attentat auf Reinhard Heydrich, einem der maßgeblichen Organisatoren des Holocaust.

Gerald Kersh verwebt Historisches und Fiktionales und schafft auf nicht einmal 200 Seiten eine scharfsichtige Analyse der Unmenschlichkeit und Verkommenheit von Moral und Geist im Dritten Reich. Ohne schlichte Schwarzweißmalerei, ohne platte Parteinahme – aber mit Haltung – schildert er differenziert und erschreckend, wie sich kalter Bürokratismus und Grausamkeit verbinden, um Menschen zu Zahlen zu reduzieren und anschließend auszuradieren. Und das bereits im Jahr 1943. Sehr zu empfehlen!

Stillleben mit Serienmörder

Der Österreicher Thomas Raab ist vor allem bekannt für seine skurrilen Kriminalromane um den Möbelrestaurator Willibald Adrian Metzger. Mit »Still« – vor kurzem als Taschenbuch erschienen – lässt er diese Reihe hinter sich und legt, so der Untertitel, die »Chronik eines Mörders« vor.

Die Lebensgeschichte des Serienmörders Karl Heidemann von seiner Geburt bis zu – das weiß man von Anfang an – seinem Tod erzählt Raab mit so viel Einfühlungsvermögen und Sprachgewalt, dass bei aller Erstaun- und Ungeheuerlichkeit die Entwicklung Karls ganz selbstverständlich und unausweichlich scheint. Den Tod umfängt dabei eine große Zartheit und die Erfüllung einer tiefen Sehnsucht: eine glückliche Erlösung in tiefer Stille.

»Still« ist von wuchtiger, barocker Sprache, die zunächst etwas gestelzt und manieriert wirkt, doch letztlich in ihrer Sinnlichkeit und Üppigkeit ganz hervorragend zu dem Erzählten passt: einem übervollen Vanitas-Stillleben.

Kirsten Reimers

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Sara Gran: Come Closer
(Come closer, 2003)
Aus dem Englischen von Christine Strüh
DroemerKnaur 2016
kart., 192 Seiten, 9,99 Euro
ISBN 978-3-426-30539-3

Gerald Kersh: Die Toten schauen zu
(The Dead Look On, 1943)
Aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller
kart., 227 Seiten, 12,80 Euro
ISBN 978-3-927734-74-6
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Thomas Raab: Still
DroemerKnaur 2016
kart., 357 Seiten, 9,99 Euro
ISBN 978-3-426-30511-9
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Mörderische Intrigen

Eine Frau, ein Mann, ein Restaurant und die Frage, wer einen verhängnisvollen Telefonanruf machte – Olen Steinhauer hat für seinen Thriller »Der Anruf« eine sehr konzentrierte Form gewählt. In einem Restaurant im idyllischen Carmel-by-the-Sea in Kalifornien treffen zwei frühere Kollegen aufeinander: die ehemalige CIA-Agentin Celia Favreau und der noch aktive Agent Henry Pelham, vor Jahren ein Paar, dessen schwierige Beziehung über ein Attentat auf dem Wiener Flughafen 2006 zerbrochen ist.

Wechselnd aus der Sicht Henrys und Celias sowie in Rückblenden werden die Geschehnisse auf- gerollt. Was als Smalltalk unter ehemals Liebenden beginnt, wird mehr und mehr ein Katz-und-Maus-Spiel, ein wendungsreiches Verhör, denn bei dem Anschlag in Europa gab es einen Verräter.

In einer Zeit, in der politische Feindbilder uneindeutig und der Gegner ein nicht zu lokalisierender Terrorismus ist, gelingt Olen Steinhauer ein hochspannender, unaufdringlicher, komplexer und intelligenter Thriller, der sich die Frage nach Schuld nicht einfach macht – und das trotz (oder vielleicht gerade wegen) des minimalistischen Settings und des verhältnismäßig geringen Umfangs. Unbedingte Leseempfehlung!

Ohne Hoffnung auf ein Morgen

Am 19. November 2004 starb der Aborigine Cameron Doomadgee im Polizeigewahrsam auf Palm Island, Australien – nur 40 Minuten, nachdem er durch den Senior Sergeant Chris Hurley festgenommen worden war. Dass Aborigines auf einer Polizeiwache oder im Gefängnis ums Leben kommen, ist in Australien keine Seltenheit. Dass dies juristische Konsequenzen hat, allerdings schon: Dies war das erste Mal, dass sich ein Polizeibeamter vor Gericht dafür zu verantworten hatte.

