Chaosidylle mit finnischem Bestatter

Herbst in Bochum – und nicht nur die Blätter fallen

Seit sie das Drehbuch zu einem »Tatort« vermasselte, lebt Drehbuchautorin Maggie Abendroth im selbstgewählten Exil in Bochum. Schreibblockade, permanenter Geldmangel und ein sehr chaotisches Leben zwischen skurrilen Ruhrpottgestalten und einem finnischen Bestatter prägen seitdem ihren Alltag. Und Todesfälle. In »umgenietet«, dem dritten Band mit der chronisch vernörgelten, überdrehten Ermittlerin wider Willen, verschwindet zunächst Herrmanns, Stammgast an Oma Bertis Kiosk, um wenig später schwer verletzt wiedergefunden zu werden. Hat das etwas mit seiner eventuellen Verwandtschaft mit Winston Churchill zu tun, wie Borowski, Herrmanns Lebensabschnittsbegleittrinker, vermutet?

Doch richtig zur Sache geht es erst, als ein bekannter Sammler alter Musikinstrumente ausgerechnet von Borowski tot aufgefunden wird. Dazu kommt ein verschwundenes altes Musikinstrument, zerschlagenes Porzellan und fatale Fingerabdrücke auf Herrmanns Flachmann. Um das Chaos perfekt zu machen, taucht Maggies Ex, der Knipser (bekannter Starfotograf) wieder auf und säuselt Verführerisches. Ausgerechnet in dieser verfahrenen Situation sind weder Freundin und Frisöse Wilma noch Freund und Kommissar Winnie da, um zu helfen, zu retten, aufzufangen.

Gut getimter Balanceakte ohne Abwege in Albernheiten

Wie die Vorgängerbände »totgepflegt« und »abgemurkst« besticht auch dieses Buch durch angenehme Überspanntheit und verqueren, rauen Charme. Handlung wie Charaktere sind auf die Spitze getrieben, immer leicht hysterisch, ohne aber ins Alberne umzukippen. Dafür haben die Mincks ein sehr feines und sicheres Gefühl. Nie wird die Grenze zur Klamotte überschritten. Ein sehr witziger Balanceakte, der auf Schenkelklopfer verzichten kann und stattdessen durchgehend überdrehtes Amüsement bietet. Nichts Süßliches hebt das auf unerträglich herzige Ebene, sondern die Figuren zicken und murren sich an, dass es eine Freude ist. Wahrheitsgetreue Wirklichkeitswiedergabe ist nicht das Ding der Bücher, Wahrscheinlichkeit reicht schon vollkommen. Da verzeiht man den zart absurden Whodunits gern, dass sie den Mordfall nicht gerade neu erfinden und Kommissar Zufall ein wenig viel zu tun bekommt.

Kirsten Reimers

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minck & minck: umgenietet.
Maggie Abendroth und der alten Narren tödliches Geschwätz
Droste Verlag 2009
brosch., 348 Seiten, 10,00 Euro
ISBN: 978-3-7700-1290-9


Mord mit komplexem Ursachenwurzelwerk

Selbst die Verbrechen geschehen in Pajala auf Finnisch

Es beginnt wie ein typischer Schwedenkrimi: Im hohen Nordosten Schwedens, in der Kleinstadt Pajala an der Grenze zu Finnland, wo ein gegen die Tür gelehnter Besen das Türschloss ersetzt, dort in der vermeintlich sicheren Idylle ist ein entsetzlicher Mord geschehen. Ein alter Mann wurde in seinem eigenen Bett mit einem Lachsspeer erstochen. Sehr blutig. Einen Teil der Leiche hat der Täter auf der Herdplatte in der Küche verschmoren lassen. Sehr eklig. Aus dem Süden, der Hauptstadt Stockholm, reist die Kriminalkommissarin Therese Fossnes an, um den Fall zu lösen – eine junge Großstädterin, die sich als Weltbürgerin ohne Wurzeln versteht, eine unabhängige Frau ohne beschwerende Bindungen. Nicht nur die Provinzialität macht ihr in Pajala zu schaffen. Besonders irritierend ist es für Fossnes, dass sie einen Dolmetscher braucht, um Verhöre zu führen. Natürlich können die Menschen hier Schwedisch sprechen – doch manche wollen nicht. Sie halten am Meänkieli, dem Tornedalfinnisch, dem lokalen finnischen Dialekt, fest.

