Kraftvolle Leerstellen, berührende Kälte

Vom Neubeginn

Eine Frau, von ihrer Umgebung Olivia genannt, kehrt mit ihren beiden Kindern zu ihrer Mutter zurück. Vor Jahren waren sie im Streit auseinander gegangen, weil die Mutter die Ehe ihrer Tochter nicht gutgeheißen hatte. Seitdem gab es keinen Kontakt mehr. Nun steht die Frau unangemeldet vor der Tür ihres Elternhauses, eines großen, vornehmen Anwesens, und muss eingestehen, dass ihre Ehe gescheitert ist.

Herrschaftlich erschien die Großmutter oben auf der Treppe. Sie war tadellos gekleidet (…). Obzwar schmal und zerbrechlich, machte sie einen Eindruck von würdevoller Resignation.
»Hallo, Mutter.«
»Hallo, Olivia.«
Die Frau stieg die Marmorstufen hinauf, und als sie bei ihrer Mutter ankam, nahm sie ihre weiche, schuppige Hand und küsste sie. Es war eine formale, aber keine versöhnliche Geste. Ihre Mutter machte im Gegenzug eine Bestandsaufnahme – das zerzauste Haar, die zerrissenen Strümpfe, der gebrochene Arm. Taktvoll entschied sie sich, nichts dazu zu sagen.
»Ich musste nach Hause kommen«, sagte die Frau. Eine lange Stille entstand zwischen ihnen. »Nun, darf ich dir die Kinder vorstellen?«

Auch der Bruder wird mit seiner Frau Sophie und ihrem gerade geborenen Kind direkt aus dem Krankenhaus erwartet. Doch die Zusammenkunft entwickelt sich alles andere als heiter: Der Säugling ist bei der Geburt gestorben; um das Trauma verarbeiten zu können, wurde das tote Kind den Eltern bis zur Beerdigung überlassen.

In den kommenden Tagen fällt es Sophie zunehmen schwerer, den Tod ihres Babys zu akzeptieren, sie versucht es zu füttern und zu baden, nachts schläft es in der Tiefkühltruhe. Die restliche Familie ist hingegen bemüht, wegzuschauen und das immer morbidere Verhalten von Sophie zu ignorieren. Der Umgang miteinander ist kühl und distanziert, Gefühle werden nicht gezeigt, und schon gar nicht wird über sie gesprochen. Mit allen Mitteln soll die Fassade der Normalität aufrecht erhalten werden. Doch der Tod des Kindes und Sophies wachsender Wahn schlagen tiefe Risse in die innere Verfasstheit der Familienmitglieder und konfrontieren sie mit ihren zerstörten Hoffnungen und gescheiterten Lebensentwürfen.

Julia Leigh schreibt kraftvoll, knapp, klar und präzise. Sie taucht nicht in ihre Figuren ein, sondern beobachtet sie von außen. Wie mit einer Filmkamera umkreist sie die Personen, unterstellt ihnen weder Gefühle noch Beweggründe. Die Bilder und Szenarien, die dadurch entstehen, sind einprägsam und hypnotisch, denn durch die Leerstellen, die ihnen innewohnen, rufen sie weit mehr hervor, als in ihnen beschrieben ist. Nur ist leider die Übersetzung manchmal etwas störend ungelenk.

Die Welt, die Julia Leigh schildert, ist kalt, bizarr, verstörend, voll unterdrückter Aggression und doch tief berührend. Sie erzählt vom Loslassen, um anzukommen in dem, was ist, damit man weiterleben kann.

Kirsten Reimers

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Julia Leigh: Unruhe
Aus dem Englischen von Marica Bodrožić
Liebeskind 2009
geb., 127 Seiten, Euro 14,90
ISBN: 978-3-935890-62-5

Diese Rezension ist auch erschienen auf satt.org