Der Serienkillerserienkiller

Mörderische Interessen gesellschaftlich sinnvoll sublimiert

Jeff Lindsay hat sich wahrlich nicht die einfachste Perspektive für seine Thriller ausgesucht: Sein Ich-Erzähler und sympathischer Held ist der Serienkiller Dexter Morgan, der tagsüber als Spezialist für Blutspritzer für die Polizei von Miami arbeitet und in seiner Freizeit Menschen metzelt. Seine Triebfeder ist sein »dunkler Passagier«, die Gier nach Mord, die Lust am Töten, die sich ans Steuer des »Dexter- mobils« drängt und die Kontrolle übernimmt, wenn der Mond voll und feist verlockend kichert.

Als Kind wurde Dexter stark traumatisiert, das legte den Grundstein zu seiner finsteren Neigung. Nach dem dramatischen Verlust seiner Mutter wurde er in die Familie von Polizist Harry aufgenommen. Dieser erkannte früh Dexters bizarre Interessen, deshalb begann er, die Leidenschaft seines Adoptivsohnes in geregelte Bahnen zu lenken: so morden, dass er keine Spuren hinterlässt; nur die morden, die es verdient haben. Und verdient haben es diejenigen, die so sind wie Dexter, nur dass sie halt wahllos reihenweise Unschuldige meucheln. So wurde Dexter zum Serienkillerserienkiller.

Es ist so plump freudsch, wie es sich anhört: Die verspielten, mörderischen Energien des Es werden durch das gestrenge Über-Ich, den internalisierten »Code Harry«, in sozial sinnvolle Bahnen gelenkt. Der Serienmörder wird zum Aufputzer der Gesellschaft. Die Fernsehserie »Dexter«, die auf den Romanen Lindsays basiert, brachte das sehr verkniffen ins Bild. So schematisch freudianisch, dass das Finale der ersten Staffel mitsamt der inneren Konflikte des Helden bis ins Detail vorhersagbar war.

Erwartungsvolles Zittern und kaum zu zügelnde Lust

Die Bücher sind zum Glück durchaus lustvoller und vielschichtiger. Zwar gilt auch hier die Grundanordnung – das Wort des Vaters ist der Leitstrahl des Sohnes -, doch ist die Begeisterung fürs Töten in den Romanen wesentlich schwärmerischer und mit einem nahezu zärtlichen Unterton versehen. Dexters Hymnen an den Mond lassen das erwartungsvolle Zittern, die Vorfreude auf das Ritual des Tötens spüren:

Mond, herrlicher Mond. Voller, feister, rotglühender Mond, die Nacht taghell, Mondschein strömt über die Landstraße und birgt Entzücken, Entzücken, Entzücken. Mit sich bringt er den volltönenden Klang der tropischen Nacht, die sanfte, wilde Stimme des Windes, der über die Härchen an deinem Arm streicht, das hohle Klagen des Sternenlichts, das zähneknirschende Bellen des Mondlichts jenseits des Wassers. Alles weckt das Verlangen.

Diese dunkle Lust lässt sich nur knapp zügeln durch die Lehren des Vaters. Und wenn sie zu stark anschwillt, dann wird die Richtschnur, nur die eigene fiese Spezies zu töten, schon mal hastig übergeworfen wie ein fadenscheiniges Deckmäntelchen: »(…) ich verlor mich in glücklicher Forschungsarbeit [an des Opfers Körper]. Letztlich waren es seine gedämpften Schreie und sein wildes Strampeln, die mich wieder zu mir brachten. Und mir fiel ein, dass ich mich bisher nicht von seiner Schuld überzeugt hatte.« Flugs nachgefragt, und weiter geht es mit Genuss. Einmal losgelassen, freut sich Dexters dunkler Passagier auf glückselige Metzelorgien mit seinen unfreiwilligen Spielgefährten. Das macht die Bücher leichtfüßiger und weniger selbstgerecht als die Über-Ich-zentrierte Fernsehserie.

