»Niemand ist der, der er zu sein vorgibt«

Klaustrophobische Untentrinnbarkeit in den Ruinen Tokios

Mit seinem »Red Riding Quartet« wurde der Brite David Peace in Deutschland bekannt. In diesen vier Büchern, betitelt nur mit kargen Jahreszahlen (»1974«, »1977«, »1980«, »1983«), nimmt der in West Yorkshire geborene Autor den tatsächlichen Fall des »Yorkshire Rippers« Peter Sutcliff auf, um ein dunkles, grimmiges Psychogramm der nordenglischen Provinz in den siebziger und achtziger Jahren zu entwerfen: gewalttätig, voller Hass und Machtgier, beklemmend und verstörend. Für seine Tetralogie wurde Peace mehrfach ausgezeichnet, unter anderem erreichte der Band, »1974« den ersten Platz des Deutschen Krimi Preises in der Kategorie International, ebenso war er Jahressieger der KrimiWelt-Bestenliste für das Jahr 2005.

Nun liegt das erste Buch von Peace‘ Tokio-Trilogie vor: »Tokio im Jahr Null« (im Original: »Tokyo Year Zero«) – nicht minder düster, hasserfüllt, grimmig und verstörend. Wie schon das »Red Riding Quartet« erscheint es im kleinen, feinen Verlag Liebeskind, wieder sehr gut übersetzt von Peter Torberg; die Veröffentlichungen der beiden Folgebände sind für 2010 und 2011 geplant. David Peace hat selbst rund 15 Jahre in Tokio gelebt, erst in diesem Jahr ist er aus Japan zurückgekehrt, um sich in der Nähe von Leeds niederzulassen.

Die Hölle: Missbrauch, Korruption, Gier, Verrat, Betrug

»Tokio im Jahr Null« spielt ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkrieges, ein Jahr nach der Kapitulation Japans. Seitdem ist das Land von den Amerikanern besetzt. Die Auswirkungen des Krieges sind noch überall zu sehen und zu spüren: Tokio ist eine Ruine, die Menschen sind nicht minder zerstört. Hunger, Armut und Verzweiflung bestimmen den Alltag. Gewalt, Missbrauch, Korruption allerorten. Das organisierte Verbrechen hat die Stadt fest im Griff. Der Schwarzmarkt blüht, um die Vorherrschaft gibt es erbitterte Kämpfe zwischen den nach Nationalitäten strukturierten Banden. Die Amerikaner versuchen als Besatzer, die Verhältnisse zu regeln, doch in Arroganz und Dummheit verschlimmern sie die Lage nur. Missbrauch und Ausbeutung auch hier.

Inmitten dieser verzweifelten Lage werden die Leichen von zwei Frauen gefunden, erdrosselt und vergewaltigt. Ein Verdächtiger ist bald gefasst, doch er gesteht nur einen der Morde. Inspektor Minami versucht, Verbindungen zwischen dem mutmaßlichen Täter und dem zweiten Opfer zu finden. Dabei werden immer mehr Morde offenkundig, nicht nur in Tokio, sondern auch in der Provinz. Und es gibt Hinweise, dass diese Taten mit einem Fall in Verbindung stehen, der schon vor einem Jahr als offiziell abgeschlossen galt.

Durch dieses Stochern in der Vergangenheit gerät Minami immer mehr zwischen die Fronten. Der Inspektor, depressiv, tablettensüchtig und an schweren Schlafstörungen leidend, kommt weder mit seinen Untergebenen noch mit seinen Vorgesetzten zurecht, die Intrigen innerhalb der Polizei zerreiben ihn. Als er sich dem organisierten Verbrechen andient, gerät er auch hier zwischen die Interessenlagen. Denn seine Ermittlungen berühren Punkte und Taten, die seine Kollegen, aber auch er selbst lieber unangetastet lassen würde. Die Suche nach Schuld im anderen führt auch zur eigenen Schuld, zur der eigenen Verstrickung in Gewalt und Mord, in Gräueltaten während des Krieges, die lieber verdängt wurden: »Niemand ist der, der er zu sein vorgibt. / Niemand ist der, der er zu sein scheint.«

Hypnotisierender Rhythmus, zorniger Gestus

David Peace macht es weder seinen Figuren noch dem Leser leicht. Grausam, düster, unerbittlich, voller Hass und Ekel ist sein Buch. Gegen Ende verschwimmen die Zeitebenen, Wahn und Wirklichkeit verzahnen sich, Erinnerungen vermischen sich mit dem Jetzt. Immer tiefer ins Dunkle, ins Grauen führt der Erzählstrom. Unheimlich, klaustrophobisch und verstörend. Peace‘ schreibt knapp, kalt und anklagend, Wiederholungen rhythmisieren den Text, der auf zwei Ebenen geführt wird: Stets läuft eine zweite Tonspur mit, die Gedanken, Erinnerungen, Gefühle und Geräusche pulsierend einfügt. Das erinnert vage an konkrete Poesie:

Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton …
Mir tut der Magen weh. Ich habe Kopfschmerzen …
Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton …
Die Füße tun mir weh. Die Augen …
Ton-ton. Ton-ton. Ton-ton …
Ich fluche und fluche!
Ton-ton. Ton-ton …
Ich verfluche mich selbst …
Ton-ton.
(…)
Stunde um Stunde. Tag für Tag. Woche für Woche …
Das Blut an den Wänden. Das Blut auf dem Boden.
Monat für Monat und Jahr für Jahr …
Das Blut an meinen Hemdsärmeln.
Aber im Dämmerlicht kann ich nicht vergessen …
Auf meine Hosenbeinen.
Es tut mir leid. Es tut mir leid …
Hier im dämmrigen Licht …
Ich habe euch alle im Stich gelassen …
Im Dämmerlicht.

Durch diese zweite Tonspur erhält der Text etwas Einpeitschendes, Hypnotisches. Das ist beeindruckend und kunstvoll.

»Ein Kriminalroman«, erklärte David Peace in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung 2007, »hat die Pflicht, sich den sozialen und ökonomischen Fragen auszusetzen, die das Leben bestimmen. Er muss die Umstände betrachten, unter denen ein Verbrechen geschieht.« Diesem selbstgesetztem Anspruch wird Peace in »Tokio im Jahr Null« unbedingt gerecht. Die durchgehende Grimmigkeit und der anklagende Gestus des Buches wirken allerdings auf die Dauer etwas angestrengt anstrengend.

Kirsten Reimers

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David Peace: Tokio im Jahr Null
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Liebeskind 2009
gebunden, 416 Seiten, Euro 22,00
ISBN: 978-3-935890-65-6

Diese Rezension ist auch erschienen auf satt.org