Mord in der Hafenstadt

Hamburg-Krimis: Die Reeperbahn zwischen Rotlicht und Blaulicht

Von der nahgelegenen Elbe dringt das Tuten einer Schiffssirene herauf, Bässe wummern aus den offenen Türen von Bars, Bistros und Bordellen: Die Reeperbahn in Hamburg-Sankt Pauli ist eine der bekanntesten Amüsiermeilen der Welt, eine Touristenattraktion und kein wirklich gefährliches Pflaster. Tagsüber schlendern Familien mit Kindern die »sündige Meile« entlang, abends und am Wochenende drängt sich das Partyvolk auf den Gehwegen, dazwischen Junggesellinnenabschiede, Schulklassen auf Studienfahrt. Immer wieder begegnen einem Touristengruppen, die ins Musical »Rocky« wollen, das am östlichen Ende der Reeperbahn im Stage Operettenhaus am Schaubudenplatz gegeben wird. Es ist ein gezähmtes Rotlichtmilieu, solange man die dunkelsten Seitengassen und die zwielichtigsten Etablissements meidet.

Rund um die Davidwache

Das war nicht immer so. Neben dem Operettenhaus, dort, wo heute die »Tanzenden Türme« aufragen war bis 1942 das beliebte Tanzlokal »Zum Trichter«, benannt nach seiner charakteristischen Form. In diesem – verhältnismäßig harmlosen – Tanzlokal muss Heinrich Hansen beobachten, wie seine Jugendliebe endgültig auf die schiefe Bahn gerät. Hansen ist die Hauptfigur von Virginia Doyles »Sankt-Pauli-Trilogie«, und Virginia Doyle ist das Pseudonym des Krimiautors Robert Brack. Sein Kriminalkommissar Hansen ist auf Sankt Pauli geboren und mit dem Viertel verwachsen. Er kennt die Menschen hier: die Sonderlinge und Halbseidenen, die Huren, die Varietékünstler, all jene, die nicht ins bürgerliche Raster passen. Hansen ist mit ihnen aufgewachsen, das macht es ihm als Polizist auf der berühmtesten Polizeidienststelle Deutschlands, der Davidwache, nicht immer einfach, denn mitunter muss er gegen frühere Freunde und Schulkameraden ermitteln.

Vierzig Jahre umfasst die Sankt-Pauli-Trilogie: Der erste Band, »Die rote Katze«, spielt 1903; Band zwei, »Der gestreifte Affe«, ist zu Beginn der wilden Zwanzigerjahre angesiedelt; »Die schwarze Schlange« bildet den Abschluss im Jahr 1943. Sorgfältig recherchiert lässt Brack in seinen historischen Kriminalromanen das Amüsierviertel zu Beginn des 20. Jahrhunderts auferstehen. Die Morde, die es aufzuklären gilt, sind fiktiv. Doch die damalige Atmosphäre, das tatsächliche Zeitgeschehen, die Veränderungen in Stadt und Gesellschaft – das fängt der Krimi lebendig und spannend ein.

 Zuhälterkriege und Polizeiskandal

Etwas weiter westlich die Reeperbahn hinauf auf der anderen Straßenseite, neben der legendären Kneipe »Ritze«, lag bis zum Frühjahr 2015 das Eros Center. Es war das erste Großbordell Deutschlands, gebaut 1967, zu einer Zeit, als das Geschäft mit käuflichem Sex boomte und einen Massenmarkt erreichte. Das Eros Center war Symbol und Gradmesser des Rotlichtmilieus zugleich. Lange Zeit hieß es: Wer das Eros Center beherrscht, beherrscht die Reeperbahn. Und das waren in den Siebzigerjahren die Zuhältergang GMBH und die Nutella-Bande. Sie lieferten sich einen Krieg um die Vorherrschaft, der immer brutaler wurde. Galt zunächst noch das Faustrecht, kam es in Achtzigerjahren zu Schießereien. Bekannt wurde der Auftragsmörder Werner »Mucki« Pinzner, der für eine Hamburger Kiezgröße acht Morde begangen hatte. Verurteilt wurde er nie, weil er bei seinem letzte Verhör den Untersuchungsrichter, seine Frau und sich selbst erschoss. Ein besonders dunkles Kapitel der Reeperbahn und der Stadt Hamburg.