Obwohl Dexter als Blutspezialist sein Auskommen findet, verabscheut er eigentlich die klebrige rote Körperflüssigkeit. Darum ist er in »Des Todes dunkler Bruder« (dt. 2005; »Darkly Dreaming Dexter«, 2004) hoch entzückt, als in Miami ein Serienkiller umgeht, der seine Opfer vollkommen blutlos hinterlässt. Ein Seelenverwandter. Wie Dexter feststellen muss, geht die Verbindung zu diesem Künstler weit tiefer, als er sich das jemals hat vorstellen können. In »Dunkler Dämon« (dt. 2006; »Dearly Devoted Dexter«, 2005) treibt ein barbarischer Folterer sein Unwesen in Miami – und wie es scheint, waren Opfer und Täter involviert in das Engagement der USA in El Salvador in den siebziger, achtziger Jahren. Und in »Komm zurück, mein dunkler Bruder« (dt. 2009; »Dexter in the Dark«, 2007) wird’s mystisch, als verbrannte Leichen auftauchen, deren Köpfe gegen tönerne Stierschädeln getauscht wurden. Außerdem wird etwas verquast metaphysisch der Ursprung des Bösen erklärt.

Nervige Konstruktionsschwäche

Lindsay schreibt mit großer Freude am treffenden Wort. Mit Sprachwitz und -macht entwirft er bunte, pralle Bilder, plaudert in munterem Ton und lässt Dexter selbstironisch und respektlos mit sich selbst und mit dem Leser plappern. Das zu lesen, bringt sehr viel Spaß, zumal alle drei Bücher von Frauke Czwikla gut übersetzt sind. Die Thrillerhandlung ist so lala, das zweite und das dritte Buch fallen in dieser Hinsicht deutlich gegen das erste ab.

Etwas nervig ist Jeff Lindsays Angewohntheit, manche Dinge immer und immer wieder zu wiederholen – als traute er dem Leser nur wenig Gedächtniskraft zu. Doch dahinter steckt zugleich eine Konstruktionsschwäche der Bücher: Zu den Topoi, die fast formelhaft wiedergekäut werden, gehört besonders der böse Grundzug in Dexters Charakter:

Ich kann nicht einmal Haustiere halten, Tiere verabscheuen mich. Einmal habe ich mir einen Hund gekauft; er bellte und jaulte zwei Tage lang in permanenter, unsinniger Wut – mich an -, bevor ich mich seiner entledigen musste. Ich versuchte es mit einer Schildkröte. Ich streichelte sie einmal; danach wollte sie nicht wieder aus ihrem Panzer hervorkommen, und nach ein paar Tagen starb sie. Sie starb lieber, als sich von mir anschauen oder berühren zu lassen.

Außerdem muss der launige Serienkiller stets betonen, wie gefühllos er ist: »Andere Menschen sind mir unwichtiger als Gartenmöbel.« Die Betonungen und Wiederholungen sind wichtig, denn sonst kann Lindsay die Mordlust seines Helden nicht unterbringen. Denn blickt man genauer hin, ist der killende Dexter, der angeblich so gern den Händen seiner Opfer ein wenig »Qualitätszeit« widmet, ein herzensguter und hilfsbereiter Kerl: Er ist die verlässliche Stütze seiner Adoptivschwester, der treue Beschützer ihres neuen Liebhabers und gar der selbstlose Lebensretter des gefährlich misstrauischen Kollegen. Zum Ausleben seiner dunklen Leidenschaft kommt er höchst selten, weil er stets für andere in die Bresche springen muss. Und kann er sich dann einmal seinem Hobby widmen, verliert der Autor nur verwaschene Worte darüber und entscheidet sich für einen Szenenwechsel.

Dafür, dass Dexter behauptet, keinerlei Emotionen empfinden zu können, ist er arg oft verwirrt, weil ihn Wellen des Gefühls überrollen. Zu allem Überfluss hat er auch noch eine Schwäche für Kinder – nein, keine mörderische, sondern eine emotionale: »(…) ich mag Kinder. Ich kann niemals eigene haben, weil Sex für mich völlig ausscheidet. (…) Aber Kinder -, Kinder sind etwas Besonderes.« Kinderlieb und keusch aus Überzeugung – das kann nur ein guter Mensch sein. Die reine amerikanische Seele.