Chloe Hooper beschreibt in »Der große Mann. Leben und Sterben auf Palm Island« die Geschehnisse von der Voruntersuchung bis zum Prozess, die sich über rund drei Jahre erstreckten. Anhand des Todes von Cameron Doomadgee rollt sie die Geschichte der Unterdrückung der Aborigines auf. Man spürt die Wut, die unter der klaren und sachlichen Sprache Hoopers brodelt. Dabei ergreift sie allerdings nicht Partei. Sie nähert sich den Motiven des Polizisten genauso offen, wie sie die Lebensumstände des Opfers beleuchtet. Sie hinterfragt ihre eigenen Vorurteile ebenso wie die der Menschen, mit denen sie spricht, ganz gleich welcher sozialen Schicht sie entstammen und welche Hautfarbe sie haben.

Hooper schildert feinfühlig und mit klarem Blick die Zerrissenheit der australischen Gesellschaft. Entstanden ist ein kluger, wütender und poetischer Bericht von großer Wucht, vom Schriftsteller Philip Roth zu recht als ein »moralischer Thriller über Macht, Elend und Gewalt« gelobt.

Im Menschenschlachthaus

Veganer gegen Allesfresser, Menschen gegen Tiere, Menschen gegen Menschen. Christine Lehmanns neuer Kriminalroman »Allesfresser« nimmt aktuelle Ernährungstrends beißend in die Zange. Dafür schickt die Autorin die ungewöhnlichste und spannendste Ermittlerin der deutschsprachigen Kriminalliteratur ins Zentrum des Sturms: Weil der bekannte Fernsehkoch Hinni Rapp entführt wurde – man vermutet die oder den Täter in der Szene des politischen Veganismus –, wechselt Lisa Nerz die Seiten. Fortan lebt sie vegan, um die Herausgeberin eines Weblogs aufzuspüren, die ein »Menschenschlachthaus« propagiert.

Wie stets trifft Christine Lehmann mit Thema und Ton ins Schwarze. Mit subtilem und subversivem Witz rumpelt sich Lisa Nerz impulsiv und einfühlsam durch Aktivistengruppen, Tierbefreiungen und ernährungspolitische Extrempositionen. Dabei wird klar: Radikalismus führt auf allen Seiten zu Gewalt – und ein Richtig oder Falsch, Gut oder Böse, Schwarz oder Weiß gibt es nicht. Mit ihrer einzigartigen Sprache, dicht und treffend, schafft Lehmann neue Bedeutungszusammenhänge und legt einen klugen, spannenden und provozierenden Krimi vor.

Kirsten Reimers

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Olen Steinhauer: Der Anruf
(All the Old Knives, 2015)
Aus dem Englischen von Friedrich Mader
Blessing 2016
geb., 267 Seiten, 19,99 Euro
ISBN 978-3-89667-554-5
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Chloe Hooper: Der große Mann. Leben und Sterben auf Palm Island
(The Tall Man, 2008)
Aus dem Englischen von Michael Kleeberg
Liebeskind 2016
geb., 361 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-95438-057-2
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Christine Lehmann: Allesfresser
Ariadne/Argument 2016
kart., 252 Seiten, 12 Euro
ISBN 978-3-86754-211-1
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Ein neues Leben

Schon zum sechsten Mal schickt Simone Buchholz ihre Staatsanwältin mit dem ungewöhnlichen Namen Chastity Riley ins Rennen. Präzise im Hamburger Kiezmilieu verortet, ist Buchholz’ Roman alles andere als ein Regiokrimi: keine betulichen Morde vor kuschlig-skurriler Kulisse, sondern die Verschränkung von Wirtschaft, Politik und Verbrechen: Drogenhandel auf internationalem Niveau, Korruption und Mafiaverstrickungen in der Hansestadt.

Dreh- und Angelpunkt ist eine neue Droge, die es wirklich gibt und die seit gar nicht allzu langer Zeit von Osten her den Markt aufrollt – billig und hochaggressiv: Krok, auch Krokodil genannt, weil sich die Haut um die Einstichstelle grünlich verfärbt und verschuppt und an Krokodilhaut erinnert. Die Konsumenten werden regelrecht von innen heraus zersetzt.

