»Ich weiß am Anfang nicht, wie es ausgeht«

Christine Lehmann über Krimis und das Schreiben

Christine Lehmann gehört zu den profiliertesten Krimischriftstellerinnen Deutschlands. Seit Anfang den neunziger Jahren schreibt sie Krimis, aber die vielseitige Autorin hat auch Liebesromane und Jugendbücher veröffentlicht, hat sich an diversen Anthologien beteiligt und Krimihörspiele für den SWR (Stichwort Radio Tatort) verfasst. Dazu kommen Glossen und Aufsätze.

Im September ist »Mit Teufelsg’walt« erschienen, ihr achter Krimi um die sehr eigenwillige Ermittlerin Lisa Nerz (hier geht’s zur Besprechung des Buches auf Mord-und-Buch.de), der einen ebenso präzisen wie schonungslosen Blick auf die Macht- und Gewalt- verhältnisse in Familien und Fürsorgeeinrichtungen wirft.

 

Frau Lehmann, Sie schreiben Krimis, die bei Ariadne herauskommen; Sie haben Liebesromane bei Knaur veröffentlicht; Sie haben ein Jugendbuch geschrieben. Das ist sehr vielfältig. Wie bekommen Sie das alles unter einen Hut?

Krimis, Jugendbücher und Liebesromane sind natürlich drei völlig unterschiedliche Dinge, die aber … Nun: In den einen geht es mehr um die Liebe oder das Miteinander der Geschlechter, in den anderen mehr um das Drama zwischen den Geschlechtern. Es fällt mir eigentlich nicht schwer, das für mich zu trennen. Ich kann gar nicht erklären, wie ich das mache, ich meine, ich schreibe halt eins nach dem anderen. Das ist eher das Problem. Es ist vor allem eine Zeitfrage. Es sind halt verschiedene Bereiche, mit denen ich spiele, unterschiedliche Lebenswelten, in die ich mich eindenke. Das macht sehr viel Spaß.

Ihre Romane spielen eher im Ostseeraum, Lisa Nerz dagegen ermittelt in Stuttgart und Umgebung. Warum?

Bei Krimis gibt es ja seit mindestens zehn Jahren die Tendenz, sie lokal zu verankern. Dem kann ich mich auch nicht entziehen, und irgendwo müssen Krimis ja spielen. Ich lebe in Stuttgart, insofern liegt es einfach nah. Die Krimis, die in Stuttgart spielen, verkaufen sich in Stuttgart auch deutlich besser. Die Liebesromane an der Ostsee … das ist halt eine schöne Landschaft. Mecklenburg-Vorpommern ist wirklich ein wunderbarer Landstrich. Und Liebesromane – da darf man sich auch nichts vormachen – sind Romane, die in einer schönen Landschaft spielen mit guten Menschen. Darum passt das besser zusammen.

Sie haben bei Volker Klotz über ein literaturwissenschaftliches Thema promoviert – worum ging es da?

Um den Tod von Romanheldinnen. Effi Briest ist die Bekannteste, Madame Bovary kennen wir auch, und es gibt viele, viele Romanheldinnen, die – vor allen Dingen im 19. Jahrhundert – am Ende des Romans sterben, und zwar immer dann, wenn sie außerehelichen Sex hatten. Wenn nicht, dann nicht. Ganz einfaches Prinzip. Das habe ich das »Modell Clarissa« genannt. Warum bringen die Autoren ihre Frauen immer um am Schluss des Romans? Weil sie aufbegehren und ausscheren. Das ist ein altes patriarchalisches Denkmuster.

Wie sind Sie von der Literaturwissenschaft zum belletristischen Schreiben gekommen?

Gar nicht. Ich wollte schon immer Schriftstellerin werden. Dass ich eine Dissertation verfasst habe, war eine ganz andere Sache. Ich habe halt irgendwann angefangen, Krimis zu schreiben. Einfach nur deshalb, weil ich sie gern gelesen habe, und auch, weil man Krimis sehr viel leichter bei einem Verlag unter bekommt. Das ist mir zwei Mal mit dem berühmten unverlangt eingesandten Manuskript gelungen. Und dann fährt der Zug halt los. Ich habe Lisa Nerz erdacht, und die ist, wie sie ist. Sie entwickelt sich jetzt immer weiter und ist auch nicht mehr zu ändern oder zu bremsen. Diese Figur ist ja was ganz Eigenes, eine, die den Geschlechterkonflikt in sich trägt und austrägt und sich nicht festlegen lassen will. Eine, die protestiert und die bestimmte Verhaltensmuster aufzeigt, indem sie sie stört oder unterbricht.

Aber Sie schreiben Krimis nicht nur, weil sie sich leichter verkaufen lassen, oder?

Das Verkaufsargument ist immer ein gutes Argument, denn für die Schublade schreibt man nicht gern. Aber im Krimi ist natürlich auch immer das gesamte Menschheitsdrama drin. Verrat und Tod und Schuld. Das ist spannend, weil man da Geschichten erzählt, die man normalerweise nicht erlebt. Kaum einer von uns hat schon mal eine Leiche gesehen, und kaum jemand hat direkt mit einem Verbrechen zu tun. Geschweige denn mit dessen Aufklärung, es sei denn, man ist Polizist. Aber im Krimi kann ich dabei sein. Im Krimi kann ich leiden, kann ich böse sein, kann ich gut sein, kann ich eine Welt, die aus den Fugen geraten ist, wieder in Ordnung bringen, indem ich den Schuldige bestrafe. Das kann ich in einem normalen literarischen Roman nicht in diesem Maße.