Letztlich unbefriedigend

Und damit rutscht das orgiastische Feiern des Mondes und des Mordes, die prallen Schilderungen der Vorfreude auf die Jagd zu einer kitschigen Gartenzwergidylle in sich zusammen. Mit der Wahl des Serienmörders als tragendem Helden einer Thrillerreihe steht der Autor natürlich vor dem Dilemma, ihm etwas mitzugeben, das man als Leser mag. Doch Lindsay verdeckt das Problem, indem er dem sympathischen Kerl ein böses Charakterkleidchen aus Papier überstülpt, das bei jeder Gelegenheit zur Seite rutscht. Das ist schade angesichts der sprachlichen Intensität, die Lindsay entfalten kann: Das schönen Tönen entpuppt sich als substanzloses Wortgeklingel. Es erinnert an die Sahnecremestückchen aus Filialbäckereien: hübsch anzusehen und verführerisch duftend, aber letztlich nur fluffiges Fett, überzogen mit Zucker und Farbstoff. Von Aroma keine Spur. Zurück bleibt eine vage Unzufriedenheit.

Das erkennt auch Dexter Morgan selbst, wie er an einer Stelle eingesteht: »Ich zupfte an der weißen Papiertüte. Sie war leer. Genau wie ich; eine glatte, knisternde Oberfläche – und absolut nichts darin.«

Kirsten Reimers

Zum Bestellen bei eBook.de einfach auf den Titel klicken:

Jeff Lindsay: Des Todes dunkler Bruder
Aus dem Amerikanischen von Frauke Czwickla
Knaur 2005
Tb, 352 Seiten, 10,99 Euro
ISBN 978-3-426-62807-2
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Jeff Lindsay: Dunkler Dämon
Aus dem Amerikanischen von Frauke Czwickla
Knaur 2006
Tb, 384 Seiten, 7,95 Euro
ISBN 978-3-426-62808-9
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Jeff Lindsay: Komm zurück, mein dunkler Bruder
Aus dem Amerikanischen von Frauke Czwickla
Knaur 2009
Tb, 432 Seiten, 7,95 Euro
ISBN 978-3-426-50035-4
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Diese Besprechung ist zuerst erschienen in
Titel – Kulturmagazin


Gift und Darmgrippe

Hinter der Fassade des Gutmenschentums

Madeline Dare – schon in Read’s Erstling »Schneeweißchen und Rostentot« die Heldin – hat es diesmal als Lehrerin an ein privates Internat in den Bergen von Massachusetts verschlagen. Die Klientel dieser merkwürdigen Schule sind schwererziehbare Kinder reicher Eltern. Die meisten Schüler haben mindestens einen Aufenthalt in der Psychiatrie hinter sich, intensive Drogenerfahrungen und Kleinkriminalität gehören ebenso zu ihrem Lebenshintergrund. Die Schulleitung reagiert auf die Probleme ihrer Schutzbefohlenen mit der Verabreichung von Psychopharmaka und etwas bizarren therapeutischen Maßnahmen, die etwas New-Age-mäßig Verquastes haben. Auch die Lehrerschaft muss sich eigenartigen Ritualen und wöchentlichen Gruppensitzungen unterziehen, die in unappetitliche Psychoschlammschlachten ausarten, wenn unter der Decke der Fürsorglichkeit Gehässigkeiten ausgetauscht werden.

Den Schulleiter David Santangelo hält Madeline für einen aufgeblasenen Scharlatan, das Gebaren der Schule für obskur, aber letztlich ungefährlich. Als allerdings zwei Schüler sterben, kommen Madeline Zweifel, denn an einen Selbstmord kann sie nicht glauben. Sie beginnt nachzuhaken und muss schließlich erkennen, dass hier eine Menge Dinge vorgehen, die alles andere als harmlos sind.

Cornelia Read lässt sich zunächst viel Zeit, um die Figuren vorzustellen und die Atmosphäre einzufangen. Mit spitzer Feder und einem angenehm sarkastischem Grundzug wird aus konsequenter Sicht von Madeline Dare der Schulalltag in all seiner Absonderlichkeit geschildert. Das bringt Spaß und ist recht unterhaltsam, weil die Autorin mit respektlosem Witz sehr souverän aufgetünchtes Gutmenschentum demaskiert.