Frank Göhre, der mehrfach preisgekrönte Drehbuchautor und Meister der deutschsprachigen Noir, hat diese Ereignisse seiner »Kiez-Trilogie« zugrunde gelegt. In den Romanen »Der Schrei des Schmetterlings«, »Der Tod des Samurai« und »Der Tanz des Skorpions« rollt er das Geschehen auf und verzahnt dabei gekonnt Fiktion und Fakten. Präzise und mit sensibler Klarheit schildert er die Zuhälterkriege, den Hamburger Polizeiskandal der Achtzigerjahre und die Anfänge der organisierten Kriminalität und erschafft so – dunkel, hochspannend und mitreißend – ein scharfsichtiges Soziogramm des Rotlichtmilieus, der Stadt und der damaligen Gesellschaft.

Andere Zeiten, andere Verbrechen, andere Krimis

Seit Ende März 2015 ist das Eros Center geschlossen. Das Geschäft mit dem käuflichen Sex läuft schlecht. Was früher eine Goldgrube war, ist heute ein Zuschussgeschäft, denn auch auf der »Geilen Meile« (so auch der Titel einer sehr zu empfehlenden Sammlung von kurzen Romanen und Geschichten von Frank Göhre) setzt sich eine »Geiz-ist-geil«-Mentalität durch: Gleich neben dem Billig-Bordell »Geizclub« ist eine Filiale von MacDonalds, ein Hostel und eine Spielhalle folgen. Das große Geld ist hier nicht mehr zu machen.

Diese Veränderungen spiegeln sich in den Kriminalromanen von Simone Buchholz wider. Schräg gegenüber des ehemaligen Eros Center, ein wenig zurück in östlicher Richtung, liegt der Hans-Albers-Platz. Hier irgendwo, nicht weit von der berühmt-berüchtigten Herbertstraße , nah der Davidwache, liegt die (fiktive) Lieblingskneipe von Simone Buchholz’ Hauptfigur: Staatsanwältin Chastity Riley ist eine Frau mit ungewöhnlichem Namen und wundgescheuertem Herzen, die sich in vielem sehr angenehm abhebt von den üblichen Frauenfiguren in Kriminalromanen. Buchholz, die selbst auf Sankt Pauli wohnt, schildert das Kiez-Leben mit Herz und Hirn, zeigt den weichen Kern, der oftmals hinter der rauen Schale liegt. Ein buntes und ungewöhnliches Viertel, auch nicht ungefährlich – doch die wirklichen Verbrechen haben hier keinen Platz mehr: Sie finden sich – zumindest in »Bullenpeitsche«, dem aktuellen Krimi von Simone Buchholz – im neuen Wahrzeichen Hamburgs, der Hafencity. Statt um Drogenhandel und Prostitution geht es heute um Immobilienschacherei und Korruption. Die Zeiten ändern sich – ebenso wie die Stadt, ihre Kriminalität und ihre Kriminalromane.

Kirsten Reimers

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Robert Brack/Virginia Doyle: Die rote Katze
Heyne 2005
Tb., 415 Seiten, 8,95 Euro
ISBN 978-3-453-43095-2
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Robert Brack/Virginia Doyle: Der gestreifte Affe
Heyne 2006
Tb., 415 Seiten, 8,95 Euro
ISBN 978-3-453-43190-4
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Robert Brack/Virginia Doyle: Die schwarze Schlange
Heyne 2007
Tb., 428 Seiten, 8,95 Euro
ISBN 978-3-453-43243-7
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Frank Göhre: Die Kiez-Trilogie
Pendragon 2011
Tb., 732 Seiten, 16,95 Euro
ISBN 978-3-86532-259-3

Frank Göhre: Geile Meile
Pendragon 2013
Tb., 507 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-86532-365-1

Simone Buchholz: Bullenpeitsche
Droemer 2013
Tb., 223 Seiten, 12,99 Euro
ISBN 978-3-426-22643-8
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 Dieser Beitrag ist zuerst erschienen auf den Seiten
des Goethe-Instituts

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