»Sano se meänkielelä«, unterbrach Esaias.
»Er möchte, dass du das auf Finnisch sagst«, übersetzte Eino.
»Auf Torndealfinnisch«, korrigierte Sonny.
Eine Weile herrschte sonderbares Schweigen. Zum Schluss räusperte sich Kenneth Mikko.
»Hm … Mein Mandant hat das Recht auf einen Dolmetscher.«
»Aber er ist doch Schwede!«, widersprach Therese.
»Tornedalfinnisch ist vom Schwedischen Reichstag als Minoritätensprache anerkannt worden. Also hat er innerhalb des Distrikts Pajala das Recht auf Hilfe durch einen Dolmetscher.«
(…)
»Okay«, sagte Therese verbissen. »Eino kann übersetzen, ist das in Ordnung?«
»Natürlich kann ich übersetzen«, sagte Eino. »Mie käännän.«
Esaias schüttelte den Kopf, schief grinsend.
»Mie tartten puoluettoman tulkin.«
»No mitäs perkele sie höpiset«, zischte Eino, »kyllä piru vietä mie tiiän ette sie ossaat routtia! Verflucht, ich weiß ganz genau, dass du Schwedisch kannst!«
»Puoluettoman tulkin«, wiederholte der Anwalt lächelnd. »Ein neutraler Dolmetscher.«

Entscheidungen am Reißbrett, Unterdrückung im Alltag

Als Leser wird einem bald schon klar: Die Krimihandlung ist nur Aufhänger und Rahmen, um etwas anderes zu erzählen. Im Zentrum von Niemis Buch steht ein anderer Tod: der von Kultur und Sprache des Tornedalen.. Über Jahrhunderte gehörte das überwiegend von Finnen besiedelte Tal entlang des Flusses Torne älv zu Schweden. Doch im Jahr 1809 fiel das rechte Flussufer zusammen mit Finnland an Russland, eine Entscheidung des russischen Zaren nach dem russisch-schwedischen Krieg. Zurück blieb auf schwedischer Seite eine finnischsprechende Minderheit, isoliert von ihrer ursprünglichen Kultur.

Da die Wurzeln des aktuellen Verbrechens bis in das 19. Jahrhundert reichen, ergänzt Niemi seine Krimihandlung durch Exkurse in die Linguistik, in die Geschichte Schwedens, er stellt Überlegungen an, wie anders das Schicksal der Tornedaler verlaufen wäre, wenn der Zar einen anderen Fluss als Grenze bestimmt hätte. Wir sind auch Zeuge, wie am 2. November 1888 der schwedische König Oscar II. beschließt, dass in den Schulen künftig ausschließlich Schwedisch als Unterrichtssprache zugelassen ist – zur Stärkung der nationalen Identität.

Was folgt, ist das typische Schicksal einer Minderheitensprache in Europa. Die Entscheidungen auf Regierungsebene haben Konsequenzen bis in den Alltag, bis in die Psyche der Bewohner des Landes. Denn nun gibt es eine richtige und eine falsche Kultur. Die untergeordnete Minderheitenkultur wird von der Herrenkultur verfolgt und geächtet. Unterdrückung und Misshandlung sind die Folge – durch Lehrer, Beamte, Nachbarn. Die Minderheit passt sich an, ändert den finnischen Nachnamen in einen schwedischen, die Kinder lernen nicht die Muttersprache der Eltern, sondern Schwedisch, damit sie es später einmal besser haben, damit sie echte Schweden ohne Sprachbarriere werden können. Ein Riss tut sich auf zwischen den Generationen, der Sprache und Gebräuche umschließt. Eltern und Kinder können einander buchstäblich nicht mehr verstehen. Eine weitere Kluft entwickelt sich zwischen denen, die die alte Sprache erhalten wollen, und denen, die sie bekämpfen.