»Sie ist so … irgendwie so …«, Mindy wedelte mit der Hand, um Sookie und Tim auf ihre Seite zu ziehen, »… so kalt.«
Ich seufzte. »Das wirkt nur so.«
»Es wirkt fies«, sagte Mindy und blinzelte nacheinander Sookie und Tim an.»Madeline ist irgendwie wie so ein kalter, fieser Roboter.«
Und du bist, irgendwie, eine abstoßende, inartikulierte, hinterfotzige Ziege, ätsch bätsch.
Sookie wandte sich an mich und flüsterte mit ihrer Schmachtstimme: „Madeline, wie fühlst du dich, wenn Mindy so etwas sagt?«
»Hm …« Ich sah wieder zum Fenster.
»Und sei diesmal bitte ehrlich«, sagte sie.
»Na gut.« Ich senkte den Blick. »Vermutlich habe ich, wenn Mindy sagt, ich sei ein ›fieser, kalter Roboter‹, das Gefühl, dass sie Timm nur als Requisite benutzt, an der sie ihre vollkommen unehrliche Zuneigung abspulen kann, um ihre offensichtlichen Minderwertigkeitskomplexe kurzfristig mit einem Anstrich von Ersatzempathie und Ersatzmitgefühl zu übertünchen.«
Schweigen.
»Und das«, sagte ich, indem ich mich vorbeugte und Tims Knie drückte, »macht mich traurig, versteht ihr? Weil Tim es verdient hat, dass wir ihm zuhören.«
»Du bist so … Sie ist so …«

Erst ab der Mitte des Buches setzt die Krimihandlung ein. Nicht überstürzt, aber doch behände nimmt sie Fahrt auf, neben den beiden ermordeten Teenagern gibt es Darmgrippe und ein paar weitere Leichen, und einige unschöne Geheimnisse werden gelüftet. Trotz der mitunter beklemmenden Thematik bleibt der Ton gekonnt leicht, was unter anderem an den sehr lebendigen und durchtriebenen Figuren liegt. Nur bei den Motivlagen wird es etwas verworren. Und ganz am Ende gibt es einen unguten Schuss Selbstgerechtigkeit. Das ist schade, denn bis dahin war Selbstgefälligkeit das bevorzugte Ziel scharfer, stilsicherer Attacken. So endet das Buch mit einem Misston.

Kirsten Reimers

Cornelia Read: Es wartet der Tod
(The Crazy School, 2008)
aus dem Englischen von Sophie Zeitz
dtv 2009
Tb., 337 Seiten, Euro 14,90
ISBN: 3-423-24753-3


Die Realität ist ein Flickenteppich

Eine Romanwelt der Ambivalenz, der Unsicherheiten und der Paranoia

In seiner Heimat England ist Phil Rickman längst eine große Nummer. Der Radiomoderator hat schon mehrere Bücher veröffentlicht, unter dem Pseudonym Will Kingdom sogar ziemlich erfolgreiche Horrorromane. Seit letzem Sommer erscheint seine Merrily-Watkins-Reihe übersetzt bei Rowohlt. Auf Englisch gibt es bereits zehn Bände – Rickman hat die Reihe Ende der Neunziger begonnen -, doch Rowohlt startet zum Glück hübsch chronologisch. Inzwischen sind die ersten beiden Kriminalromane als Taschenbuch auf dem Markt: »Frucht der Sünde« und »Mittwinternacht«. Im Mai kommt der nächste Band: »Die fünfte Kirche«.

Rickman wird zwar mitunter als »Stephen King des UK« gehandelt, aber das sollte einem nicht den Blick auf das verstellen, was in den wunderbaren Merrily-Watkins-Romanen vor sich geht. Das sind keine Horror- oder Gruselgeschichten, keine Slasherthriller, keine Hexenromane – eigentlich sind’s kaum Krimis, auch wenn es draufsteht. Wie der Autor im Grußwort »an seine deutschsprachigen Leser« in »Frucht der Sünde« sehr treffend schreibt, schafft er vielmehr eine »Romanwelt der Ambivalenz, der Unsicherheiten und Paranoia«. Seine Bücher spielen im Grenzbereich von Paranormalem und Neurotischem. Und das macht sie wirklich außerordentlich.

Visionen oder Stressreaktionen?