Ihre Krimis sind immer sehr präzise angesiedelt im Heute, in der gesellschaftlichen Realität. Sie machen ja keine Regionalkrimis, die die Sehenswürdigkeiten aufzählen, sondern weit eher exakt verortete Stadtkrimis …

Stadtkrimi ist ein schöner Begriff. Ich suche mir für einen Krimi immer ein Thema, das mich interessiert. Zum Beispiel bei dem Jüngsten: »Mit Teufelsg’walt«. Da geht es um Kinder, die vom Jugendamt in Obhut genommen werden. Und um das Verhalten des Jugendamtes. Das hat eine sehr, sehr große Macht, die wir nicht stoppen können. Das Jugendamt wird von niemandem kontrolliert. Auf die Spur dieses Themas bin ich gekommen, als ich im Fernsehen einen Bericht gesehen habe über Inobhutnahmen von Jugendämtern, die morgens um sechs in Wohnungen eindringen und Kinder mitnehmen. Regelrecht einfallen und die Kinder mitnehmen. Das fand ich so ungeheuerlich, dass ich angefangen habe, eine Geschichte dazu zu schreiben. Das ist sicherlich gesellschaftskritisch, also nicht nur kritisch dem Jugendamt gegenüber, sondern hinterfragt auch, wie wir mit unseren Kindern umgehen, mit den vernachlässigten Kindern oder den Kindern, die in Gefahr geraten. Natürlich spielt der Krimi in Stuttgart, aber mein eigentliches Anliegen war, sowohl meine eigenen Gefühle Kindern gegenüber sozusagen zu spiegeln, wie auch die gesellschaftlichen Gefühle Kindern gegenüber aufzuzeigen. Welche Verantwortung übernehmen wir, welche übernehmen wir nicht. Welche Macht haben wir, welche Macht üben wir aus. Es geht im Krimi eigentlich immer um Gewalt, und gerade in »Mit Teufelsg’walt« geht’s um Gewalt auf vielfältigen Ebenen. Staatliche Gewalt zum Beispiel oder elterliche Gewalt.

Und auch um das, was das mit den Kindern macht …

Elterliche Gewalt ist ja ein juristischer Begriff, der besagt, die Eltern bestimmen darüber, was die Kinder machen. Das kann aber auch körperliche Gewalt sein im schlimmsten Fall, und selbst die Gewalt, die nicht mit Schlägen arbeitet, ist eine Gewalt. Kinder stehen einfach am untersten Ende unserer Machtstrukturen. Das sind diejenigen, die am allerwenigsten Macht haben. Und sie reagieren natürlich, wenn sie Macht und Demütigung erfahren. Das ist inzwischen längst gesellschaftliche Wahrheit. Das sind die Dimensionen, die ein Krimi bekommen kann.

Wie gehen Sie vor, wenn Sie ein Thema gefunden haben?

Bleiben wir mal bei »Mit Teufelsg’walt«. Da war am Anfang der Fernsehfilm, den ich zufällig gesehen habe, ein Thema, über das man sich aufregt. Dann geht man ins Internet und guckt nach, wie viele Fälle dieser Art es eigentlich gibt. Und dort stößt man auf Diskussionen, auf bestimmte Fälle – man begegnet plötzlich Ungeheuerlichkeiten, von denen man bislang dachte, das könne gar nicht sein. Dann frage ich Manfred Büttner, der mich seit Jahren in rechtlichen Fragen berät : Ist das wirklich möglich, juristisch zum Beispiel? Bei »Mit Teufelsg’walt« wollte ich zum Beispiel von ihm auch wissen, wie man eigentlich am besten betrügen kann, wenn man mit Kindern zu tun hat. Wie muss man zum Beispiel ein Kinderheim konstruieren, um damit einen Betrug zu begehen.

So wächst das dann nach und nach?

Ja. Und am Schluss – also, ich weiß am Anfang nicht, wie es ausgeht. Ich kenne auch den Täter nicht. Ich begebe mich mit meinen Figuren auf eine Reise, und im Laufe der Zeit beginnen diese Figuren zu handeln und ein Eigenleben zu entwickeln. Das war bei »Mit Teufelsg’walt« ganz extrem so. Da war ich am Schluss auch richtig mitgenommen; das Ende hat mir nicht gefallen. Also, den Täter, den ich dann zum Schluss hatte. Aber es musste zwangsläufig so sein. Es ging nicht anders.

Sie wissen am Anfang wirklich nicht …

Nein.

Aber wenn Sie fertig sind, dann lesen Sie noch einmal alles, um zu gucken, ob es auch zusammenpasst?

Ja, natürlich. Ich korrigiere dann vorne einiges, aber meistens ist es so, dass ich gar nicht viel verändern muss. Ich lausche den Geschichten, die die Personen in sich tragen. Deswegen ist es für mich ganz wichtig, am Anfang Figuren zu konstruieren, die selbst eine Geschichte in sich tragen, die wirkliche Persönlichkeiten sind. Und in Familien, in den Beziehungen von Müttern, Töchtern, Söhnen, Vätern – da steckt unglaublich viel Konfliktpotenzial drin.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Kirsten Reimers

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