Verbindendes Wurzelwerk

Wie schon in »Populärmusik aus Vittula« interessiert sich Mikael Niemi für die Frage der kulturellen Identität, das Leben in zwei Kulturen und die Konsequenzen für den Einzelnen daraus. Schließlich stammt er selbst von dort, aus Pajala, und hat wie die meisten Tornedaler seiner Generation Finnisch erst im zweiten Bildungsweg erlernt. In der Kommissarin Therese und ihrem Hauptverdächtigen Esaias stehen sich die Vertreter unterschiedlicher Konzepte gegenüber: Großstadt und Land, Wurzellosigkeit und Verbundenheit, Moderne und Tradition. Niemi entwirft eine Vision, wie sich Gegensätze und Unterschiede verbinden lassen, ohne dass ein Element sich dem anderen unterordnen muss. Und mit der mysteriösen Figur des Petterson erschafft er den ersten freien Tornedaler, der für die schwedische Bürokratie nicht zu erfassen ist, der in den Wäldern des Nordens archaisch, animalisch und gefährlich wirkt, sich aber im Süden gewandt, elegant und verführerisch unter den Großstädtern zu bewegen weiß.

Der Mord an dem alten Mann, einem ehemaligen Zöllner und Lehrer, fungiert als roter Faden bis hin zu seiner überraschenden Aufklärung. Gleichzeitig stellt er die Verbindung her zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen den unterschiedlichen Sprachen, den Personen. Zusätzlich erlaubt dieser rote Faden Niemi, verschiedene Elemente mit der Krimihandlung zu verknüpfen: surreale Verlängerungen in den magischen Realismus, eine Liebesgeschichte, Rückblenden in das 19. Jahrhundert, Erläuterungen der Gebräuche des Tornedal, eine Sozialgeschichte der unterdrückten Minderheit. Auch eine typisch schwedische Kulturausprägung findet so einen Platz, denn der Auftakt der Krimihandlung erinnert stark an den typischen Mankell-Krimi: viel Blut und Innereien, ein Opfer, das sich bei genauerer Betrachtung als Ekel erweist, unter der glatten Oberfläche kaputte Familienstrukturen, pädophile Widerwärtigkeiten, Machtmissbrauch, Hass, Alkoholismus – so perfekt gesetzt, dass es schon wieder ironisch überzogen wirkt. Dieses komplexe Gebilde fasst Niemi in intensiven, sinnlichen Bildern, die Geräusche, Gerüche, Farben erlebbar machen. Wunderbar skurril, melancholisch, spannend, mit trockenem Witz und viel Liebe für das Tornedal.

Kirsten Reimers

Mikael Niemi: Der Mann, der starb wie ein Lachs
Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt
btb Verlag 2008
geb., 352 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-442-75198-3
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Teuflische Knochen

Stimmungsmache mit und ohne Schädel

Im Keller eines renovierungsbedürftigen Hauses in Charlotte, North Carolina, wird ein obskurer Altar aus kupfernen Kesseln mit totem Huhn, mehreren eigenartigen Dingen, Knochen und einem menschlichen Schädel gefunden. Die hinzugerufene forensische Anthropologien Temperance Brennan stellt fest, dass Kopf und Knochen von einer jungen Frau stammen müssen, wahrscheinlich einer Schwarzen. Alles spricht dafür, dass Santería im Spiel ist, eine synkretische Religion, die naturreligiöse Elemente mit katholischen vermengt.

Wenig später wird die kopflose Leiche eines jungen Mannes an einem Flussufer entdeckt. In seine Brust und seinen Bauch wurden satanische Zeichen eingeritzt. Die Polizei fragt sich, ob beide Fälle zusammenhängen. Womöglich gibt es gar eine Verbindung zu einem alten Fall, in dem Palo Mayombe, die schwarzmagische Variante von Santería, eine Rolle spielte. Zudem wurde die Leiche in der Nähe einer Versammlungsstätte von Wiccanern, Anhängern einer Hexenreligion, gefunden.