Die sympathische Heldin der Reihe, die kettenrauchende Merrily Watkins, ist Pfarrerin der anglikanischen Kirche im Dörfchen Ledwardine in Herfordshire nahe der walisisch-englischen Grenze. Neben der Betreuung ihrer Kirchengemeinde hat sie noch ein zweites Amt übernommen: Sie ist die »Beraterin für spirituelle Grenzfragen« ihres Bistums – Exorzistin, wie das früher hieß. Aber »Beraterin für spirituelle Grenzfragen« trifft es ziemlich genau und umreißt die Dinge, mit denen Merrily konfrontiert wird: Visionen, die auch schlichte Träume sein können, Geräusche, Gerüche, Gefühle, Hautirritationen, die genauso gut Einbildung sein können wie Spuren, die ein »Ruheloser«, ein »Besucher« oder ein »Invasor« hinterlassen hat – metaphysische Wesen, Erscheinungen, Kräfte. Es kann sich ebenso um stressbedingte Überreaktionen wie hysterische Auswüchse handeln.

Es gibt keine klare Antwort auf diese Fragen – und das ist eine der Stärken der Bücher. Es gibt kein Glaubenssystem, keine Weltdeutung, die hier die Vorherrschaft hätte und die »Wahrheit« brächte. Merrily ist zwar Pfarrerin, aber die Romane sind bei weitem nicht christlich, eigentlich nicht mal religiös. Merrilys Glaube an Gott ist nicht ungebrochen oder naiv: Sie zweifelt, sie flucht, und bei ihrer Amtseinführung kann sie partout nicht den Amtseid über die Lippen bekommen. Stattdessen erbricht sie sich vor Bischof und Kirchengemeinde. Zudem hat sie sich mit einer ganzen Reihe sehr weltlicher Phänomene zu befassen: Als eine der wenigen Pfarrerinnen und als erste Frau im Amt des Exorzisten wird sie (innerhalb wie außerhalb der Kirche) mit Sexismus und Vorurteilen konfrontiert. Ihr Organist, der sich »ein nettes kleines Pfarrerinnen-Püppchen mit schönen Beinen und schnuckeligen Titten« als Seelsorgerin für das Dorf gewünscht hat, steht nicht allein da, ist aber einer der wenigen, die aussprechen, was sie umtreibt. Und Merrilys Bischof – der neue, der in »Mittwinternacht« im Amt ist – beruft die junge Frau zur »Beraterin für spirituelle Grenzfragen«, um seinen Ruf als Erneuerer der Kirche zu untermauern. Sie wird so zum Spielball der Kirchenpolitik, denn es gibt auch einflussreiche Kreise, die wollen, dass sie in ihrem neuen Amt scheitert. Da entspannt es die Situation nicht gerade, dass Merrily erkennen muss, dass auch die Kirche von England nicht frei von Korruption und Machtgier ist.

Aber auch in ihrem Privatleben muss sich Merrily mit einer Menge Dinge herumschlagen. Nach gescheiterter Ehe ist die stets am Rande der totalen Erschöpfung dahinhastende Pfarrerin alleinerziehend. Ihre fünfzehnjährige Tochter Jane – altersgemäß schwankend zwischen Verunsicherung, Selbstüberschätzung, Selbstgerechtigkeit und echter Warmherzigkeit – lehnt den Glauben der Mutter rigoros ab und fühlt sich – esoterisch, New-Age-mäßig – Naturgeistern verbunden. In »Frucht der Sünde« hat sie nach viel zu viel Cider ein Erweckungserlebnis, das ihr Leben vollkommen verändert. Außerdem ist da noch Laurence, »Lol«, Robinson, ehemals ein recht erfolgreicher Rockmusiker, der nach Drogenexzessen und diversen Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken derart verunsichert ist, dass er gar nicht mehr weiß, worauf er vertrauen soll. Und es kommen Vertreter weiterer Glaubensrichtungen und Weltdeutungen hinzu: Psychoanalytiker, Wiccarianer, Satanisten … All diese Überzeugungen stehen sich auf Augenhöhe gegenüber und bieten einander die Stirn.

Mordfälle gibt es auch noch – zwar eher am Rande, aber dennoch wichtig. Obwohl sie eher beiläufig geklärt werden – Merrily wird von der Polizei als Beraterin hinzugezogen -, ist am Ende Täterschaft und Motiv weitestgehend geklärt. Zumindest in diesen Fällen lassen sich Fragen beantworten und Tatsachen finden – oder nicht?