Kontrapunkt sind die sympathisch gezeichneten Figuren des Krimis: mit Ecken, Kanten, Seelenschmerzen und Sehnsüchten. Lakonisch-schnoddrig im Ton, mit einer Milieuseligkeit, die manchmal ins Pathetische zu rutschen droht, aber doch nie kippt, leichtfüßig-witzig bei aller Melancholie. »Blaue Nacht« ist zwar der sechste Band der Reihe, eignet sich aber sehr gut zum Einstieg, da er eine Art Neuanfang darstellt.

Fatale Pläne

Sechs Menschen, sechs Pläne, die einander überkreuzen, sich gegenseitig befördern oder ausschließen: Der Ire Declan Burke hat mit »The Big O« einen Kriminalroman in bester Screwballmanier geschrieben. Ein neues Leben soll es sein, ein Neuanfang irgendwo, wo es schön ist: in der Legalität, im Wald oder am Strand.

Ermöglichen soll dies das Lösegeld aus einer bestellten Entführung: Der ebenso undurch- sichtige wie umsichtige Ray soll Madge, die Noch-Ehefrau des abgerockten Schönheitschirurgen Frank, in dessen Auftrag kidnappen. Rays neue Flamme Karen, die mit Tankstellenüberfällen ihr Gehalt aufbessert, ist unerwarteterweise nicht nur Sprechstundehilfe bei Frank, sondern auch Madges beste Freundin. Zu dritt wollen sie mithilfe von Doyle, einer ehrgeizigen Polizistin, Frank übers Ohr hauen und das Geld unter sich aufteilen. Aber dann ist da noch Rossi, Karens ehemaliger Lover, der noch ein oder zwei Rechnungen mit ihr offen hat. Und – nicht zu vergessen: Anna, die riesige, hochaggressive Wölfin, die nur auf Karen hört und Rossi aus guten Grund aus tiefstem Herzen hasst.

Eine wilde Melange von pointierter Leichtigkeit – kein Wort zu viel und gerade genug überdreht, um Groteskes, Spannung und Witz gekonnt zu verbinden, ohne je in albernen Slapstick zu verfallen, dabei klug, feinsinnig und gespickt mit zahlreichen Anspielungen und Zitaten. Bis in die Nebenfiguren wunderbar besetzt – unter anderem mit einem narkoleptischen Junkie als Fluchtwagenfahrer. Das kann nur auf ein tosendes Finale hinauslaufen direkt vor dem großen O: der schwarzen Mündung einer Handfeuerwaffe.

Das Böse

Ebenfalls ganz hervorragend, aber völlig anders ist der Kriminalroman »Mississippi Jam« von James Lee Burke – die einzige Übereinstimmung liegt im Nachnamen und endet auch dort. Der US-Amerikaner James Lee Burke entwirft ein ausgefeiltes Breitwandszenario, darin ist er ein Meister: Vor der Küste Louisianas ist im Zweiten Weltkrieg ein U-Boot der Nazis gesunken. Jahrzehnte später soll Dave Robicheaux, Detective in New Iberia bei New Orleans, Bootsverleiher und Vietnamveteran, es im Auftrag eines Geschäftsmannes lokalisieren. Aber Robicheaux ist nicht der Einzige, der sich für das U-Boot interessiert: wie aus dem Nichts taucht ein brutaler Neo-Nazi auf, der den Polizisten und seine Familie perfide terrorisiert.

Komplex, wuchtig und schonungslos (aber nicht geschmacklos) reißt Burke einen Kosmos aus Revierkämpfen um Drogenabsatzmärkte, Korruption, Rassismus und Antisemitismus auf. Boshaftigkeit ist grenzenlos und in jedem angelegt – und der Übergang zur dunklen Seite ist fließend und schnell durchmessen, aus Wut, aus Verletztheit, aus Rache. Damit einher geht der Wunsch nach Gewalt und Zerstörung, auch nach Selbstzerstörung. Dunkel und monströs.

Kirsten Reimers

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Simone Buchholz: Blaue Nacht
Suhrkamp 2016
brosch., 235 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-518-46662-9
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Declan Burke: The Big O
(The Big O, 2007)
Aus dem Englischen von Robert Brack
Edition Nautilus 2016
brosch., 316 Seiten, 18 Euro
ISBN 978-3-96054-002-1
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James Lee Burke: Mississippi Jam
(Dixie City Jam, 1994)
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
Pendragon 2016
brosch., 588 Seiten, 17,99 Euro
ISBN 978-3-86532-527-3

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