Wie sich schnell klären lässt, handelt es sich bei dem Toten um einen siebzehnjährigen Stricher. Vieles deutet darauf hin, dass der Mord einen kultischen Hintergrund hat. Aber die Hinweise sind schon fast zu viele und zu verworren. Bevor Fakten als gesichert gelten können, nutzt ein populistischer Politiker, der sich im Wahlkampf befindet – und obendrein ein erzkonservativer christlicher Prediger ist -, die ungeklärten Fälle, um Stimmung zu machen: gegen Andersgläubige, gegen Homosexuelle, gegen eine liberale Haltung, gegen alles, was sich nicht mit einer strenggläubigen Bibelauslegung vereinen lässt. Die Folgen sind fatal.

Aufmerksamer Blick auf die Gegenwart

Im Original heißt das Buch »Devil Bones«. Das trifft Inhalt und Thema deutlich besser als der eher beziehungslose deutsche Titel. Komplex und opak ist der elfte Fall, in dem Kathy Reichs ihre Hauptfigur Tempe Brennan ermitteln lässt. Wie diese arbeitet auch die Autorin als forensische Anthropologin in Charlotte, North Carolina, und im kanadischen Montreal. Sie weiß also genau, worüber sie schreibt. Reichs ist außerdem Professorin für Soziologie und Anthropologie. Ihre Bücher sind stets sorgfältig recherchiert, die Plots gut durchdacht und die Handlung weitgehend realistisch motiviert.

Reichs greift aktuelle Strömungen und Themen in Gesellschaft wie Medien auf und durchleuchtet und hinterfragt sie. Dies geschieht in unaufgeregter und nüchterner Manier. Schließlich sind Tempe Brennan und Kathy Reichs Wissenschaftlerinnen, die sich ihrem Gegenstand analytisch-distanziert nähern. Das heißt aber nicht, dass die Bücher herzlos oder steril wirken. Sie sind durchaus warmherzig, aber nicht hysterisch oder mysteriös aufgeladen. Meist ist das Geschehen eingebettet in größere Zusammenhänge, auch die Verbrechen sind selten die Taten einiger weniger Fehlgeleiteter, »Böser«, sondern basieren auf persönlichen wie gesellschaftlichen Ursachen. Dadurch gelingt es Reichs, solide Unterhaltung mit einem aufmerksamen Blick aufs Heute zu verbinden.

Das aktuelle Buch ist allerdings emotionaler und undurchsichtiger als die Thriller zuvor. Tempe Brennan – keine Superfrau, sondern engagierte Wissenschaftlerin mit Macken und Schwächen, trockene Alkoholikerin – gerät durch Verschiedenes derart aus dem Tritt, dass sie einen Rückfall in ihre Sucht erlebt und ihren Job verliert. Dem inneren Chaos steht ein äußeres gegenüber: Auch die Fälle scheinen undurchdringbar und zäh. Spuren überkreuzen sich und verlieren sich schließlich doch im Nichts, Greifbares ist nicht zu fassen, alles wirkt verschwommen. Motive, Opfer, Täter – das bleibt alles lange unklar. Um dann am Ende etwas arg überraschend geklärt zu werden.

Doch bei aller diffuser Linienführung: Reichs‘ Thriller ragt aus der Massenware wohltuend heraus, was Plot, Motivation und Sprache anbelangt. Und er ist eine klare Absage an Selbstjustiz, die viele Thriller unreflektiert offen oder verdeckt propagieren. Kathy Reichs‘ Buch ist ein deutliches Plädoyer für Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Demokratie.

