Gift und Darmgrippe

Hinter der Fassade des Gutmenschentums

Madeline Dare – schon in Read’s Erstling »Schneeweißchen und Rostentot« die Heldin – hat es diesmal als Lehrerin an ein privates Internat in den Bergen von Massachusetts verschlagen. Die Klientel dieser merkwürdigen Schule sind schwererziehbare Kinder reicher Eltern. Die meisten Schüler haben mindestens einen Aufenthalt in der Psychiatrie hinter sich, intensive Drogenerfahrungen und Kleinkriminalität gehören ebenso zu ihrem Lebenshintergrund. Die Schulleitung reagiert auf die Probleme ihrer Schutzbefohlenen mit der Verabreichung von Psychopharmaka und etwas bizarren therapeutischen Maßnahmen, die etwas New-Age-mäßig Verquastes haben. Auch die Lehrerschaft muss sich eigenartigen Ritualen und wöchentlichen Gruppensitzungen unterziehen, die in unappetitliche Psychoschlammschlachten ausarten, wenn unter der Decke der Fürsorglichkeit Gehässigkeiten ausgetauscht werden.

Den Schulleiter David Santangelo hält Madeline für einen aufgeblasenen Scharlatan, das Gebaren der Schule für obskur, aber letztlich ungefährlich. Als allerdings zwei Schüler sterben, kommen Madeline Zweifel, denn an einen Selbstmord kann sie nicht glauben. Sie beginnt nachzuhaken und muss schließlich erkennen, dass hier eine Menge Dinge vorgehen, die alles andere als harmlos sind.

Cornelia Read lässt sich zunächst viel Zeit, um die Figuren vorzustellen und die Atmosphäre einzufangen. Mit spitzer Feder und einem angenehm sarkastischem Grundzug wird aus konsequenter Sicht von Madeline Dare der Schulalltag in all seiner Absonderlichkeit geschildert. Das bringt Spaß und ist recht unterhaltsam, weil die Autorin mit respektlosem Witz sehr souverän aufgetünchtes Gutmenschentum demaskiert.

»Sie ist so … irgendwie so …«, Mindy wedelte mit der Hand, um Sookie und Tim auf ihre Seite zu ziehen, »… so kalt.«
Ich seufzte. »Das wirkt nur so.«
»Es wirkt fies«, sagte Mindy und blinzelte nacheinander Sookie und Tim an.»Madeline ist irgendwie wie so ein kalter, fieser Roboter.«
Und du bist, irgendwie, eine abstoßende, inartikulierte, hinterfotzige Ziege, ätsch bätsch.
Sookie wandte sich an mich und flüsterte mit ihrer Schmachtstimme: „Madeline, wie fühlst du dich, wenn Mindy so etwas sagt?«
»Hm …« Ich sah wieder zum Fenster.
»Und sei diesmal bitte ehrlich«, sagte sie.
»Na gut.« Ich senkte den Blick. »Vermutlich habe ich, wenn Mindy sagt, ich sei ein ›fieser, kalter Roboter‹, das Gefühl, dass sie Timm nur als Requisite benutzt, an der sie ihre vollkommen unehrliche Zuneigung abspulen kann, um ihre offensichtlichen Minderwertigkeitskomplexe kurzfristig mit einem Anstrich von Ersatzempathie und Ersatzmitgefühl zu übertünchen.«
Schweigen.
»Und das«, sagte ich, indem ich mich vorbeugte und Tims Knie drückte, »macht mich traurig, versteht ihr? Weil Tim es verdient hat, dass wir ihm zuhören.«
»Du bist so … Sie ist so …«

Erst ab der Mitte des Buches setzt die Krimihandlung ein. Nicht überstürzt, aber doch behände nimmt sie Fahrt auf, neben den beiden ermordeten Teenagern gibt es Darmgrippe und ein paar weitere Leichen, und einige unschöne Geheimnisse werden gelüftet. Trotz der mitunter beklemmenden Thematik bleibt der Ton gekonnt leicht, was unter anderem an den sehr lebendigen und durchtriebenen Figuren liegt. Nur bei den Motivlagen wird es etwas verworren. Und ganz am Ende gibt es einen unguten Schuss Selbstgerechtigkeit. Das ist schade, denn bis dahin war Selbstgefälligkeit das bevorzugte Ziel scharfer, stilsicherer Attacken. So endet das Buch mit einem Misston.

Kirsten Reimers

Cornelia Read: Es wartet der Tod
(The Crazy School, 2008)
aus dem Englischen von Sophie Zeitz
dtv 2009
Tb., 337 Seiten, Euro 14,90
ISBN: 3-423-24753-3