Doppelbödig und intelligent

Der erste Band der Reihe, »Frucht der Sünde« (im Original deutlich stimmiger »The Wine of Angels«, von 1998), beginnt mit der Ankunft Merrilys in ihrer neuen Kirchengemeinde, in der das Leben weiß Gott – oder wer auch immer – nicht so beschaulich ist, wie es die junge Pfarrerin nach ihrer Anstellung als Hilfsgeistliche in einem heruntergekommenen Viertel in Liverpool erwartet hat. Die Ereignisse, die in diesem Buch geschildert werden, sind einer der Gründe, warum sich Merrily im zweiten Buch, in »Mittwinternacht« (»Midwinter oft he Spirit«, 1999), auf die Pläne ihres Bischofs einlässt, sich zur Beraterin für spirituelle Grenzfragen für die Diözese Hereford ausbilden zu lassen.

Die Bücher leben nicht nur von dem Widerstreit der Glaubensrichtungen, sondern noch weit mehr von den höchst ein- und ausdruckvollen Personen. Sie sind kurios und skurril, aber nicht überzogen, sondern geprägt von einer leisen, tiefen Selbstironie. Das macht das Geschehen intelligent und doppelbödig, aber nie bedeutungsschwanger. Sehr britisch, sehr leichtfüßig, hochelegant geschrieben und voller Unwägbarkeiten.

Kirsten Reimers

Zum Bestellen bei eBook.de einfach auf den Titel klicken:

Phil Rickman: Frucht der Sünde
Aus dem Englischen von Karolina Fell
Rowohlt 2009
Tb., 608 Seiten, 9,95 Euro
ISBN 978-3-499-24905-1

Phil Rickman: Mittwinternacht
Aus dem Englischen von Karolina Fell
Rowohlt 2009
Tb., 605 Seiten, 9,95 Euro
ISBN 978-3-499-24906-8

Diese Rezension ist auch erschienen auf satt.org


Im Radio

Am 25. Januar lief auf NDR Kultur eine Besprechung von Polina Daschkowa, »In ewiger Nacht«. Noch lässt sich der Beitrag lesen und anhören – und zwar hier: NDR Kultur: Neue Bücher

 

Polina Daschkowa: In ewiger Nacht
Aus dem Russischen von
Ganna-Maria Braungardt
Aufbau Verlag 2010
geb., 452 Seiten, 19,95 Euro
ISBN 978-3-351-03271-5
auch erhältlich als eBook (hier klicken)

Bald wird auch eine Rezension im Titel-Magazin erscheinen.


Knochen, Recht und Ordnung

Der Gründer der Body Farm und sein Alter Ego

Hinter dem Autorennamen Jefferson Bass verbergen sich die US-Amerikaner Jon Jefferson und Bill Bass. Jefferson ist Wissenschaftsautor, Journalist und Dokumentarfilmer. Bass heißt mit vollem Namen Dr. William M. Bass und ist forensischer Anthropologe. Er ist Gründer der ersten und bekanntesten „Body Farm“: Auf dem zur University of Tennessee gehörenden Gelände werden wissenschaftliche Studien zum Verwesungsprozess von Leichen an der frischen Luft vorgenommen. Sprich: Über das Gelände verteilt liegen immer rund 40 menschliche Leichen, deren langsamer Zerfall von Kameras aufgezeichnet wird. Auf diese Weise wird untersucht, welchen Einfluss zum Beispiel Witterungsbedingungen, Todesart, Körpergewicht, Geschlecht oder Alter auf den Verwesungsprozess haben.

Gemeinsam mit Dr. Kathleen J. Reichs verfasste Bass das Buch Forensic Osteology, inzwischen ein Standardwerk der forensischen Anthropologie. Kathleen Reichs – das ist Kathy Reichs, die seit Jahren Kriminalromane um die forensische Anthropologin Dr. Temperance Brennan veröffentlicht. Seit einiger Zeit tut Bill Bass es ihr nach. Eine Hand voll Asche, im Original The Devil’s Bones (ausnahmsweise ist mal der deutsche Titel zurückhaltender und dadurch zutreffender), ist sein dritter Krimi gemeinsam mit Jon Jefferson.

Ein Teufelskerl

Held dieser Krimireihe ist der – surprise, surprise – forensische Anthropologe Dr. Bill Brockton, der Gründer der Body Farm der University of Tennessee in Knoxville (!). In diesem dritten Buch geht er verschiedenen Dingen nach: Zum einen untersucht Dr. B. das unterschiedliche Verhalten von frischen und älteren Leichen bei ihrer Verbrennung – dies hilft bei der Überführung eines Mörders; zum anderen geht er für seinen Anwalt der Frage nach, ob dessen Urne tatsächlich die Asche von Tante Jean enthält – und deckt dabei einen riesigen und sehr unappetitlichen Skandal auf; und zum dritten ist es seinem Erzrivalen Dr. Garland Hamilton gelungen, aus der Untersuchungshaft zu fliehen. Nun muss Dr. Brockton um sein Leben zittern.