Kirsten Reimers

Kathy Reichs: Der Tod kommt wie gerufen
Aus dem Englischen von Klaus Berr
Karl Blessing Verlag 2008
geb., 352 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-89667-322-0
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Shakespeare auf kleiner Flamme

»Der Sturm« im Wasserglas

Eigentlich möchte Albert Crosetti an der Filmakademie der Universität New York studieren. Weil dem 28-Jährigen aber das Geld dafür fehlt, jobbt er in Midtown Manhattan in einem Antiquariat. Durch Zufall entdeckt er im Einband eines alten Buches mehrere Briefe. Offenbar stammen sie aus dem 17. Jahrhundert, verfasst von einem Mann namens Bracegirdle, der behauptet, im Auftrag der damaligen britischen Regierung William Shakespeare ausspioniert zu haben. Die Mehrzahl der Briefe ist chiffriert. Enthalten sie vielleicht die Berichte, die Bracegirdle seinen Auftraggebern sandte?

Auf Anraten seiner Kollegin Carolyn – seinem heimlichen Schwarm – überlässt Albert einen Brief dem Shakespeare-Experten Prof. Bulstrode. Zu einem lächerlichen Preis, wie er im Nachhinein feststellt. Denn die alten Dokumente bergen das Potenzial, die Shakespeare-Forschung von Grund auf zu revolutionieren. Und was noch entscheidender ist: Sie enthalten einen Hinweis auf ein bislang unbekanntes Theaterstück von Shakespeare, womöglich erhalten in seiner eigenen Handschrift. Dieses Manuskript – wenn es denn tatsächlich existiert – wäre das vermutlich wertvollste Schriftstück der Welt.

Eine solche potenzielle Sensation zieht natürlich Kreise: Selbst die Russenmafia ist auf einmal hinter den Briefen her, Professor Bulstrode wird zu Tode gefoltert – und Albert findet sich in Begleitung des etwas dubiosen Anwalts Jake Mishkin auf der Jagd nach weiteren Hinweisen auf dem Weg zum Manuskript.

Limbo statt Stabhochsprung

»Der Name der Rose« von Umberto Eco und »Sakrileg« beziehungsweise der »Da Vinci Code« von Dan Brown dürften im Hinterkopf des Autors Michael Gruber Quartier bezogen haben. Ist ja auch eine schöne Idee: ein intelligentes Puzzle nicht im Vatikan-, sondern im Literaturmilieu, nicht im Mittelalter, sondern im Heute spielend. Mit Eco und Brown ist eine recht ausgedehnte Niveau- und Gestaltungsspannbreite aufgezogen, dazu noch Shakespeare, der mit seiner ihm zugewiesenen Zentralstellung unweigerlich als Vergleich mitschwingt – damit ist die Messlatte auf einer Höhe eingehängt, die nicht so leicht zu überspringen ist. Gruber rauscht dementsprechend auf halber Höhe unten durch.

Seine Jagd nach dem alten Manuskript ist – trotz des ermordeten Professors – überwiegend harmlos-heiter. Manches erinnert an ein Possenspiel – der Anwalt mit seiner bühnenreifen Familie und dem eigenwilligen familiären Experiment zum Beispiel; dazu kommen ein oder zwei Femmes fatales; den Chef der Russenmafia umgibt ein Hauch Mephistopheles; schließlich noch ein paar schräge Figuren aus der Literaturbranche – und schon ist ein buntes Bühnenensemble beisammen. Da wir uns aber im 21. Jahrhundert befinden, wird der Verweis aufs Theater offenbar als nicht mehr zeitgemäß angesehen: Stattdessen gibt es Filmzitate und Hinweise auf Filmtechniken. Vielleicht fürchtet der Autor, dass Zitate aus der Theaterwelt vom heutigen Lesepublikum nicht mehr verstanden werden – oder er kennt sich selbst damit nicht aus.

Kleinbürgertum statt Mysterium

Hätte er sich mal selbst an seine Filmperspektive gehalten. Hätte er sich als Messlatte lieber »Shakespeare in Love« gewählt, als ausgerechnet auf den »Sturm« anzuspielen. Sich mit einem Meister in Sachen Vieldeutigkeit messen zu wollen – da darf man nicht auf Eindeutigkeiten herumkrabbeln. Grubers Figuren sind zwar im ersten Moment charakterlich nicht ganz klar einzuordnen – aber letztlich reicht ein zweiter Blick, um festzustellen, dass alle miteinander herzensgut sind. Keinerlei Ambivalenzen, nirgendwo. Auch der Plot, erst recht das mysteriöse Manuskript und seine Existenz lassen keinen Raum für Spekulationen. Es ist sogar vorgezeichnet, wie das unbekannte Drama zu interpretieren ist.

Nicht einmal Shakespeare selbst wird seine Uneindeutigkeit als Person und Dramatiker belassen. Was bei »Shakespeare in Love« als pure Phantasie Charme entfalten konnte, wird hier in Ernsthaftigkeit ausgebreitet: So stellt sich also Gruber den echten Shakespeare vor – bis hin zu Haushaltsführung und Religiosität. Alles, einfach alles wird ausgedeutet und vorhersehbar auf festen Boden geschubst. Komplett entzaubert. Das »Mysterium Shakespeare« (Grubers eigene Worte) zum Kleinbürger gestutzt. Spätestens da ist klar, dass sich die ganze Geschichte in Belanglosigkeit verliert. Wenn am Ende dann jeder Topf seinen Deckel findet und jedem Gerechtigkeit und Wohlstand widerfährt, ist unbezweifelbar: Hier gibt es kein Spiel, keine Doppelbödigkeit, keine Tiefe, sondern – bei aller Farbigkeit – nur mickrige Banalitäten. Nicht mal für ’ne Luftnummer hat’s gereicht.

Kirsten Reimers

Michael Gruber: Shakespeares Labyrinth
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Seeberger
Aufbau Verlag 2009
HC, 583 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-351-03233-3

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Die Grenzen des Verzeihens

Die fatalen Folgen neoliberalen Ablasshandels

Noch nicht angekommen, noch auf der Suche, in der Warteschleife. Noch nicht bereit, die Rolle des erwachsenen Kindes gegen Verantwortung und Festlegung zu tauschen. So leben die Brüder Kris und Wolf, die Freundinnen Frauke und Tamara. Alle Ende zwanzig, Anfang dreißig. In Berlin. Aber dennoch muss ja Geld hereinkommen, Gelegenheitsjobs befriedigen auf Dauer nicht. Also gründen die vier Freunde eine Agentur, die einen sehr eigenen Service anbietet.

– Könnt ihr euch vorstellen, was den Leuten da draußen fehlt? (…) Es gibt eine Sache, sagt er [Kris], die die Bosse und Macher vermissen und mit der sie überhaupt nicht klarkommen. Es gibt eine Sache, die wie ein dunkler Schatten über ihrem Leben hängt und ihnen jeden Tag in ihren Latte macchiato pinkelt. Davor schützt sie kein Reichtum (…).
Kris sieht einen nach dem anderen an. Es ist offensichtlich, dass keiner von ihnen eine Ahnung hat, wovon er spricht. Also streckt Kris ihnen seine rechte Hand entgegen. Handfläche nach oben, wie ein Angebot.
– Sie können sich nicht entschuldigen, sagt er. Und genau das werden wir ihnen anbieten. Entschuldigungen im Überfluß, zu einem verdammt guten Preis.

Rückstandslose Gefühlsbeseitigung

Die Bitte um Verzeihung. Ein gutes Gewissen für jemanden, den Schuldgefühle drücken. Ein gutes Gefühl für den, dem Unrecht widerfahren ist. Ein angemessenes Honorar für die Agentur. Klingt nach einem guten Geschäft. Eine Win-Win-Situation. Und der Job ist eine Kleinigkeit für die vier Freunde. Denn Kris und Wolf, die »Vertreter des Verzeihens«, finden immer die richtigen Worte, besonders Kris. »Vergebung kennt keine Grenzen« – so lautet das Motto der Agentur.

Sorry. Wir sorgen dafür,
dass Ihnen nichts mehr peinlich ist.
Fehltritte, Missverständnisse,
Kündigungen, Streit & Fehler.
Wir wissen, was Sie sagen sollten.
Wir wissen, was Sie hören wollen.
Professionell & diskret.