Der Garland-Hamilton-Strang ist ein Nachklapp zum Vorgängerbuch Bis auf die Knochen (Flesh and bone, 2007): Dort hatte Hamilton aus Hass und Neid Dr. Brocktons Freundin getötet, um seinem Gegner schmerzhaft wehzutun. Er lenkte gar den Verdacht auf Brockton. Das ist nun kein Spoiler, denn das wird in „Eine Hand voll Asche“ derart oft erzählt, dass es sich um kein Geheimnis mehr handeln kann. Es gibt zusätzlich zahlreiche Rückbezüge auf Dr. B.s gute Taten im ersten Buch der Reihe, Anatomie der Schuld (Carved in bone, 2006).

Überhaupt wirkt das Buch wie eine ausführliche Schilderung der tragischen Heldengeschichte des in die Jahre gekommenen Professors für Anthropologie, der zwar ordentlich Schlag bei den Frauen hat, aber einsam seiner verlorenen Liebe nachtrauert. Doch trotz seines schweren Verlustes ist der noch recht agile Wissenschaftler ein guter Kumpel, immer für ein Späßchen zu haben (damit man die halbironischen Bemerkungen nicht für bare Münze nimmt, erwähnen die Autoren sicherheitshalber, dass es sich um Späßchen handelt). Junggeblieben ist er, der Dr. B. Und ein Teufelskerl. Denn seine Augen sind noch scharf genug, um feststellen zu können, dass seine junge, entzückende Forschungsassistentin Miranda Lovelady bei dem Zusammenfügen von zahllosen Knochensplitterchen einen Fehler gemacht hat. (Natürlich ist er so großzügig, sie nicht tadelnd darauf hinzuweisen – aber erst nach einer ausführlichen Prüfung seines Gewissens.)

Rüstig voran

Auf das Alter des Helden ist auch die Erzählweise abgestimmt: Gemächlich geht das Geschehen dahin, detailreich und technikverliebt wird ausführlich berichtet, wie Dr. B. Knochen untersucht und zum Beispiel eine Petroleumlampe entzündet. Auch mit Lebensweisheiten wird nicht gespart: „Ich habe eine Weile gebraucht, um dahin zu kommen (…). Aber, ja, ich meine, man ist, wer man ist, und nicht, was man tut.“

Zur besseren Orientierung sind die Figuren eindeutig gezeichnet: Mrs. Lovelady ist nicht nur bezaubernd, sondern auch blitzgescheit, die Cops sind echte Männer, treuherzig und vertrauenserweckend, und auch der reiche Anwalt ist unter seiner schmierigen Oberfläche ein gefühlvoller Kerl, der sich mehr und mehr für das Gute engagiert (dank des guten Einflusses von Dr. B.). Die Bösen sind dagegen richtiggehende Kotzbrocken, Hamilton gar ein „menschliches Stück Scheiße“ (*huch).

Das Buch ist trotz seiner Skelettlastigkeit nicht knochentrocken geschrieben. Im Gegenteil, es bleibt der Eindruck von Klebrigkeit zurück: Klischeestarrende Figuren streben in praller Selbstzufriedenheit nach Recht und Ordnung. Auch die Rückbezüge auf die vorherigen Bücher haben ihr Gutes: Hat man Eine Hand voll Asche gelesen, kennt man auch die vorangehenden Krimis. Und nicht nur das: Die Kommenden lassen sich ebenso antizipieren. Das spart Zeit – Zeit für bessere, spannendere, lebendigere, differenziertere Krimis.

„Ich betrachte es als Sieg der Tugend über das Böse“, sagte ich, und er lächelte.

Kirsten Reimers

Jefferson Bass: Eine Hand voll Asche
Deutsch von Elvira Willems
Goldmann 2009
Tb., 349 Seiten. 8,95 Euro.
ISBN 978-3-442-45920-9

Diese Rezension ist zuerst erschienen im schick gestalteten Titel-Magazin.