Wie verführerisch: Das schlechte Gewissen, der Druck auf dem Gemüt verschwindet gegen die Zahlung eines entsprechenden Geldbetrags. Mehr muss man nicht machen, um sich wieder besser zu fühlen. Die Agenten des Verzeihens übernehmen die Schuld – ohne innerlich beteiligt zu sein, ohne eine Verantwortung zu tragen – und entsorgen sie. Rückstandsloses Beseitigen unangenehmer Gefühle. So einfach. Und so zynisch.

Innerhalb kurzer Zeit floriert das Geschäft. Der Bedarf an Entlastung ist hoch. Schon bald können sich die vier Freunde eine alte Villa am Kleinen Wannsee leisten. Alles läuft wunderbar – bis jemand ihre Dienste in Anspruch nimmt, der eine unverzeihliche Schuld auf sich geladen hat. Er verlangt, dass die Agentur sich bei Menschen entschuldigt, die er kurz zuvor getötet hat. Indem er droht, ihren Familien etwas anzutun, zwingt er Kris, Frauke, Wolf und Tamara, die Leichen zu beseitigen. Immer tiefer verstricken sich die vier in ein komplexes Netz aus Schuld und Lügen. Immer unentrinnbarer geraten sie in etwas, dass sie nicht kontrollieren können.

Neoliberaler Ablasshandel

Zoran Drvenkar ist vor allem für seine Kinder- und Jugendbücher bekannt. Aber er schreibt auch anderes, zum Beispiel das Drehbuch zu »Knallhart«, 2006 verfilmt unter der Regie von Detlev Buck. Und nun »Sorry«. In unprätentiöser Sprache wird die komplexe Handlung aus mehreren Perspektiven geschildert. Neben mehreren personalen Erzählperspektiven gibt es ein »Ich«, ein »Du« und einen arrangierenden Erzähler. Das Geschehen spielt auf drei Zeitebenen: »davor«, »dazwischen«, »danach«. Das hätte schnell aufgesetzt und gespreizt wirken können. doch Drvenkar behält den Überblick und die Balance. Seine Figuren führt er souverän. Er lässt die unterschiedlichen Stimmen konsequent ihr Erleben schildern, dadurch klären sich nach und nach die Zusammenhänge und Sichtweisen.

Schuld oder Unschuld, gut oder böse, Täter oder Opfer – das ist in diesem Thriller nicht ganz einfach und offensichtlich verteilt. Menschen laden Schuld auf sich, indem sie handeln, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Aus Unbedachtsamkeit, aus Kurzsichtigkeit, aus Egoismus. So der Täter vor vielen Jahren, so heute die vier Freunde mit ihrer Agentur. In einer Gesellschaft, die immer mehr outsourced, in der Verantwortung auf das Selbst und das eigene Einkommen beschränkt ist, ist die Geschäftsidee der Agentur nur systemlogisch. Ebenso der nachfolgende Erfolg. Doch was es wirklich heißt, die Übernahme von Schuld gegen Geld zu versprechen – so weit hat niemand gedacht. Die moralischen Konsequenzen des Handelns, die Hybris dieses Ablasshandels, das wird hinter den lukrativen Verdienstchancen vergessen. Auch dies durchaus systemlogisch. Bis jemand einen Schritt weiterdenkt – und es passiert, was passieren muss.

Drvenkar ist mit »Sorry« einer der sehr seltenen spannenden und komplex durchdachten deutschen Thriller gelungen. Ebenso ein Beispiel, wie fatal es sein kann, die Ethik des eigenen Handelns nach der Höhe des Kontostands zu bemessen – und ein Kommentar, wie der Neoliberalismus die Werte und Maßstäbe des Einzelnen unbewusst verschieben kann.

Kirsten Reimers

Zoran Drvenkar: Sorry
Ullstein Verlag 2009
gebunden, 398 Seiten, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-550-08772-1
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

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